Die Rabbinerversammlung Italiens veröffentlichte vergangene Woche einen Angriff gegen Papst Franziskus. Er ist im Land des Papstes die schwerwiegendste Krise zwischen einem Papst und dem Judentum seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Bezeichnenderweise war es seither immer die jüdische Seite, die Kritik an der katholischen Kirche übte, nie umgekehrt, ob es um das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. ging oder die Aufhebung der Exkommunikation für Bischof Richard Williamson oder Formulierungen in der christlichen Bibel oder den Missionsauftrag gegenüber den Juden… Was aber war geschehen?
Grund für die jüngste Kritik ist der Vorwurf, Papst Franziskus habe die israelischen Geiseln der Hamas auf eine Stufe mit palästinensischen Gefangenen in Israel gestellt. Unschuldige könne man, sinngemäß, aber nicht mit Verbrechern, Mördern, Terroristen gleichsetzen, empörten sich die Rabbiner. Der Papst habe zudem beide Seiten des Terrorismus bezichtigt, was unerträglich sei.
Die Qualität der jüdischen Kritik ist gegenüber früher eine andere geworden. Bisher wurden einzelne Gesten eines Pontifikats kritisiert, aber nicht die Person des Papstes. Der nunmehrige Angriff richtet sich jedoch direkt gegen Papst Franziskus. Kategorisch sind daher auch die Konsequenzen, die in den Raum gestellt werden:
„Wir fragen uns“, so heißt es in dem Dokument der Rabbiner, „was der jahrzehntelange jüdisch-christliche Dialog nützt, in dem von Freundschaft und Brüderlichkeit gesprochen wurde, wenn dann in der Realität, wenn versucht wird, die Juden auszurotten, statt Zeichen der Nähe und des Verständnisses zu empfangen, die Antwort in diplomatischer Akrobatik, Balanceakten und eisiger Äquidistanz besteht, die mit Sicherheit Distanz, aber keine Gerechtigkeit ist“.
Es ist Verständnis geboten, wenn in einem offenen Konflikt die Emotionen hochgehen. Dennoch verwundert der Tonfall, denn die Kritik kommt nicht aus Israel und nicht von dort unmittelbar betroffenen Juden, sondern von Rabbinern, die im fernen und sicheren Italien leben. Oder geht es um Politik? Natürlich geht es um Politik.
Erschwert wird die Angelegenheit, weil die rabbinische Kritik auch sachlich falsch ist. Was genau hatte die Empörung ausgelöst?
Papst Franziskus empfing am vergangenen 22. November zwölf Familienangehörige von israelischen Geiseln, die sich seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas befinden. Diese Geste der Nähe wurde von den Betroffenen sehr positiv aufgenommen.
Etwas später empfing Franziskus am selben Vormittag weitere zwölf Personen: zehn Familienangehörige von Palästinensern im Gazastreifen, Christen und Moslems, sowie Gabriel Romanelli, den einzigen katholischen Pfarrer von Gaza, und einen griechisch-orthodoxen Priester.
Diese zweite Begegnung war es, die die Rabbiner empörte. In ihrer Kritik an Papst Franziskus schimmert ein Exklusivanspruch durch. Der Papst hätte nur die jüdischen Gäste empfangen sollen. Diese Schwarzweißmalerei, die in Gut und Böse einteilt, mag alttestamentlichen Kriterien entsprechen, aber nicht christlichen. Hier zeigt sich ein eklatanter Unterschied zwischen dem Christentum und dem nachchristlichen Judentum (und auch dem Islam), beiden fehlt das Gebot der Nächstenliebe.
Weil den Rabbinern wahrscheinlich selbst bewußt war, daß sich ihr Exklusivanspruch schwer vermitteln läßt, vollzogen sie einen Kunstgriff. Anders ausgedrückt: Sie manipulierten die Information. Sie kritisierten nicht direkt, daß Franziskus auch Palästinenser empfing, sondern empörten sich in ihrer Aussendung, daß Franziskus Familienangehörige von palästinensischen Gefangenen in Israel empfangen habe. Dadurch wurde die moralische Frage aufgeworfen, ob Geiseln mit Gefangenen gleichgesetzt werden können. Dadurch erhielt die Kritik eine andere Note. Zudem wurden in weiterer Folge durch Medien aus den Gefangenen schnell Mörder, quasi Hamas-Terroristen.
Nur: In den vatikanischen Veröffentlichungen zum Empfang der Palästinenser findet sich kein Wort von „Gefangenen“. Von Franziskus wurden Familienangehörige von Palästinensern im Gazastreifen empfangen. In keiner Verlautbarung ist von Palästinensern aus dem Gazastreifen die Rede, schon gar nicht von Angehörigen von Gefangenen.
Papst Franziskus bemühte sich in beiden Begegnungen, die jeweils eine halbe Stunde dauerten, den Menschen in ihrem Leid nahe zu sein. In beiden Begegnungen überwogen Frauen unter den Gästen.
Noch ein Aspekt in der Erklärung der Rabbiner fällt auf. Es werden zurecht die 1400 Opfer des Hamas-Terrors und die jüdischen Geiseln der Hamas beklagt. Mit keinem Wort werden aber die inzwischen 15.000 palästinensischen Zivilisten erwähnt, die seit Beginn der israelischen Gegenoffensive getötet wurden. Auf jeden bei dem grausamen Angriff auf Israel von der Hamas getöteten jüdischen Zivilisten kommen im israelischen Vergeltungsschlag bereits zehn getötete palästinensische Zivilisten. Sind sie nicht auch Menschen und Opfer eines unerträglichen Massakers? Dürfen sie „wie Staub beim Dreschen vernichtet“ werden, wie es im alttestamentlichen Zweiten Buch der Könige 13,7 heißt? Gilt auch bei den Opfern ein Exklusivanspruch?
Das zweitausendjährige christlich-jüdische Verhältnis ist sehr umfangreich und komplex und soll an dieser Stelle nicht näher angerissen werden. Stattdessen soll ein kaum bekanntes Dokument veröffentlicht werden, die Enzyklika Auspicia quædam von Papst Pius XII. Dieser Papst ist der größte Judenretter der Geschichte und dennoch wurde und wird sein Ansehen wie das keines anderen Papstes im christlich-jüdischen Kontext beschmutzt. Pius XII. schrieb diese Enzyklika, die er Palästina widmete – so nennt er, wie damals üblich, das Land durchgehend – wenige Tage, bevor der Staat Israel ausgerufen wurde. Der Zweite Weltkrieg lag erst kurz zurück. Viele europäische Städte, vor allem in Deutschland, aber auch in Italien waren Ruinen. Pius XII. genoß großes Ansehen, auch in der jüdischen Welt, denn die KGB-Kampagne gegen ihn (mit Hilfe des deutschen Dramatikers Rolf Hochhuth) wurde erst Anfang der 1960er Jahre gestartet. Man beachte die Wortwahl und die Kriterien, die der Papst benennt, indem er als Voraussetzung für den Frieden und das Wohlergehen auf Gerechtigkeit und Nächstenliebe pocht. Man beachte auch, daß der vorliegende Text belegt, daß Enzykliken kurz und allgemeinverständlich und sogar mit einer Kurzfassung (siehe am Ende) formuliert werden können. Hier der vollständige Wortlaut:
Enzyklika Auspicia quædam
von Papst Pius XII.
vom 1. Mai 1948
Einige Anzeichen scheinen heute deutlich zu zeigen, daß die gesamte große Völkergemeinschaft nach so vielen Massakern und Verwüstungen, die durch den langen und schrecklichen Krieg verursacht wurden, leidenschaftlich auf die gesunden Wege des Friedens ausgerichtet ist; und daß wir derzeit eher bereit sind, auf diejenigen zu hören, die sich mit ermüdender Arbeit dem Wiederaufbau widmen, die versuchen, Zwietracht zu besänftigen und beizulegen, und die sich daran machen, aus den vielen Ruinen, die uns umgeben, eine neue Ordnung des Wohlergehens zu erwecken, anstatt auf jene, die Haß und Groll schüren, aus denen nichts als neuer und schwerwiegenderer Schaden entstehen kann.
Doch obwohl Wir selbst und das christliche Volk viele Gründe des Trostes haben und uns mit der Hoffnung auf bessere Zeiten ermutigen können, mangelt es doch nicht an Tatsachen und Ereignissen, die Unsere väterliche Seele in große Sorge und Kummer bringen. Obwohl der Krieg fast überall aufgehört hat, hat der ersehnte Frieden die Gemüter und Herzen noch nicht beruhigt; vielmehr können wir immer noch sehen, wie sich der Himmel mit bedrohlichen Wolken verdunkelt.
Wir unsererseits hören nicht auf, alles zu tun, was Wir können, um aus der Menschheitsfamilie die Gefahren anderer Katastrophen zu entfernen, die sie überwältigen, und wenn sich die menschlichen Mittel als unzureichend erweisen, appellieren Wir an Gott und ermahnen gleichzeitig alle Unsere Kinder in Christus, verstreut in allen Ländern der Erde, um gemeinsam mit Uns himmlische Hilfe zu erbitten.
Aus diesem Grund war es für uns wie schon in den vergangenen Jahren ein Trost, Unsere Ermahnung an alle zu richten, insbesondere an die von Uns so geliebten Kinder, auf daß sie sich im Monat Mai in großer Zahl um den Altar der großen Mutter Gottes versammeln, um das Ende des verheerenden Krieges zu erflehen, und so laden Wir sie auch heute mit diesem Brief eindringlich ein, diesen frommen Brauch nicht zu unterbrechen und ihre Bitten mit Vorsätzen zur christlichen Erneuerung und Werken heilsamer Buße verbinden zu wollen.
Zunächst mögen sie der jungfräulichen Mutter Gottes und unserer gütigsten Mutter aufrichtig dafür danken, daß sie mit ihrer mächtigen Fürsprache das ersehnte Ende des großen Weltbrandes und für die vielen anderen vom Allmächtigen erflehten Wohltaten erreicht hat; aber gleichzeitig flehen wir Sie mit erneuten Gebeten an, daß der gegenseitige, brüderliche und volle Frieden unter allen Leuten und die gewünschte Harmonie zwischen allen sozialen Schichten endlich als Geschenk des Himmels erstrahlen möge.
Möge die Zwietracht, die niemandem nützt, aufhören; mögen die Streitigkeiten, die oft die Keime neuen Unglücks sind, auf gerechte Weise beigelegt werden; mögen die öffentlichen und privaten Beziehungen zwischen den Nationen gestärkt und gefestigt werden; möge die Religion, die Verfechterin aller Tugend, die Freiheit haben, die ihr zusteht; und möge die friedliche menschliche Arbeit unter der Schirmherrschaft der Gerechtigkeit und dem göttlichen Hauch der Nächstenliebe die reichlichsten Früchte zum Wohle der Allgemeinheit hervorbringen.
Ihr wißt wohl, ehrwürdige Brüder, daß unsere Gebete von der heiligen Jungfrau vor allem dann geschätzt werden, wenn sie keine vergänglichen und leeren Stimmen sind, sondern aus Herzen kommen, die mit den notwendigen Tugenden geschmückt sind. Bemüht euch daher mit eurem apostolischen Eifer, damit die im Monat Mai zum Himmel erhobenen öffentlichen Gebete einer Wiederbelebung des christlichen Lebens entsprechen. Tatsächlich ist es nur von dieser Voraussetzung aus berechtigt zu hoffen, daß der Lauf der Dinge und Ereignisse im öffentlichen und privaten Leben in die rechte Ordnung gelenkt werden kann und daß es den Menschen möglich wird, mit der Hilfe Gottes nicht nur das in dieser Welt mögliche Wohlergehen zu erringen, sondern auch das himmlische Glück, das niemals vergehen wird.
Aber es gibt derzeit noch einen anderen besonderen Grund, der Unser Herz zutiefst betrübt und quält. Wir beziehen uns auf die heiligen Stätten Palästinas, die seit langem von traurigen Ereignissen heimgesucht werden und fast täglich durch neue Massaker und Ruinen verwüstet werden. Doch wenn es eine Region auf der Welt gibt, die jeder würdigen und zivilisierten Seele besonders am Herzen liegen muß, dann ist dies sicherlich Palästina, aus dem seit den dunklen Anfängen der Geschichte so viel Licht der Wahrheit für alle Menschen hervorgegangen ist; in dem das fleischgewordene Wort Gottes durch Engelschöre allen Menschen guten Willens den Frieden verkünden ließ und in dem schließlich Jesus Christus, an den Kreuzesstamm genagelt, der ganzen Menschheit das Heil brachte und Seine Arme ausbreitend, als wollte Er alle Völker in die brüderliche Umarmung einladen, heiligte Er mit dem Vergießen Seines Blutes das große Gebot der Nächstenliebe.
Deshalb wünschen wir, verehrte Brüder, daß die Gebete des Monats Mai in diesem Jahr insbesondere zum Ziel haben, von der allerseligsten Jungfrau die Fürsprache zu erbitten, daß die Verhältnisse in Palästina endlich der Gerechtigkeit entsprechend versöhnt werden, und daß auch dort Eintracht und Frieden glücklich obsiegen mögen.
Wir haben großes Vertrauen in die mächtige Schirmherrschaft unserer himmlischen Mutter; eine Schirmherrschaft, die in diesem ihr geweihten Monat vor allem unschuldige Kinder mit einem heiligen Gebetskreuzzug erlangen mögen. Und es wird eure Aufgabe sein, sie einzuladen und anzuregen, dies mit aller Sorgfalt zu tun; und nicht nur sie, sondern auch ihre Väter und Mütter, die ihnen auch hier zahlreich mit ihrem Beispiel vorangehen müssen.
Wir wissen genau, daß Wir nie umsonst an den glühenden Eifer appelliert haben, von dem ihr entflammt seid; und Wir scheinen bereits große Scharen von Kindern, Männern und Frauen zu sehen, die sich in den heiligen Hallen drängen, um von der großen Mutter Gottes alle Gnaden und Gefälligkeiten zu erhalten, die wir brauchen.
Möge sie, die uns Jesus geschenkt hat, dafür sorgen, daß alle, die vom rechten Weg abgewichen sind, so schnell wie möglich, bewegt von gesunder Reue, zu ihm zurückkehren; möge sie für uns erwirken – sie, die unsere gütigste Mutter ist und die sich in jeder Gefahr immer als unsere gültige Hilfe und Vermittlerin der Gnaden erwiesen hat –, daß auch in den ernsten Nöten, in denen wir uns befinden, eine gerechte Lösung für die Konflikte gefunden werden kann, und daß der Kirche und allen Nationen endlich ein sicherer und freier Friede erstrahlen kann.
Vor einigen Jahren, wie sich jeder erinnert, als der jüngste Weltkrieg noch tobte, richteten Wir, als Wir sahen, daß sich die menschlichen Mittel als unsicher und nicht ausreichend erwiesen, um diesen gewaltigen Brand zu löschen, unsere inbrünstigen Gebete an den barmherzigen Erlöser, indem wir die mächtige Schirmherrschaft des Unbefleckten Herzens Mariens nützten. Und so wie Unser Vorgänger unsterblichen Andenkens Leo XIII. zu Beginn des 20. Jahrhunderts das gesamte Menschengeschlecht dem heiligsten Herzen Jesu weihte, so wollen auch Wir es stellvertretend für die von Ihm erlöste Menschheitsfamilie dem Unbefleckten Herzen der Jungfrau Maria weihen.
Wir wünschen daher, daß diese Weihe sowohl in den Diözesen als auch in den einzelnen Pfarreien und Familien vorgenommen wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet; und Wir sind zuversichtlich, daß aus dieser privaten und öffentlichen Weihe reiche Wohltaten und himmlische Gunst erwachsen werden.
In dieser Hoffnung und als Unterpfand Unseres väterlichen Wohlwollens erteilen Wir jedem von euch, Ehrwürdige Brüder, und all denen, die mit bereitwilligem Herzen auf dieses unser Mahnschreiben antworten werden, und besonders den großen und zahlreichen Scharen lieber Kinder, in der Ausgießung unseres Herzens den apostolischen Segen.
Rom, im Petersdom, am 1. Mai 1948, im Jahr X Unseres Pontifikats.
PIUS PP. XII
Gebete im Monat Mai für ein Ende der tragischen Folgen des Krieges und der Ursachen der Zwietracht. An die christliche Welt und an die Herrscher der Völker grundlegende Richtlinien für Frieden in Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Der bewaffnete Konflikt geht in Palästina weiter: Gebete, damit auch dort der Frieden zurückkehrt. Ich lade dazu ein, die Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens zu erneuern.
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons