Faschismus und Antifaschismus nach der Analyse von Augusto Del Noce

Nicht nur Italien


Augusto Del Noce (1910–1989) analysiert Faschismus und Antifaschismus als Siamesische Zwillinge desselben Auflösungsprozesses.
Augusto Del Noce (1910–1989) analysiert Faschismus und Antifaschismus als Siamesische Zwillinge desselben Auflösungsprozesses.

Der Histo­ri­ker Prof. Rober­to de Mat­tei erin­nert an die Ana­ly­se von Faschis­mus und Anti­fa­schis­mus durch den Phi­lo­so­phen Augu­sto Del Noce, der zum Schluß gelang­te, daß in ihnen im wesent­li­chen die­sel­ben Kräf­te der Auf­lö­sung am Werk sind. Die Ana­ly­se erfolgt am Bei­spiel Ita­li­ens, betrifft aber kei­nes­wegs nur die­ses Land. Sie ist der Schlüs­sel, um die Ver­wir­rung zu ent­wir­ren, die in den ver­gan­ge­nen Jah­ren dadurch ent­stan­den ist, daß die Zie­le und die Poli­tik anti­fa­schi­sti­scher Par­tei­en und Milieus auto­ri­tä­re Züge anneh­men. Es gilt, die gei­sti­gen Grund­la­gen bei­der Bewe­gun­gen zu erken­nen und sich von den Kate­go­ri­sie­run­gen zu tren­nen, die sie selbst in Umlauf gesetzt haben.

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Von Rober­to de Mattei*

Der 25. April, der ita­lie­ni­sche Natio­nal­fei­er­tag der Befrei­ung von Natio­nal­so­zia­lis­mus und Faschis­mus, ist vor­bei, und auch die Kon­tro­ver­sen, die ihn in die­sem Jahr beglei­te­ten, klin­gen ab.

Jün­ge­re Men­schen mögen glau­ben, daß die­se Kon­tro­ver­sen mit der Tat­sa­che zusam­men­hän­gen, daß es in Ita­li­en eine Mit­te-Rechts-Regie­rung gibt und daß ein Teil der ita­lie­ni­schen Rech­ten immer noch ideo­lo­gisch oder gefühls­mä­ßig mit dem Faschis­mus ver­bun­den ist. In Wirk­lich­keit ist das nicht der Fall. Die­je­ni­gen unter uns, die nicht mehr so jung sind, erin­nern sich an die­sel­be Pole­mik, als in den 1970er Jah­ren die Christ­de­mo­kra­ten in Ita­li­en regier­ten und die wich­tig­ste Oppo­si­ti­ons­kraft, die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei (PCI) unter der Füh­rung von Enri­co Ber­lin­guer, das Ban­ner der anti­fa­schi­sti­schen Ein­heit schwenkte.

In jenen Jah­ren, zwi­schen 1970 und 1972, wid­me­te einer der bedeu­tend­sten ita­lie­ni­schen Phi­lo­so­phen des 20. Jahr­hun­derts, Augu­sto Del Noce (1910–1989), eine Arti­kel­rei­he in der Zeit­schrift L’Eu­ro­pa der Ana­ly­se des anti­fa­schi­sti­schen Mythos.

In einem die­ser pro­phe­ti­schen Arti­kel, der am 15. April 1971, also vor mehr als einem hal­ben Jahr­hun­dert, erschien, schrieb Del Noce: 

„Von dem Moment an, als die For­mel der anti­fa­schi­sti­schen Ein­heit wäh­rend der Fei­er­lich­kei­ten zum 50. Jah­res­tag der Grün­dung des PCI (die 1921 in Livor­no statt­fand) wie­der auf­ge­grif­fen wur­de, wur­de klar, auf wel­chem Gebiet die ent­schei­den­de Schlacht die­ser sehr lan­gen Nach­kriegs­zeit statt­fin­den wür­de. Ent­schei­dend vor allem des­halb, weil es kei­nen Mit­tel­weg gibt: Ent­we­der man ist dafür oder man ist dagegen.“

„Was bedeu­tet der Auf­ruf zur anti­fa­schi­sti­schen Ein­heit?“, frag­te Del Noce, um dar­auf zu antworten:

„Nie­mand kann ernst­haft glau­ben, daß die­je­ni­gen, die heu­te im Faschis­mus den grund­le­gen­den poli­ti­schen Geg­ner sehen, mit die­sem Begriff die poli­ti­sche Bewe­gung mei­nen, die am 23. März 1919 begann und offi­zi­ell am 25. April 1945 ende­te, die aber angeb­lich auf geheim­nis­vol­le Wei­se, stän­dig lau­ernd, über­lebt habe und heu­te gün­sti­ge Gele­gen­hei­ten fin­de, wie­der aufzutauchen.“

Der Faschis­mus im histo­ri­schen Sinn hat­te sich ein­deu­tig auf­ge­löst und der anti­fa­schi­sti­sche Wider­stand wur­de von der kom­mu­ni­sti­schen, sozia­li­sti­schen und libe­ral-auf­klä­re­ri­schen Lin­ken der Nach­kriegs­zeit nicht als histo­ri­sche Tat­sa­che, son­dern als idea­le Kate­go­rie prä­sen­tiert. Wer sich auf den Anti­fa­schis­mus beruft, so Del Noce, inter­pre­tiert den Faschis­mus als eine Kon­stan­te in der ita­lie­ni­schen Geschich­te, „oder viel­mehr als eine uni­ver­sel­le Essenz, die sich nicht in den unend­li­chen For­men erschöpft, in denen sie sich repro­du­zie­ren kann“. In die­sem Sin­ne wird der Faschis­mus zu einem schwer faß­ba­ren und wan­del­ba­ren Phä­no­men, zu einem Gespenst, das den Geg­ner angreift.

„Der Faschis­mus­vor­wurf springt so von einer Per­son zur ande­ren, von einer poli­ti­schen Kraft zur ande­ren: Die Zuschrei­bung bleibt der Will­kür überlassen.“

„Faschist“, so Del Noce, sei laut die­sem Den­ken gene­rell jeder, der sich auf die Ver­gan­gen­heit beruft, auf die Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on, ihrer Grund­sät­ze und auch Ver­bo­te. Faschis­mus ist dem­nach gleich­be­deu­tend mit: „Vor­rang der Ver­gan­gen­heit vor der Zukunft“. Anti­fa­schis­mus mit: „Vor­rang der Zukunft vor der Ver­gan­gen­heit; per­mis­si­ve Gesell­schaft ver­sus repres­si­ve Gesell­schaft, Fort­schritt ver­sus Reak­ti­on.“ In jenen Jah­ren war also Faschist schlecht­hin der­je­ni­ge, der sich der Säku­la­ri­sie­rung der ita­lie­ni­schen Gesell­schaft ent­ge­gen­stell­te und bei­spiels­wei­se Schei­dung, Abtrei­bung und die soge­nann­ten „Bür­ger­rech­te“ ablehn­te, die vom Femi­nis­mus und der Radi­ka­len Par­tei mit Unter­stüt­zung der Kom­mu­ni­sten und Sozia­li­sten pro­pa­giert wurden.

Ber­lin­guer hat­te noch nicht sein Ange­bot eines „Histo­ri­schen Kom­pro­mis­ses“1 unter­brei­tet, aber Del Noce sah vor­aus, daß die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei sowohl die Katho­li­ken als auch das Bür­ger­tum brauch­te, um in Ita­li­en an die Macht zu kom­men, und daß dies gera­de im Namen des Anti­fa­schis­mus gesche­hen wür­de, der als Nega­ti­on aller tra­di­tio­nel­len Wer­te und Insti­tu­tio­nen ver­stan­den wurde.

Del Noce prä­zi­sier­te somit in zwei Punk­ten die Bedeu­tung, die die anti­fa­schi­sti­sche Ein­heit anneh­men wür­de: die voll­stän­di­ge Unter­ord­nung der Katho­li­ken unter den Mar­xis­mus und ein Auf­lö­sungs­pro­zeß, der die Voll­endung jener histo­ri­schen Epo­che sein soll­te, die mit dem Faschis­mus ihren Anfang genom­men hat­te. Für Del Noce wür­de das Zusam­men­ge­hen von Kom­mu­nis­mus und Bür­ger­tum, denen es bei­den an abso­lu­ten Prin­zi­pi­en fehlt, zur Auf­lö­sung der mora­li­schen Wer­te und, was die Katho­li­ken betrifft, zur Beschrän­kung die­ser Wer­te auf den pri­va­ten Bereich, füh­ren. Wenn die Behaup­tung einer mora­li­schen, abso­lu­ten und objek­ti­ven Wahr­heit Faschis­mus ist, dann bleibt nichts ande­res übrig, als die Moral in den pri­va­ten Bereich zu ver­la­gern und den Säku­la­ri­sie­rungs­pro­zeß der Gesell­schaft im öffent­li­chen Bereich zu akzep­tie­ren. Faschis­mus und Anti­fa­schis­mus sind daher Teil des­sel­ben Weges der Abkehr von den tra­di­tio­nel­len Wer­ten, des Säku­la­ri­sie­rungs­pro­zes­ses und damit der Selbst­auf­lö­sung der ita­lie­ni­schen Gesellschaft.

In sei­nen spä­te­ren Wer­ken, ins­be­son­de­re in dem 1978 erschie­ne­nen Werk „Il sui­ci­dio del­la Rivo­lu­zi­o­ne“ [„Der Selbst­mord der Revo­lu­ti­on“], zeigt Del Noce den phi­lo­so­phi­schen Cha­rak­ter die­ses Weges der Auf­lö­sung auf. Faschis­mus und Anti­fa­schis­mus sind nach Del Noce zwei Momen­te des­sel­ben revo­lu­tio­nä­ren Pro­zes­ses, der in der Phi­lo­so­phie der Pra­xis von Gio­van­ni Gen­ti­le und spä­ter von Anto­nio Gram­sci sei­ne rigo­ro­se­ste Ent­wick­lung erfährt. Zwi­schen Gen­ti­le, dem Theo­re­ti­ker des Faschis­mus, und Gram­sci, dem Vater des Anti­fa­schis­mus, besteht in der Tat eine Bezie­hung, die nicht aus Brü­chen oder Gegen­sät­zen besteht, son­dern im wesent­li­chen aus Sym­me­trie und Kon­ti­nui­tät. Gen­ti­le setz­te sich zum Ziel, die ita­lie­ni­sche Kul­tur­tra­di­ti­on von allen For­men der meta­phy­si­schen Tran­szen­denz zu befrei­en, Gram­sci führ­te die Phi­lo­so­phie der Pra­xis zu ihren letz­ten Kon­se­quen­zen, die in einer end­gül­ti­gen Befrei­ung des Mar­xis­mus von allen reli­giö­sen Ele­men­ten bestehen.

Die ita­lie­ni­sche Kul­tur schwankt noch immer zwi­schen Gram­sci und Gen­ti­le, ohne den Hege­lia­nis­mus zu ver­las­sen, d. h. eine Phi­lo­so­phie der Imma­nenz, die kei­nen Platz für die tra­di­tio­nel­len Wer­te läßt. Um heu­te als Anti­fa­schist bezeich­net zu wer­den, genügt es nicht, sich als sol­cher zu bezeich­nen, man muß die Fah­ne des natür­li­chen und gött­li­chen Rechts strei­chen. Und genau das tun wir nicht, auch im Geden­ken an einen muti­gen katho­li­schen Phi­lo­so­phen wie Augu­sto Del Noce.

P. S.: Augu­sto Del Noces Schrif­ten zum Anti­fa­schis­mus sind gesam­melt in „Rivo­lu­zi­o­ne, Risor­gi­men­to, Tra­di­zio­ne“ („Revo­lu­ti­on, Risor­gi­men­to, Tra­di­ti­on“, Giuf­fré, Mai­land 1993), „Fascis­mo e anti­fa­scis­mo. Erro­ri del­la cul­tu­ra“ („Faschis­mus und Anti­fa­schis­mus. Irr­tü­mer der Kul­tur“, Leo­nar­do, Mai­land 1995) und „Il sui­ci­dio del­la Rivo­lu­zi­o­ne“ („Der Selbst­mord der Revo­lu­ti­on“, Rus­co­ni, Mai­land 1978; spä­ter Arag­no, Turin 2004).

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana


1 Der „Histo­ri­sche Kom­pro­miß“ war eine kom­mu­ni­sti­sche Stra­te­gie. 1973 schlug der Gene­ral­se­kre­tär des Zen­tral­ko­mi­tees der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Ita­li­ens, Enri­co Ber­lin­guer, den seit Kriegs­en­de regie­ren­den Christ­de­mo­kra­ten und den seit 1963 mit­re­gie­ren­den Sozia­li­sten eine Zusam­men­ar­beit vor, die der „Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie gegen auto­ri­tä­re Ten­den­zen“ die­nen soll­te. Die Sozia­li­sten waren nach dem Krieg mit den Kom­mu­ni­sten in einer Volks­front ver­bün­det gewe­sen, hat­ten die­se jedoch unter dem Ein­druck der sowje­ti­schen Nie­der­schla­gung des Ungarn-Auf­stan­des 1956 ver­las­sen und die Aus­rich­tung auf Mos­kau zugun­sten der west­li­chen Demo­kra­tie auf­ge­ge­ben. Der „Histo­ri­sche Kom­pro­miß“ soll­te den Kom­mu­ni­sten die Rück­kehr in die Regie­rung ver­schaf­fen, die sie 1947 ver­las­sen hat­ten, um in Ita­li­en eine auf die UdSSR aus­ge­rich­te­te Volks­front­re­gie­rung zu instal­lie­ren. Das Vor­ha­ben war jedoch bei den Par­la­ments­wah­len 1948 geschei­tert, bei denen die Volks­front nur 31 Pro­zent der Stim­men erhal­ten hatte.

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