(Rom) Das Denken von Papst Franziskus erschließt sich weniger aus seinen offiziellen Ansprachen, sondern vielmehr aus informellen Gesprächen oder Medieninterviews. Der Pressekonferenz auf dem Rückweg aus der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator lassen sich zahlreiche Hinweise entnehmen, so zur Synodalitätssynode und zu seinem Wunschnachfolger, aber auch zur aktuellen Geopolitik, die vom neuen Gegensatz zwischen Rußland und den USA bestimmt wird.
Zu letzterem Thema wurde Franziskus von Fausto Gasparroni eine Frage gestellt, der als Journalist der italienischen Presseagentur ANSA im Flugzeug des Papstes mitreiste. Im Westen wird seit 2014 als „Putinversteher“ diskreditiert, wer einen differenzierten Blick auf den seit damals schwelenden aktuellen Ost-West-Konflikt wirft und auch russische Gesichtspunkte und Interessen berücksichtigt. Seit dem offenen Krieg zwischen Rußland und der Ukraine, der zugleich ein Stellvertreterkrieg der USA gegen Rußland ist, wird alles Russische geächtet und in die Quarantäne verbannt. Die USA verfügen, seit dem Angriff gegen Spanien auf Kuba im Jahr 1898, über eine lange und seither immer verfeinerte Erfahrung darin, Kriege, die den eigenen Wirtschafts- und Machtinteressen dienen, moralisch aufzuladen und den jeweiligen Gegner zu diskreditieren. Die Liste der Beispiele ist lang und reicht von der Eroberung des Königreiches Hawaii, weil die USA gerade einen Militärstützpunkt im Pazifik brauchten, um die Philippinen erobern zu können, über Lateinamerika, Europa, den Fernen Osten bis in den Nahen Osten und Afrika. Wenn es für einen Krieg notwendig ist, die öffentliche Meinung in den USA zu mobilisieren – das unterscheidet in diesem Punkt eine Demokratie von einer Diktatur –, wird der Kampf gegen eine „Achse des Bösen“ beschworen. Da kann es schon einmal vorkommen, daß man wegen der Zerstörung der Twin Towers in New York auch den Irak „überfällt“, um im Sprachgebrauch des Narrativs zu bleiben, besetzt und eine halbe Million Tote provoziert, obwohl Saddam Hussein und sein Regime, lange Zeit ein enger Verbündeter der USA, nichts mit dem größten Terroranschlag der Geschichte zu tun hatte und dies die Regierung in Washington auch immer wußte. Der derzeitige Leibhaftige des US-Narrativs sitzt im Kreml. Papst Franziskus folgt diesem Narrativ nicht. Es ist der einzige Punkt seines Pontifikats, in dem er aus dem Chor ausschert.
Am vergangenen 25. August wandte sich Franziskus in einer Videobotschaft an junge russische Katholiken, dabei äußerte er sich wohlwollend über die russische Geschichte und Kultur, was empörte Reaktionen im linientreu russophob aufgeheizten westlichen Mainstream und natürlich besonders in der Ukraine auslöste.
Fausto Gasparroni (ANSA): Eure Heiligkeit, ich stelle die Frage im Namen der italienischen Gruppe. Kürzlich haben bestimmte Aussagen von Ihnen gegenüber jungen russischen Katholiken über die große Mutter Rußland, das Erbe von Persönlichkeiten wie Peter dem Großen und Katharina II. eine Debatte ausgelöst. Es handelt sich dabei um Äußerungen, die, sagen wir, zum Beispiel die Ukrainer sehr verärgert haben, die auch auf diplomatischer Ebene Folgen hatten und die fast als eine Verherrlichung des russischen Imperialismus und als eine Art Billigung der Politik Putins angesehen wurden. Ich wollte Sie fragen, warum Sie das Bedürfnis hatten, diese Äußerungen zu machen, ob Sie sie in Erwägung gezogen haben, ob Sie sie wiederholen würden; und auch, um der Klarheit willen, ob Sie uns sagen könnten, was Sie von Imperialismen und insbesondere von dem russischen halten?
Papst Franziskus: Schauen wir uns an, wo die Sache stattgefunden hat: bei einem Dialog mit jungen Russen. Am Ende des Dialogs habe ich ihnen eine Botschaft mit auf den Weg gegeben, eine Botschaft, die ich immer wiederhole: Sie sollen sich um ihr Erbe kümmern. Dies zuerst: Nehmt euch eures Erbes an. Das Gleiche sage ich überall. Und mit dieser Vision versuche ich auch den Dialog zwischen Großeltern und Enkelkindern zu führen: Laßt die Enkelkinder das Erbe antreten. Das sage ich überall, und das war auch die Botschaft. Ein zweiter Schritt, um das Erbe deutlich zu machen: Ich sprach vom großen Rußland, denn das russische Erbe ist sehr gut, es ist sehr schön. Denken Sie im Bereich der Literatur, im Bereich der Musik, bis hin zu einem Dostojewski, der heute zu uns von einem reifen Humanismus spricht; es hat diesen Humanismus, der sich entwickelt hat, in der Kunst und Literatur übernommen. Das wäre eine zweite Ebene, wenn ich von dem Erbe spreche. Der dritte [Schritt] war vielleicht nicht so glücklich, aber wenn ich über das große Rußland im Sinne von nicht so sehr Geographie, sondern Kultur spreche, wurde ich an das erinnert, was uns in der Schule beigebracht wurde: Peter I., Katharina II., und so kam es zu diesem dritten Aspekt, der vielleicht nicht ganz richtig ist, ich weiß nicht, das mögen uns die Historiker sagen, aber es war ein Zusatz, der mir in den Sinn kam, weil ich es in der Schule gelernt hatte. Aber was ich den jungen Russen gesagt habe, ist, daß sie sich ihres Erbes annehmen sollen, daß sie ihr Erbe annehmen sollen, also nicht woanders eines „kaufen gehen“ sollen, verstehen Sie? Das eigene Erbe annehmen. Und welches Erbe? Das des großen Rußlands: Die russische Kultur ist von großer Schönheit, von großer Tiefe, und sie sollte nicht wegen politischer Probleme ausgelöscht werden. Es gab dunkle – politische – Jahre in Rußland, aber das Erbe ist immer erhalten geblieben, verfügbar.
Als nächstes sprechen Sie vom Imperialismus. Eigentlich habe ich nicht an Imperialismus gedacht, als ich das gesagt habe, ich habe von Kultur gesprochen, und die Weitergabe von Kultur ist niemals ‚imperial‘ [imperialistisch], niemals; es ist immer ein Dialog, und darüber habe ich gesprochen. Es stimmt, daß es Imperialismen gibt, die ihre Ideologie durchsetzen wollen. Darüber will ich nun sprechen: Wenn Kultur „destilliert“ und in Ideologie umgewandelt wird, ist das Gift. Man benutzt die Kultur, aber zur Ideologie destilliert. Man muß unterscheiden: wenn es um die Kultur eines Volkes geht und wenn es um die Ideologien geht, die von einem Philosophen, von einem Politiker dieses Volkes ausgehen. Und das sage ich für alle, auch für die Kirche: Manchmal werden in der Kirche Ideologien aufgestellt, die die Kirche von dem Leben trennen, das von der Wurzel kommt und nach oben geht; sie entbinden die Kirche vom Einfluß des Heiligen Geistes. Eine Ideologie kann nicht inkarniert werden, sie ist nur eine Idee. Aber wenn die Ideologie an Stärke gewinnt und zur Politik wird, wird sie normalerweise zur Diktatur, unfähig zum Dialog und unfähig, mit den Kulturen voranzukommen. Und Imperialismen tun dies. Der Imperialismus konsolidiert sich immer auf der Grundlage einer Ideologie. Wir müssen in der Kirche auch zwischen Lehre und Ideologie unterscheiden: Wahre Lehre ist niemals ideologisch, niemals; es ist im heiligen, treuen Volk Gottes verwurzelt. Die Ideologie hingegen ist losgelöst von der Realität, losgelöst vom Volk … Ich weiß nicht, ob ich geantwortet habe.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: VaticanNews/Youtube (Screenshot)