Die Demokratie in der Krise – in Washington wie in Europa


2024 ist ein Wahljahr dies- und jenseits des Atlantiks mit weitreichenden Weichenstellungen
2024 ist ein Wahljahr dies- und jenseits des Atlantiks mit weitreichenden Weichenstellungen

In die­sem Jahr ent­schei­den die EU-Wah­len und die US-Prä­si­dent­schafts­wah­len über die wei­te­re Ent­wick­lung der Welt, inbe­son­de­re des Westens. In die­sem Kon­text blicken wir „über den Tel­ler­rand“ und ver­öf­fent­li­chen eine Stim­me „der ande­ren Sei­te“, die jedoch eini­ge auf­schluß­rei­che und inter­es­san­te Ele­men­te ent­hält. Auch die ver­wen­de­te Spra­che und die ange­spro­che­nen The­men bie­ten Ein­blicke. Was der Histo­ri­ker und lin­ke Poli­ti­ker Gian Gia­co­mo Migo­ne über Ita­li­ens Mini­ster­prä­si­den­tin Gior­gia Melo­ni schreibt, gilt noch mehr für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land.
Ita­li­en und Deutsch­land waren die Besieg­ten des Zwei­ten Welt­krie­ges und sind bis heu­te dadurch bedingt. Noch kei­ne Regie­rung seit 1945 in bei­den Län­dern kam ohne Ein­wil­li­gung der USA zustande.

Die Demokratie in der Krise

Anzei­ge

Von Gian Gia­co­mo Migone*

Zurück aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten stel­le ich fest, daß das ein­stim­mi­ge Urteil des Ober­sten Gerichts­hofs und der Aus­gang der Vor­wah­len am Super Tues­day oder Bidens Rede zur Lage der Nati­on nichts an der poli­ti­schen Patt­si­tua­ti­on in die­sem Teil der Welt ändern wer­den. Auf­fäl­lig sind eini­ge offen­sicht­li­che und wich­ti­ge Aus­las­sun­gen in der poli­ti­schen Debat­te bei uns: daß die Demo­kra­tie in Washing­ton sowohl innen­po­li­tisch als auch glo­bal insta­bil ist; daß ihr Nie­der­gang das­sel­be Phä­no­men im gesam­ten Westen ver­stärkt und ver­brei­tet; daß Ita­li­en, ange­führt von Gior­gia Melo­ni, eine Kut­schen­flie­ge ist (die vor dem Pferd her­fliegt und so tut, als wür­de sie sei­ne Schrit­te bestimmen).

Der lau­fen­de Prä­si­dent­schafts­wahl­kampf in den USA ist von einer Alter­na­ti­ve des Teu­fels geprägt, die erst jetzt in den ita­lie­ni­schen Medi­en an die Ober­flä­che kommt. Donald Trump führt in den Mei­nungs­um­fra­gen, obwohl er ange­klagt ist, einen geschei­ter­ten Putsch­ver­such mit rela­ti­ver Beset­zung des Kon­gres­ses orga­ni­siert und am Ende sei­ner Prä­si­dent­schaft vor­sätz­lich gehei­me Doku­men­te unter­schla­gen zu haben, Ban­ken und die Steu­er­be­hör­de getäuscht zu haben, indem er den Wert sei­nes Ver­mö­gens zu hoch ansetz­te, und sich den Fol­gen einer sexu­el­len Belä­sti­gung durch Hush Money (Schwei­ge­geld) ent­zo­gen zu haben. Die­se Gerichts­ver­fah­ren, die noch nicht abge­schlos­sen sind, haben die Unter­stüt­zung sei­ner Wäh­ler­ba­sis nicht beein­träch­tigt, die inner­halb der Repu­bli­ka­ni­schen Par­tei die Mehr­heit bil­det, aber vor allem unter den­je­ni­gen sich noch aus­brei­ten kann, die aus reli­giö­sem oder ideo­lo­gi­schem Fana­tis­mus ein auto­ri­tä­res Regime bevor­zu­gen und die ohne Trump nicht ein­mal wäh­len gehen wür­den. Sei­ne gesell­schaft­li­che Ver­an­ke­rung ist soli­de, weil sie auf dem im gesam­ten Westen leben­di­gen Wider­spruch gegen Ein­wan­de­rung beruht, die einer­seits pro­duk­tiv not­wen­dig ist und ande­rer­seits zu einem Krieg zwi­schen den Armen oder jeden­falls zwi­schen den­je­ni­gen führt, die sich durch die fort­schrei­ten­de Kon­zen­tra­ti­on der wirt­schaft­li­chen und finan­zi­el­len Macht wirt­schaft­lich stär­ker bedroht füh­len. Dazu trägt auch die kul­tu­rel­le Mar­gi­na­li­sie­rung eines gro­ßen Teils des Lan­des bei, des soge­nann­ten Midd­le Ame­ri­ca, das tra­di­tio­nell iso­la­tio­ni­stisch ist – sym­pto­ma­tisch dafür sind die Wor­te, mit denen Trump Ruß­land auf­ge­for­dert hat, in die NATO-Mit­glieds­staa­ten ein­zu­mar­schie­ren, die sich nicht aus­rei­chend bewaff­nen –, aber emp­fäng­lich ist für die Anzie­hungs­kraft des zwei­ten Ver­fas­sungs­zu­sat­zes, der jedem Bür­ger das Recht auf Waf­fen garan­tiert, trotz wie­der­hol­ter Mas­sa­ker an Unschul­di­gen. Kurz gesagt, kei­ne sta­ti­sti­sche Mehr­heit, aber wahr­schein­lich eine wahlpolitische.

Die Schwä­che der Kan­di­da­tur von Joe Biden im Ver­gleich zu der sei­nes Geg­ners zeigt sich in sei­ner unzu­rei­chen­den Fähig­keit, die Wahl­be­tei­li­gung über den tra­di­tio­nell demo­kra­ti­schen Appa­rat hin­aus zu moti­vie­ren. Abge­se­hen von eini­gen expan­si­ven Zuwäch­sen bei den Frau­en­stim­men, die auf die Anti-Abtrei­bungs­po­li­tik der Trum­pia­ner zurück­zu­füh­ren sind, wächst die Empö­rung in der Bevöl­ke­rung, vor allem bei Jugend­li­chen und Juden, über die Mas­sa­ker in der Ukrai­ne und vor allem im Gaza­strei­fen, die durch das Veto der Regie­rung Biden im UN-Sicher­heits­rat gegen jeden Waf­fen­still­stand begün­stigt wer­den. Auch eine gesun­de Wirt­schaft, eine all­zu fröh­li­che Bör­se und stei­gen­de Beschäf­ti­gungs­quo­ten rei­chen nicht aus, um den Anstieg der Ver­brau­cher­prei­se, ein Gesund­heits­sy­stem, das 65 Mil­lio­nen Men­schen von allen Lei­stun­gen aus­schließt, weil es der Gier pri­va­ter Inter­es­sen aus­ge­lie­fert ist, und die zuneh­men­den sozia­len Ungleich­hei­ten zu ver­ges­sen, die den als pro­gres­siv zu bezeich­nen­den Teil der Wäh­ler­schaft gewiß nicht zur Wahl moti­vie­ren. Mehr denn je herrscht das star­ke und weit ver­brei­te­te Gefühl vor, daß die intel­lek­tu­el­len Fähig­kei­ten, einen gro­ßen, wenn auch schrump­fen­den Staat wirk­sam und trans­pa­rent zu füh­ren, durch die Über­al­te­rung beein­träch­tigt wer­den. Der amtie­ren­de Prä­si­dent erin­nert an den Bre­sch­new der letz­ten Jah­re, umge­ben von eini­gen weni­gen Mit­ar­bei­tern, die die Zügel der Regie­rung in der Hand hal­ten und fest ent­schlos­sen sind, sie nicht aus der Hand zu geben. Daher ist es für den Mon­ar­chen trotz der immer zahl­rei­che­ren und offen­sicht­li­che­ren Anzei­chen von Unzu­frie­den­heit in der Wäh­ler­schaft schwie­rig, aber nicht unmög­lich, auf sei­ne Kan­di­da­tur zu ver­zich­ten, da immer mehr Kan­di­da­ten die Gefahr erken­nen [es fin­den gleich­zei­tig auch Par­la­ments­wah­len statt], in eine all­ge­mei­ne Nie­der­la­ge ihrer Par­tei hin­ein­ge­zo­gen zu werden.

In der Zwi­schen­zeit brei­tet sich ein Unbe­ha­gen aus, des­sen Kei­me in allen Staa­ten des Westens zu fin­den sind. Es ist auch nicht ver­wun­der­lich, daß Gior­gia Melo­ni die Gefah­ren, die von jedem hin­ken­den Impe­ri­um aus­ge­hen und das daher gezwun­gen ist, sich an sei­ne rela­ti­ve mili­tä­ri­sche Über­le­gen­heit zu klam­mern, zumin­dest schein­bar nicht wahr­nimmt. Lei­der ist Ita­li­en die Rol­le des Klas­sen­be­sten in jener „Lüstern­heit der Unter­wür­fig­keit“ nicht fremd, die sogar Vitto­rio Ema­nue­le Orlan­do1 nach dem Zwei­ten Welt­krieg anpran­ger­te. Es ist eine Iro­nie der Geschich­te, daß sich die (post)faschistische Melo­ni in eine Bado­glia­ne­rin ver­wan­delt hat, die stolz auf den Kuß ist, den ihr der unter­ge­hen­de Herr­scher gege­ben hat.

*Gian Gia­co­mo Migo­ne, geb. 1940, Sohn eines ita­lie­ni­schen Diplo­ma­ten und einer fran­zö­si­schen Mutt­ter (der Vater war Mit­te der 30er Jah­re Erster Sekre­tär an der ita­lie­ni­schen Bot­schaft in Washing­ton, dann bis 1941 an der ita­lie­ni­schen Bot­schaft in Mos­kau und been­de­te sei­ne Lauf­bahn 1957–1964 als ita­lie­ni­scher Bot­schaf­ter beim Hei­li­gen Stuhl), Abitur in Paris, Stu­di­um der Rechts­wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät Rom, der Poli­tik­wis­sen­schaf­ten an der Katho­li­schen Uni­ver­si­tät Mai­land und der Zeit­ge­schich­te in Har­vard, ab 1962 als Jour­na­list tätig, von 1969 bis 2010 Pro­fes­sor für Geschich­te der Trans­at­lan­ti­schen Bezie­hun­gen an der Uni­ver­si­tät Turin; als pro­gres­si­ver Katho­lik und nicht-ortho­do­xer Lin­ker war er 1971 als „demo­kra­ti­scher Katho­lik“ Mit­grün­der der links­ra­di­ka­len Poli­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung (MPL), dann der Par­tei der Pro­le­ta­ri­schen Ein­heit für den Kom­mu­nis­mus (PdUP) und 1978 bis 1989 Mit­glied der Arbei­ter­de­mo­kra­tie (DP), Gast­pro­fes­sor 1980/​81 an der Uni­ver­si­tät Washing­ton und 1989/​90 in Har­vard, Vor­stands­mit­glied des Cen­ter for Euro­pean Stu­dies an der Colum­bia Uni­ver­si­ty, 1991 Mit­grün­der und Vor­stands­mit­glied der Links­de­mo­kra­ten (PDS), Vor­stands­mit­glied der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei Euro­pas, 1992 bis 2001 Sena­tor der Links­de­mo­kra­ten, 1994 bis 2001 Vor­sit­zen­der des Außen­po­li­ti­schen Aus­schus­ses des Senats, Auf­sichts­rats­mit­glied des Staff Col­lege der UNO und der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung der NATO, seit 2007 parteilos.

Erst­ver­öf­fent­li­chung: Il Fat­to Quo­ti­dia­no
Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wiki­com­mons


1 Vitto­rio Ema­nue­le Orlan­do (1860–1952), ita­lie­ni­scher Rechts­wis­sen­schaft­ler, 1897–1925 libe­ra­ler Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ter, Frei­mau­rer, 1916–1919 Innen­mi­ni­ster, 1917–1919 Mini­ster­prä­si­dent des König­reichs Ita­li­en, führ­te die Frie­dens­ver­hand­lun­gen bei den Pari­ser Vor­ort­frie­den, 1945/​46 Par­la­ments­prä­si­dent, 1946 Mit­glied der Ver­fas­sungs­ge­ben­den Versammlung.

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