Von P. Paolo M. Siano*
- Die Loge Propaganda 2 zwischen Geheimdiensten und Esoterik (Teil 1)
- Die Loge Propaganda 2 zwischen Geheimdiensten und Esoterik (Teil 2)
6. Die Gelli-P2 und Geheimdienste laut Licio Gelli
In dem Interview, das Maurizio Costanzo (1938–2023) gegeben hat und im Corriere della Sera vom Sonntag, dem 5. Oktober 1980, veröffentlicht wurde, tritt Licio Gelli ein wenig an die Öffentlichkeit. Der Artikel stellt Gelli als „unbestrittenes Oberhaupt der geheimsten und mächtigsten Freimaurerloge“ dar. Gelli (der diese Aussage herunterzuspielen versucht) erwähnt zwei emblematische Freimaurer-Figuren: Giuseppe Garibaldi und den Grafen Cagliostro.1 In diesem Interview fragt Gelli in bezug auf die Freimaurer sibyllinisch, „ob die Leute glauben, daß wir wirklich mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sind. Was ja auch wahr sein könnte oder zumindest in anderen Zeiten wahr gewesen sein könnte: Es genügt, sich daran zu erinnern, daß wir einen ‚Magier‘ wie Giuseppe Balsamo, Graf von Cagliostro, und einen Menschenführer vom Kaliber eines Giuseppe Garibaldi, des Helden der Zwei Welten, in unseren Reihen hatten“ (S. 3).
Garibaldi und Cagliostro, zwei freimaurerische Vorbilder für Gelli und die Piduisten [Mitglieder der Loge P2]?
Es ist interessant anzumerken (aber Gelli sagt es nicht), daß:
1) Garibaldi zunächst Revolutionär, General, dann eine „institutionelle“ Figur des neuen Italiens (des Risorgimento), Großmeister der italienischen Freimaurer und 33. Grad war, der auch von der britischen Freimaurerei geschätzt wurde; er war auch Spiritist und Großmeister einer Freimaurerei des Ägyptischen Ritus…
2) Cagliostro vereinte kabbalistische und ägyptische Esoterik (er war der Schöpfer einer „Freimaurerei des ägyptischen Ritus“), Prahlerei, Spionage, Subversion zugunsten der bayerischen Illuminaten…
Sibyllinisch ist auch Gellis Antwort auf Costanzos letzte Frage, was man einst geantwortet hätte auf die Frage, was man einmal werden möchte, wenn man groß ist: „Puppenspieler“, so Gelli, was auch als „Drahtzieher“ verstanden werden könnte, als jemand, der „die Puppen tanzen läßt“.
Es scheint, daß zumindest in den folgenden Jahren das ägyptosophische Thema Gelli anzog. Wie auf der Website der Ägyptischen Freimaurerei des Alten und Primitiven Ritus von Memphis-Misraim (eine der vielen „ägyptischen“ Freimaurereien, d. h. der „ägyptischen“ Magie gewidmet) zu lesen ist, wurde Licio Gelli der 99. und vorletzte Grad dieser Freimaurer-Obödienz verliehen, die vom Großhierophanten oder Internationalen Oberhaupt Frank G. Ripel 100° alias Gianfranco Perilli geleitet wird. Auf der Website von Ripel/Perilli M.E.A.P.R.M.M. finden sich auch „Einige Anmerkungen zu Graf Licio Gelli“, die sehr lobend sind:
„1980 wurde Licio Gelli – aufgrund seiner beständigen Kontakte zum Minister des Königshauses Lucifero Falcone – von [Ex-]König Umberto II. von Italien der Grafentitel verliehen. Gegen Ende der 1970er Jahre wurde er vom Großorient von Italien beauftragt, als Großmeister die 1895 [in Wirklichkeit 1877] von Großmeister Lemmi gegründete Freimaurerloge Propaganda 2 (P2) zu übernehmen und wiederzubeleben. In den 1980er Jahren brach der falsche Skandal um die P2 aus. Der Großmeister wurde später von den in jenen Jahren gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigesprochen. 1996 wurde Komtur Licio Gelli für seine Tätigkeit als Dichter und Schriftsteller von nicht weniger als neunundfünfzig Organisationen – Akademien, Universitäten, italienischen und ausländischen Kulturvereinigungen – für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.“
Ripel/Perilli war bereits in den 1970er Jahren in der Esoterikszene aktiv und widmete sich der Sexualmagie, der Kabbala, der Alchemie, der Hermetik, dem „Kontaktismus“, den Lehren von Aleister Crowley, dem Ordo Templi Orientis, dem Draconianer-Kult, der „ägyptischen“ Freimaurerei… Er ist Autor zahlreicher Bücher über Esoterik und Magie. Zu Ripels Kontakten gehörte auch der Freimaurer Francesco Brunelli (1927–1982), Mitglied des Großorients von Italien und des Alten Primitiven Ritus von Memphis-Misraim usw… Zu denen, die sich für Ripels Aktivitäten interessierten, gehörte auch Licio Gelli, der ihm in einem Brief vom 28. Juni 1989 „ein durchweg positives Urteil über seine früheren Bände“ aussprach.2 Sehr interessant ist die Bio-Bibliographie (aktualisiert bis 2023) von Frank G. Ripel, insbesondere seine Kontakte/Treffen mit Licio Gelli, mit anderen italienischen Freimaurern (des Großorients und verschiedenen Gruppen des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus) und auch mit russischen Freimaurern.3
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Dem Journalisten Sandro Neri erzählt Licio Gelli 2006, daß er nach seinem Ausschluß aus dem Großorient von Fausto Bruni 33° (Leiter eines Obersten Rates des 33. Grades des Schottischen Ritus, der sich vom Obersten Rat des Alten und Angenommen Schottischen Ritus, der mit dem Großorient verbunden ist, abgespalten hat) zum „Beauftragten des Proselytismus des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus“ ernannt wurde. Außerdem ernannte Giorgio Paterno 33° Licio Gelli zum Ehrengroßmeister der Großloge von Italien.4 Hier weitere Aussagen von Licio Gelli gegenüber Sandro Neri: „Miceli, Maletti, Viezzer, Grassini, alle Spitzenkräfte der damaligen Geheimdienste gehörten zur P2, denn sie waren selbst diejenigen, die ihre Mitarbeiter oder ihre Stellvertreter namhaft machten, die sich der Loge anschlossen. Das war ganz normal. Wir haben nur Extremisten aussortiert: Wir haben weder Kommunisten noch Faschisten akzeptiert“ (S. 87).
„Ich kannte Persönlichkeiten von internationaler Bedeutung. Sogar innerhalb der CIA oder in amerikanischen konservativen Kreisen. […] Aber ich habe von niemandem Befehle angenommen. Höchstens war ich es, der Ratschläge gab“ (S. 117f).
„Mindestens neun Jahre lang war ich über alle Bewegungen in unserem Sicherheitsapparat informiert. Und damals waren die Dienste wirklich geheim. Das lag daran, daß ich das Glück hatte, die Freundschaft und das Vertrauen der italienischen und amerikanischen Geheimdienstchefs zu genießen. Sie wußten, daß sie im Bedarfsfall auf mich zählen konnten“ (S. 119f).
Über die P2 sagt Gelli: „Es war eine unsichtbare Armee, die aus Antikommunisten bestand. Alle von ihnen hatten Schlüsselpositionen inne“ (S. 155). Die Loge „zählte die besten Köpfe der italienischen Gesellschaft zu den ihren. Persönlichkeiten, die vom Staat bewertet und an die Spitze seiner Institutionen gestellt worden waren. Sie waren die Besten auf jedem Gebiet“ (S. 128).
Sandro Neri teilt Gelli mit, daß im Anselmi-Bericht über die P2 von „einer Pyramide die Rede ist, an deren Spitze Gelli steht… und darüber eine andere, umgekehrte Pyramide, deren untere Spitze die Figur von Gelli ist, der Verbindungspunkt zwischen den beiden“. Dann fragt Neri: „Was halten Sie von diesem Bild? Finden Sie sich darin wieder?“. Gelli antwortet: „Es scheint mir ein richtiges Bild zu sein. Ich war der Leiter der Loge, aber ich hatte Kontakte auf internationaler Ebene“ (S. 223).
Neri fragt Gelli: „Was war das eigentliche Ziel der P2?“. Gelli antwortet vor allem: „Zu regieren, ohne an der Regierung zu sein“ (S. 241).
In einem Interview mit Klaus Davi erklärt Licio Gelli 2008: „Mit der P2 hatten wir Italien in unserer Hand. Mit uns waren die Armee, die Finanzwache, die Polizei, alle eindeutig von Mitgliedern der Loge befehligt“. „Wir wollten nie angreifen, wir waren vielmehr ein Wachposten, der darauf achtete, daß die Kommunistische Partei nicht an die Macht gelangt.“5
In einem Interview, das er am 14. April 2009 dem Schriftsteller Alessandro Iovino (parlamentarischer Assistent im Senat) gab, sagt Licio Gelli über die P2 im Jahr 1981: „Wir kamen so weit, die Geheimdienste zu kontrollieren, und viele Generäle waren Mitglieder der P2. Außerdem gehörten prominente Politiker der Loge an. Als sie jedoch aufhörte, befand sich die P2 gerade in einer Rekrutierungsphase. Wir mußten immer noch Proselyten machen. Uns fehlte noch etwas…“ 6
Zum Fall Wikileaks und Assange stellt Gelli fest: „Sehen Sie, die Geheimdienste wissen, wie man alles macht: schreiben, erfinden, schützen. Von Zeit zu Zeit muß man in der Vergessenheit fischen und ein Geheimnis ans Licht bringen, um andere, unaussprechliche Geheimnisse zu schützen“ (S. 35).
7. Gelli-P2 und Geheimdienste laut den Aussagen von Geheimdienstvertretern
Zu den Beziehungen zwischen der Freimaurerei und den Geheimdiensten schreibt Tina Anselmi, Vorsitzende der parlamentarischen Untersuchungskommission zur P2 (Dezember 1981–Juli 1984), in ihren Tagebüchern: „Die italienische und internationale Freimaurerei war immer der Deckmantel für die Geheimdienste.“ 7
Die folgenden Aussagen wurden vor der parlamentarischen Untersuchungskommission zur P2 von Offizieren der militärischen Geheimdienste gemacht, die der „Macht“ der Gelli-P2 sehr kritisch gegenüberstanden.
7.1 Die Macht der Gelli-P2 aus der Sicht von General Siro Rossetti (SID, Großorient und P2)
Die Aussage von Brigadegeneral Siro Rossetti der italienischen Streitkräfte, die er am 5. März 1977 vor Richter Angelo Vella machte, ist sehr interessant. Rossetti erklärt, daß er immer noch Freimaurer ist und bis Januar 1975 Mitglied der Loge P2 (als Schatzmeister) war.8
In einer Denkschrift vom 18. März 1977 beschreibt Rossetti die Aktivitäten der Loge P2 und einiger der mit ihr verbundenen Personen. Rossetti erklärt, daß seine „Aufnahme von Beziehungen zu der genannten Organisation [Anm.: gemeint ist der Großorient von Italien Palazzo Giustiniani] auch dem beruflichen Nutzen diente, meinen Informationshorizont zu erweitern, um ihn an das Maß an Verantwortung und Zusammenarbeit anzupassen, das von mir als diensttuendem Offizier in dem betreffenden Bereich der Staatssicherheitsdienste verlangt wird“ 9.
Rossetti spricht von dem Einfluß, den Gelli auf den Großmeister des Großorients Lino Salvini und auf General Vito Miceli, den damaligen Leiter des militärischen Geheimdienstes und P2-Mitglied, ausübte (vgl. S. 84). Zu Gellis Macht innerhalb und außerhalb der P2 stellt Rossetti fest: „Er nutzte ausgiebig die Gelegenheit, sich in den unterschiedlichsten Umgebungen und auf allen Ebenen vorzustellen und gehört zu werden: von den einzelnen Ministersekretariaten bis hin zum Quirinalspalast, dem Parlament und anderen Umgebungen, einschließlich internationaler und diplomatischer Umgebungen, von hohem Rang. So ist beispielsweise bekannt, daß er – auch in Anbetracht seiner teilweise gepriesenen Bedeutung – eine Rolle bei der Rückkehr von General Peron in sein Heimatland und seiner anschließenden Wiederwahl zum Präsidenten der Argentinischen Republik spielte. Für die Verdienste, die er sich damals erwarb, übertrug ihm die Regierung dieses Staates auch einen repräsentativen Posten für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern“ (S. 84).
7.2 Die „P2-Macht“ laut General Lugaresi (SISMI)
Am 18. Februar 1982 findet vor der parlamentarischen Untersuchungskommission zur P2 eine Anhörung von General Ninetto Lugaresi statt, der von 1981 bis 1984 Direktor des SISMI war. Thema der Anhörung ist das Eindringen von Männern der Loge P2 in die italienischen Geheimdienste, insbesondere in den Militärgeheimdienst, der damals „SISMI“ hieß.
„Was den SISMI betrifft, so kann ich sagen, daß acht seiner hohen Beamten zu der berüchtigten Liste von über 900 angeblichen Anhängern der Loge P2 gehörten. Ich kann hinzufügen, daß sechs von acht zwischen Juli 1978 und Juni 1980 zum SISMI wechselten, während die übrigen zwei bereits vor 1976 eingetreten waren. Alle waren in leitenden Positionen tätig, einige im Nachrichtenbereich, andere im Verwaltungsbereich. Einer von ihnen, General Musumeci, war Leiter des Kontroll- und Sicherheitsbüros, sicherlich eines der heikelsten Büros des Dienstes, wenn nicht sogar das heikelste“ 10.
Lugaresi erklärt, daß er es zur Wahrung der Ehre des SISMI für angebracht hielt, die Mitglieder dieser Loge aus dem Dienst zu entfernen, da der Schatten der P2-Mitgliedschaft über dem gesamten Dienst hing; diese Entscheidung wurde von den Betroffenen nicht einfach akzeptiert. Lugaresi verrät, daß es eine Reaktion gegen ihn gab: „Die Reaktion manifestierte sich in einer plötzlichen und anhaltenden Art und Weise; manchmal nahm sie sogar gewalttätige Formen an, mit der starken Flankierung einiger Meinungsmacher, die sorgfältig ausgewählt wurden. Für mich, der ich sie erleiden mußte, war es einfach die Gegenoffensive der P2-Macht, die meiner Meinung nach eine Konvergenz der Bemühungen all derer darstellte, die ein persönliches oder parteiisches Interesse am SISMI hatten. Nun, wenn die Durchdringung der P2-Macht im SISMI an der Reaktion gemessen werden kann, die ich bereits erwähnt habe, dann muß ich zu dem Schluß kommen, daß es eine Durchdringung gab“ (S. 79f).
Dann stellt Lugaresi fest: „Die P2-Macht ist ein Ausdruck der Synthese, der dazu dient, das Thema, mit dem wir uns befassen, zu behandeln oder zu identifizieren, d. h. eine Reihe von Interessen, die ich versucht habe, zu erklären, soweit es meinen Dienst betrifft“ (S. 95).
Bemerkenswert ist die Anmerkung, die der Abgeordnete Franco Calamandrei (1917–1982) von der Kommunistischen Partie Italiens (PCI) an General Lugaresi richtete: „General Lugaresi, wie mein Kollege Bozzi war auch ich beeindruckt von der Sicherheit, mit der ein Mann mit Ihrer Erfahrung und Verantwortung die P2-Loge immer wieder als ‚die P2-Macht‘ bezeichnete. Diese Definition ist für mich von großer Bedeutung und Interesse, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie uns etwas mehr über die Gründe sagen könnten, die Sie zu einer solchen Einschätzung veranlaßt und geführt haben, uns dies bei unserer Untersuchung helfen und leiten könnte“ (S. 97).
Calamandrei fragt Lugaresi, was – seiner Meinung nach – „die Ziele sind, die die P2-Macht sich gesetzt hat und setzt“. Lugaresi antwortet [wenn er von „Dienst“ spricht, meine er den SISMI]: „Natürlich ist die Frage ziemlich komplex, weil sie Bereiche berührt, die ich nicht abdecken kann. Für mich war die Manifestation – so kann ich sagen – der Rückgriff auf die Leitung des Dienstes, um Gefolgschaft zu bekommen, um Kontakte zu erhalten, um Verbindungen zu erleichtern, die in den meisten Fällen finanzieller Natur sein konnten, aber die auch ein Austausch von Informationen sein konnten, die auch die Welt der Industrie und die Welt der Politik betreffen konnten. […] Wenn ich also eine Definition, ein Bild von dem geben müßte, was ich die P2-Macht genannt habe, nur als Kurzformel, um eine bestimmte Fähigkeit zu bezeichnen, etwas zu tun, wenn ich also ein Bild geben müßte, könnte ich sagen, daß es eine Art ‚Schalttafel‘ ist; eine Schalttafel, in die Anrufe gemacht und Stecker eingesteckt wurden, um Verbindungen herzustellen; denn das ist es, was der Dienst tun kann, mehr kann er nicht tun. Also ist er geeignet, eine Telefonzentrale zu sein“ (S. 98).
Zu der Frage, ob die Mitgliedschaft im Geheimdienst mit der Mitgliedschaft in der Freimaurerei (mit Ausnahme der P2, die damals bereits vom Staat und vom Großorient in Italien verurteilt wurde) vereinbar ist, ergab sich ein interessanter Wortwechsel zwischen dem Abgeordneten Pietro Padula (1934–2009), Christdemokrat, und General Lugaresi, Ich zitiere aus dem Protokoll der Untersuchungskommission:
„PIETRO PADULA: […] ist Ihrer Meinung nach, angesichts der Art der von den Diensten ausgeübten Tätigkeit und des notorischen Merkmals der Vertraulichkeit sowie der Merkmale des freimaurerischen Eids, die Mitgliedschaft, die organische Beziehung zum Dienst, Ihrer Meinung nach subjektiv mit dem freimaurerischen Eid vereinbar?
LUGARESI: Das ist eine persönliche Einschätzung, die Sie von mir verlangen, und ich, der ich den Eid als Offizier der italienischen Armee geleistet habe, glaube, daß es außer diesem Eid keinen anderen geben sollte. Es mag Leute geben, die anders denken“ (S. 108).
7.3 Die Gelli-P2 laut Massimo Pugliese (Carabinieri, SID, Großorient, P2)
Massimo Pugliese (1927–2002), ein ehemaliger Carabinieri-Offizier, der in den 1970er Jahren entlassen wurde, ehemaliger Agent des italienischen Militärgeheimdienstes SID, Freimaurer der Großorients von Italien und dann der P2, der in den 1980er Jahren in eine Untersuchung des Ermittlungsrichters Carlo Palermo über angeblichen internationalen Waffenhandel verwickelt wurde. Im Jahr 1989 wurde Pugliese zusammen mit anderen Angeklagten vom Berufungsgericht in Venedig freigesprochen, weil „keine Straftat vorliegt“ 11.
Die Aussagen von Pugliese vor Richter Palermo am 29. September 1983 sind sehr interessant. Pugliese, der 1948 in Kalabrien in die Freimaurerei aufgenommen wurde, nahm von 1948 bis 1962 aufgrund seiner Tätigkeit als Carabinieri-Offizier in Sardinien nicht an der Logenarbeit teil. 1963 lernte er den Großmeister des Großorients von Italien, Giordano Gamberini, kennen: „1963 kam der Großmeister Professor GIORDANO GAMBERINI nach Sardinien und wollte mich über Professor DASPRO kennenlernen. Nachdem er erfahren hatte, daß ich die Spionageabwehr durchlaufen hatte, schlug er mir vor, die Loge in Cagliari zu verlassen und in eine ‚verdeckte‘, absolut vertrauliche Loge mit Sitz in Rom zu wechseln, die ihm direkt und ausschließlich unterstellt war. Diese Loge trug den Namen P2 und versammelte schon damals Persönlichkeiten, hohe Staatsbeamte und politische Exponenten, die aus offensichtlichen Gründen nicht mit den anderen Freimaurerbrüdern in Kontakt treten konnten“ 12.
Seit 1974 ist die P2 nicht mehr direkt dem Großmeister des Großorients unterstellt, sondern hat einen eigenen Meister, nämlich Licio Gelli. Pugliese traf Gelli mindestens zwanzigmal in Rom (vgl. S. 575f). Zu seinen Kontakten mit Licio Gelli erklärt Pugliese: „Meine Kontakte mit ihm beschränkten sich auf Fragen der Proselytenmacherei und darauf, daß Gelli mich bat, ihn mit besonders prominenten Persönlichkeiten aus meinem Bekanntenkreis bekannt zu machen. Ich stellte ihn dem Vizepräsidenten der Elfenbeinküste, Anet Bilé Clément, vor, der eingeweiht wurde; dies geschah, weil ich in der Elfenbeinküste kommerzielle Werbemaßnahmen durchführte; diese Person, ein Ingenieur mit französischer Ausbildung, wohnhaft in Abidjan in der Elfenbeinküste, blieb P2-Mitglied. […] Meine Aufnahme in die Freimaurerei erfolgte nach dem klassischen Ritual in der strengsten, in den Handbüchern vorgeschriebenen Form“ (S. 577).
7.4. Die Gelli-P2 laut Angelo De Feo (SID)
Fregattenkapitän Angelo De Feo, von 1972 bis 1977 Leiter der 2. Abteilung Ri.S. des SID13, schrieb in einer seiner Notizen von 1983 an Richter Carlo Palermo unter anderem: „Ich glaube nicht, daß meine Vorladung dazu dienen sollte, das Vorhandensein von Verbindungen zwischen der Loge P2 von Licio Gelli und den italienischen Geheimdiensten festzustellen, da das massive Vorhandensein der repräsentativsten Elemente der Körperschaft in der Liste der ‚Ehrwürdigen‘ an sich schon eine unwiderlegbare Bestätigung für das Vorhandensein solcher Verbindungen ist; es scheint auch nicht notwendig zu sein, weitere objektive Verbindungen festzustellen, da diese, selbst wenn sie nicht leicht zu finden sind, bereits besonders zahlreich und erheblich zu sein scheinen. […] Stattdessen möchte ich die Aufmerksamkeit des Untersuchungsrichters auf zwei Tatsachen lenken, die es meiner Meinung nach verdienen, hervorgehoben zu werden, und von denen ich hoffe, daß sie dazu beitragen werden, die traurigen Ereignisse, um die es hier geht, ins rechte Licht zu rücken:
1. die Kenntnis des ‚Ehrwürdigen‘ bei fast allen ‚Treuesten‘ des Dienstes, insbesondere bei jenen Offizieren, die seit Jahrzehnten auf ihren Posten festkleben, indem sie alle Wechselfälle im Zusammenhang mit den verschiedenen Umstrukturierungs- und Neugründungsversuchen überstanden haben, von denen der Dienst in den letzten vier glanzvollen Jahren bei seiner Umwandlung vom SIFAR in den SISMI besonders betroffen war;
2. die Arroganz, die Ausweichmanöver, die Mißachtung der Gesetze und Regeln, sowohl als Gruppe als auch als Einzelpersonen, die jene, die dem Dienst zugewiesen waren, und insbesondere jenen, die vom SIFAR kamen, […] gegenüber Personen und Institutionen hatten […]. Diese Tatsache ist einer der Schlüssel zum Verständnis der Geschehnisse. Was den ersten Punkt betrifft, so erinnere ich mich, daß ich 1975/76 die Gelegenheit hatte, eine Diskussion zwischen dem damaligen T.C. [Oberstleutnant] PORRU, heute noch im SISMI, und einigen Kollegen, die alle schon immer im Dienst waren, eine Diskussion hörte, in der sie mit nostalgischem Verweis auf die Großzügigkeit des Gastgebers die Empfänge rühmten, die in der Vergangenheit ein damals unbekannter Gelli im Hotel Excelsior in Rom vielen SIFAR-Offizieren zu geben pflegte“ 14.
(Fortsetzung folgt)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Durch seine Veröffentlichungen bringt er den Nachweis, daß die Freimaurerei von Anfang an bis heute esoterische und gnostische Elemente enthielt, die ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 vgl. Maurizio Costanzo: Parla per la prima volta il “signor P2” (Erstmals spricht „Mister P2“), in: Corriere della Sera, 5. Oktober 1980, S. 3
2 vgl. PierLuigi Zoccatelli (Hrsg.): Aleister Crowley: un mago a Cefalù (Aleister Crowley. Ein Magier in Cefalù), Edizioni Mediterranee, Rom 2005, S. 122f.
3 https://www.frankripel.org/opera-frank-ripel/bio-bibliografia-ripel.php
4 vgl. Sandro Neri: Licio Gelli. Parola di Venerabile, Aliberti Editore, Reggio Emilia 2006, S. 24
5 zitiert nach Klaus Davi: Gelli: „Senza Berlusconi Italia nel caos. E Veltroni dovrebbe scomparire“ (Gelli: „Ohne Berlusconi wäre Italien im Chaos. Veltroni sollte verschwinden“, in: La Repubblica, 4. Dezember 2008)
6 A. Iovino: Licio Gelli. Il burattinaio d’Italia (Licio Gelli: Der Drahtzieher Italiens), grauseditore, Neapel 2015, S. 28
7 Tina Anselmi: La P2 nei diari segreti di Tina Anselmi (P2 in den geheimen Tagebüchern von Tina Anselmi), herausgegeben von Anna Vinci, Chiarelettere editore, Rom 2011, S. 213)
8 vgl. Aussage von Siro Rossetti vor Richter Vella vom 5. März 1977, in: Camera dei Deputati – Senato della Repubblica – IX Legislatura – Commissione Parlamentare d’inchiesta sulla Loggia Massonica P2 – Allegati alla Relazione – Serie II : Documentazione raccolta dalla Commissione. Band VI. Die Loge P2 und die Freimaurerei, Tome XII, Doc. XXIII no. 2‑quater/6/XII, Rom 1987, S. 78f. Ich werde das Werk als CPIP2 zitieren.
9 Gen. Siro Rossetti, Memoiren, Rom 18. März 1977, in CPIP2, Dok. XXIII no. 2‑quater/6/XII, Rom 1987, S. 81 (81–90)
10 Vgl. Anhörung von General N. Lugaresi, Direktor des SISMI von August 1981 bis April 1984, vor der P2-Untersuchungskommission am 18. Februar 1982, in: CPIP2, Dok. XXIII n. 2‑quater/3/XIX, Rom 1984, S. 78 (71–153)
11 L’ex ufficiale del SID stroncato da un infarto (Der ehemalige SID-Beamte erlag einem Herzinfarkt), in: La Nuova Sardegna, 3. Januar 2002
12 Verhör von Pugliese Massimo durch Richter Carlo Palermo am 29. September 1983, in: CPIP2, Dok. XXIII n. 2‑quater/7/III, Rom 1987, S. 574f (574–586)
13 vgl. Vernehmung von Kapitän Angelo De Feo durch Richter Carlo Palermo, Trient, 8. November 1983, in: CPIP2, Doc. XXIII Nr. 2‑quater/7/IV, Rom 1987, S. 691–699
14 Angelo De Feo: Zusammenfassung der Konzepte, die dem Untersuchungsrichter Carlo Palermo am 8. 1983 im Zuge der Ermittlungen über Waffenhandel vorgelegt wurden, in: CPIP2, Doc. XXIII n. 2‑quater/7/IV, Roma 1987, p. 700 (700–719)