
In diesem Jahr entscheiden die EU-Wahlen und die US-Präsidentschaftswahlen über die weitere Entwicklung der Welt, inbesondere des Westens. In diesem Kontext blicken wir „über den Tellerrand“ und veröffentlichen eine Stimme „der anderen Seite“, die jedoch einige aufschlußreiche und interessante Elemente enthält. Auch die verwendete Sprache und die angesprochenen Themen bieten Einblicke. Was der Historiker und linke Politiker Gian Giacomo Migone über Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni schreibt, gilt noch mehr für die Bundesrepublik Deutschland.
Italien und Deutschland waren die Besiegten des Zweiten Weltkrieges und sind bis heute dadurch bedingt. Noch keine Regierung seit 1945 in beiden Ländern kam ohne Einwilligung der USA zustande.
Die Demokratie in der Krise
Von Gian Giacomo Migone*
Zurück aus den Vereinigten Staaten stelle ich fest, daß das einstimmige Urteil des Obersten Gerichtshofs und der Ausgang der Vorwahlen am Super Tuesday oder Bidens Rede zur Lage der Nation nichts an der politischen Pattsituation in diesem Teil der Welt ändern werden. Auffällig sind einige offensichtliche und wichtige Auslassungen in der politischen Debatte bei uns: daß die Demokratie in Washington sowohl innenpolitisch als auch global instabil ist; daß ihr Niedergang dasselbe Phänomen im gesamten Westen verstärkt und verbreitet; daß Italien, angeführt von Giorgia Meloni, eine Kutschenfliege ist (die vor dem Pferd herfliegt und so tut, als würde sie seine Schritte bestimmen).
Der laufende Präsidentschaftswahlkampf in den USA ist von einer Alternative des Teufels geprägt, die erst jetzt in den italienischen Medien an die Oberfläche kommt. Donald Trump führt in den Meinungsumfragen, obwohl er angeklagt ist, einen gescheiterten Putschversuch mit relativer Besetzung des Kongresses organisiert und am Ende seiner Präsidentschaft vorsätzlich geheime Dokumente unterschlagen zu haben, Banken und die Steuerbehörde getäuscht zu haben, indem er den Wert seines Vermögens zu hoch ansetzte, und sich den Folgen einer sexuellen Belästigung durch Hush Money (Schweigegeld) entzogen zu haben. Diese Gerichtsverfahren, die noch nicht abgeschlossen sind, haben die Unterstützung seiner Wählerbasis nicht beeinträchtigt, die innerhalb der Republikanischen Partei die Mehrheit bildet, aber vor allem unter denjenigen sich noch ausbreiten kann, die aus religiösem oder ideologischem Fanatismus ein autoritäres Regime bevorzugen und die ohne Trump nicht einmal wählen gehen würden. Seine gesellschaftliche Verankerung ist solide, weil sie auf dem im gesamten Westen lebendigen Widerspruch gegen Einwanderung beruht, die einerseits produktiv notwendig ist und andererseits zu einem Krieg zwischen den Armen oder jedenfalls zwischen denjenigen führt, die sich durch die fortschreitende Konzentration der wirtschaftlichen und finanziellen Macht wirtschaftlich stärker bedroht fühlen. Dazu trägt auch die kulturelle Marginalisierung eines großen Teils des Landes bei, des sogenannten Middle America, das traditionell isolationistisch ist – symptomatisch dafür sind die Worte, mit denen Trump Rußland aufgefordert hat, in die NATO-Mitgliedsstaaten einzumarschieren, die sich nicht ausreichend bewaffnen –, aber empfänglich ist für die Anziehungskraft des zweiten Verfassungszusatzes, der jedem Bürger das Recht auf Waffen garantiert, trotz wiederholter Massaker an Unschuldigen. Kurz gesagt, keine statistische Mehrheit, aber wahrscheinlich eine wahlpolitische.
Die Schwäche der Kandidatur von Joe Biden im Vergleich zu der seines Gegners zeigt sich in seiner unzureichenden Fähigkeit, die Wahlbeteiligung über den traditionell demokratischen Apparat hinaus zu motivieren. Abgesehen von einigen expansiven Zuwächsen bei den Frauenstimmen, die auf die Anti-Abtreibungspolitik der Trumpianer zurückzuführen sind, wächst die Empörung in der Bevölkerung, vor allem bei Jugendlichen und Juden, über die Massaker in der Ukraine und vor allem im Gazastreifen, die durch das Veto der Regierung Biden im UN-Sicherheitsrat gegen jeden Waffenstillstand begünstigt werden. Auch eine gesunde Wirtschaft, eine allzu fröhliche Börse und steigende Beschäftigungsquoten reichen nicht aus, um den Anstieg der Verbraucherpreise, ein Gesundheitssystem, das 65 Millionen Menschen von allen Leistungen ausschließt, weil es der Gier privater Interessen ausgeliefert ist, und die zunehmenden sozialen Ungleichheiten zu vergessen, die den als progressiv zu bezeichnenden Teil der Wählerschaft gewiß nicht zur Wahl motivieren. Mehr denn je herrscht das starke und weit verbreitete Gefühl vor, daß die intellektuellen Fähigkeiten, einen großen, wenn auch schrumpfenden Staat wirksam und transparent zu führen, durch die Überalterung beeinträchtigt werden. Der amtierende Präsident erinnert an den Breschnew der letzten Jahre, umgeben von einigen wenigen Mitarbeitern, die die Zügel der Regierung in der Hand halten und fest entschlossen sind, sie nicht aus der Hand zu geben. Daher ist es für den Monarchen trotz der immer zahlreicheren und offensichtlicheren Anzeichen von Unzufriedenheit in der Wählerschaft schwierig, aber nicht unmöglich, auf seine Kandidatur zu verzichten, da immer mehr Kandidaten die Gefahr erkennen [es finden gleichzeitig auch Parlamentswahlen statt], in eine allgemeine Niederlage ihrer Partei hineingezogen zu werden.
In der Zwischenzeit breitet sich ein Unbehagen aus, dessen Keime in allen Staaten des Westens zu finden sind. Es ist auch nicht verwunderlich, daß Giorgia Meloni die Gefahren, die von jedem hinkenden Imperium ausgehen und das daher gezwungen ist, sich an seine relative militärische Überlegenheit zu klammern, zumindest scheinbar nicht wahrnimmt. Leider ist Italien die Rolle des Klassenbesten in jener „Lüsternheit der Unterwürfigkeit“ nicht fremd, die sogar Vittorio Emanuele Orlando1 nach dem Zweiten Weltkrieg anprangerte. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sich die (post)faschistische Meloni in eine Badoglianerin verwandelt hat, die stolz auf den Kuß ist, den ihr der untergehende Herrscher gegeben hat.
*Gian Giacomo Migone, geb. 1940, Sohn eines italienischen Diplomaten und einer französischen Muttter (der Vater war Mitte der 30er Jahre Erster Sekretär an der italienischen Botschaft in Washington, dann bis 1941 an der italienischen Botschaft in Moskau und beendete seine Laufbahn 1957–1964 als italienischer Botschafter beim Heiligen Stuhl), Abitur in Paris, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Rom, der Politikwissenschaften an der Katholischen Universität Mailand und der Zeitgeschichte in Harvard, ab 1962 als Journalist tätig, von 1969 bis 2010 Professor für Geschichte der Transatlantischen Beziehungen an der Universität Turin; als progressiver Katholik und nicht-orthodoxer Linker war er 1971 als „demokratischer Katholik“ Mitgründer der linksradikalen Politischen Arbeiterbewegung (MPL), dann der Partei der Proletarischen Einheit für den Kommunismus (PdUP) und 1978 bis 1989 Mitglied der Arbeiterdemokratie (DP), Gastprofessor 1980/81 an der Universität Washington und 1989/90 in Harvard, Vorstandsmitglied des Center for European Studies an der Columbia University, 1991 Mitgründer und Vorstandsmitglied der Linksdemokraten (PDS), Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Partei Europas, 1992 bis 2001 Senator der Linksdemokraten, 1994 bis 2001 Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Senats, Aufsichtsratsmitglied des Staff College der UNO und der Parlamentarischen Versammlung der NATO, seit 2007 parteilos.
Erstveröffentlichung: Il Fatto Quotidiano
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
1 Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952), italienischer Rechtswissenschaftler, 1897–1925 liberaler Parlamentsabgeordneter, Freimaurer, 1916–1919 Innenminister, 1917–1919 Ministerpräsident des Königreichs Italien, führte die Friedensverhandlungen bei den Pariser Vorortfrieden, 1945/46 Parlamentspräsident, 1946 Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung.
Eine seltsame Bestandsaufnahme. Was ist mit der Invasion an illegalen Einwanderern über die mexikanische Grenze? Das ist das primäre innenpolitische Problem der USA. Und in dieser Sache sind sich Trump und der parteilose Kandidat Robert F. Kennedy Junior einig. Beide wollen ausserdem die USA aus kriegerischen aussenpolitischen Aktionen herausziehen.