Von Giuseppe Nardi.
Kurienerzbischof Vincenzo Paglia rief mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in den USA dazu auf, die Lebensrechtsfrage „nicht zu einer ideologischen Waffe in der politischen Debatte“ zu machen. Es ist eine der Formen, mit denen Santa Marta derzeit Joe Biden, dem Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, führender Exponent des Establishments und Vertreter der politischen Linken, gegen Donald Trump im Wettrennen um das Weiße Haus zur Seite springt.
Fast zeitgleich hatte Kardinal Sean O’Mally, der Erzbischof von Boston und Vertreter Nordamerikas im amputierten C9-Kardinalsrat, der Papst Franziskus berät, den Klerus und alle Vertreter seines Bistums aufgefordert, Kandidaten weder zu unterstützen noch zu verurteilen. Der Kardinal betonte aber die eindeutige kirchliche Ablehnung der Abtreibung und forderte das uneingeschränkte Lebensrecht für jeden Menschen von seiner Zeugung bis zu seinem natürlichen Tod.
Erzbischof Paglia, Vorsitzender der Päpstlichen Akademie für das Leben, betonte hingegen gegenüber Crux des Boston Globe, daß es darum gehe, die „Sache für das Leben nicht auf dem Fußballplatz der Politik einzusetzen“.
Crux zitiert Msgr. Paglia mit den Worten:
„Das Leben ist ein großes Geschenk, das von Gott kommt … Niemand kann sich das Leben selbst schenken. Wir alle erhalten es, und wir erhalten es nicht, um es zu bewahren, sondern um es wie die Talente des Evangeliums zu vermehren.“
Für Joe Bidens Sieg drückt Santa Marta beide Augen zu?
Doch wie realitätsfern ist ein solcher Wunsch, wenn das Lebensrecht durch staatliche Gesetze und richterliche Urteile millionenfach bedroht ist und es jedes Jahr hunderttausendfach zur Tötung ungeborener Kinder kommt. Gemeint ist eine Bedrohung, in der es um Leben und Tod geht. Jede Abtreibung ist der sichere Tod eines unschuldigen Kindes. Seit der Freigabe durch den Obersten Gerichtshof 1973 wurden in den USA unzählige Millionen Kinder getötet. Es ist eine ganze Abtreibungsindustrie entstanden, die mit dem Tod ein Milliardengeschäft macht.
Die Politik ist gefordert, diesen Skandal zu beenden. Wie soll das geschehen, wenn die Frage „nicht auf dem Fußballplatz der Politik“ eingesetzt werden soll?
So entpuppt sich der Papstvertraute Paglia erneut als einer, der das Lebensrecht der ungeborenen Kinder, seit einem halben Jahrhundert die größte Herausforderung, weil emblematisch für unsere Zeit, für ein Linsengericht preisgibt. Das Interview mit Crux, einem US-Nachrichtenportal progressiven Einschlags, soll, wenn auch auf indirekte Weise, Joe Biden, dem Establishment-Vertreter und Kandidaten der politischen Linken, zu Hilfe kommen.
Die Abtreibungsfrage ist für den „Katholiken“ Biden eine offene Flanke. Er unterstützte bedingungslos die Abtreibungspolitik von Barack Obama, dessen Vizepräsident er war. Und er bekannte sich in seinem jetzigen Präsidentschaftswahlkampf ebenso bedingungslos als Abtreibungspolitiker.
Die Lebensrechtsfrage spielt in den USA in der öffentlichen Debatte eine deutlich größere Rolle als in Europa, wo es der Abtreibungslobby weitgehend gelang, das Thema zu tabuisieren. Das kann Biden schaden, da er für Katholiken damit eigentlich nicht wählbar ist. Das wissen seine Wahlkampfstrategen, das weiß die Bergoglio nahestehende, progressive Minderheit in der Amerikanischen Bischofskonferenz und das weiß auch Kurienerzbischof Paglia, ein Exponent der Gemeinschaft von Sant’Egidio.
Vor allem weiß Paglia um die politischen Präferenzen von Papst Franziskus, dem wahrscheinlich politischsten Papst auf dem Stuhl Petri, im Vergleich zu dem ein Julius II. wie ein Lokalpolitiker wirkt.
Da die Lebensrechtsfrage Biden schaden kann, soll nicht darüber gesprochen werden. Das ist Paglias Botschaft, der dies in seiner Dialektik atemberaubend zu begründen versucht: Fragen der Ethik und der Moral, so der Kurienerzbischof, „sind nicht die Sorgen einer Nation, sondern haben sich in ein globales Thema verwandelt“.
„Tutto fa brodo“, sagen die Italiener. Frei übersetzt: Jedes Mittel ist recht. Paglia macht selbst seine Schützenhilfe für Biden zu einem Argument für die Globalisierung, ein anderes großes Thema, zu dem sich Establishment und politische Linke einträchtig zusammenfinden: die Überwindung der Nationalstaaten und ihrer Souveränität durch Auflösung in einem Welteinheitsstaat.
Anstatt die Abtreibungsfrage im Wahlkampf zu thematisieren und Abtreibungsbefürworter damit zu konfrontieren – Paglia sagt es nicht, meint es aber so –, sollten „die christlichen Kirchen in den USA eine universelle Verantwortung gegenüber dem Leben empfinden“ und ein größeres Engagement für das Thema Leben „in all seinen Dimensionen“ entwickeln.
Will sagen: Verbeißt Euch doch nicht in einer Einzelfrage, wenn man das Ganze sehen muß.
Die päpstliche Strategie für ein „größeres Ganzes“
Damit wiederholt Paglia, was Papst Franziskus im September 2013, im ersten Interview seines Pontifikats zur programmatischen Linie erklärte: Es solle endlich Schluß sein damit, ständig die Lebensrechtsfrage aufzuwerfen. Es solle um andere Schwerpunkte wie modernen Menschenhandel, strukturelle Ungerechtigkeit, eine „Wirtschaft, die tötet“, gehen, das sei wichtiger. Paglia spricht im Crux-Interview von „einer Perspektive der Weltbioethik, die alle wichtigen Themen umfaßt, die das Leben, den Einzelnen und die menschliche Familie berühren“. Will heißen: Das Thema Abtreibung gehört zwar zu dieser Weltbioethik, sei aber nicht das herausragende Thema.
Paglia wurde 2016 von Papst Franziskus zum Vorsitzenden der Päpstlichen Akademie für das Leben ernannt mit dem Auftrag, diese dem Lebensrecht der ungeborenen Kinder verpflichtete Einrichtung auf Kurs zu bringen. Was Paglia radikal und erfolgreich umsetzte.
Hinter der Haltung Paglias, die in Wirklichkeit die Haltung von Papst Franziskus ist – unter Benedikt XVI. war Paglia imstande das genaue Gegenteil zu sagen –, steht eine strategische Überlegung von tatsächlich „globaler Perspektive“. Es ist, als würde man sagen: Hören wir Katholiken endlich auf, über die Abtreibung zu reden. Das Thema ist für die politische Linke (Liberale inklusive, die gesellschaftspolitisch in der Regel links denken) eine „heilige Kuh“. Durch unser Beharren auf einem Ende der Abtreibung entfremden wir uns die politische Linke, indem wir eine derzeit nicht überwindbare Hürde errichten, die eine Zusammenarbeit verhindert. Diese Zusammenarbeit, diese Allianz, wir können auch sagen, den alten Traum von der Einheit von Sozialismus und Christentum, sollen wir aber anstreben „für eine bessere Welt“.
Diese strategischen Überlegungen von globaler Dimension führen zu Aussagen wie der von Kurienerzbischof Paglia, der davor „warnt“, die Themen Abtreibung und Lebensrecht „für politische Zwecke zu instrumentalisieren“. Es wäre „sehr schädlich“, so der vatikanische „Lebensrechtsbeauftragte“, würde das Thema der Bioethik „in den Dienst ideologischer Strategien gestellt“.
Das sind Worte, die für die unschuldigen, getöteten Kinder Hohn und Spott sind, denn die einzigen, die das Thema „instrumentalisieren“, sind jene, die das Lebensrecht in Frage stellen; jene, die seit einem halben Jahrhundert Massenhinrichtungen exekutieren, ermöglichen und dulden. Wirklich „schädlich“, ja tödlich, sind Abtreibung und Euthanasie. Mit Sicherheit nicht das, was Lebensschützer tun, um auf dieses Unrecht aufmerksam zu machen.
Paglia sagt in seiner Stellungnahme nichts anderes, als daß die Lebensrechtsfrage für ein „größeres Ganzes“ fallengelassen werden sollte. Was aber soll dieses größere Ziel sein? Paglia definiert es so:
„Heute sind wir alle aufgerufen, ein neues Bündnis zu entdecken, das über die Politik hinausgeht, nämlich, daß alle Gläubigen und alle Männer und Frauen guten Willens sich verpflichten, das ganze Leben aller Völker zu retten, die in diesem gemeinsamen Zuhause leben.“
Kein Kommentar.
Bild: MiL
Ich unterstütze gedanklich Mr. Trump – es fehlen mir die Worte – Herr Paglia zeigt mir – wie andere auch – in welchen Zustand die sog. „Verantwortlichen“ unsere Kirche – die Kirche Gottes – gebracht haben