Von Roberto de Mattei*
Unter den entschiedenen Gegner der vatikanischen Ostpolitik ist an eine Gestalt von bemerkenswerter kultureller und moralischer Größe zu erinnern: an Pater Alessio Ulisse Floridi (1920–1986), auch als Pater Alexis Ulysses Floridi bekannt.
Brüsk vor die Tür gesetzt
Bereits in jungen Jahren trat der junge Italiener in die Gesellschaft Jesu ein. Er studierte am Päpstlichen Collegium Russicum in Rom, wo er die russische Sprache perfekt erlernte und 1949 im byzantinischen-slawischen Ritus zum Priester geweiht wurde. Sein Wunsch war es, im Untergrundapostolat in Rußland tätig zu werden, wie es andere seiner Mitbrüder taten. Die Oberen bestimmten für ihn aber den Eintritt in die Redaktion der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica, die das Aushängeschild des Ordens war. Pater Floridi wurde zum Sowjetologen par excellence der Zeitschrift, der er Artikel lieferte, deren Quellen aus erster Hand stammten, indem er Tageszeitungen, Zeitschriften und Dokumente auswertete, die direkt aus der Sowjetunion stammten. Seine sachkundigen Artikel, die reich an Fußnoten und Anmerkungen waren, wurden wegen ihrer Seriosität sogar von den Kommunisten gelesen und geschätzt, sowohl in Italien als auch im Ausland.
Die Wahl von Johannes XXIII. und die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils bedeuteten eine Wende im Leben der Autoren der Civiltà Cattolica. Die Jesuitenzeitschrift schrieb im Nachruf auf Pater Floridi vom 20. Dezember 1986, daß er die Civiltà Cattolica verließ, weil ihm das Leben als Autor „zu statisch und seßhaft“ erschien. In Wirklichkeit, wie mir Pater Floridi persönlich sagte, war er auf schroffe Weise vor die Tür gesetzt worden, weil er sich der neuen, von den Oberen verlangten Linie nicht gebeugt hatte. Man hatte von ihm gefordert, gegenüber dem Kommunismus den Grundsatz des heiligen Franz von Sales anzuwenden: „Ein Tropfen Honig lockt mehr Fliegen als ein ganzes Faß voll Essig“. Dasselbe wurde von Pater Giovanni Caprile (1917–1993) gefordert, der im Gegensatz zu Pater Floridi sich die Empfehlung zu eigen machte und vom unerbittlichen Kritiker zum Apologeten der Freimaurerei wurde.
Aus Rom entfernt
Pater Floridi verwies hingegen auf das Gehorsamsgelübde der Jesuiten, das keineswegs bedingungslos ist, wie viele meinen, sondern vielmehr verlangt, überallhin zu gehen, wo der Papst sie hinschickt, „unter die Gläubigen und die Ungläubigen“ (Konstitutionen § 7, Randnummer 609). [„Wer durch Seine Heiligkeit bestimmt wird, irgendwo hinzugehen, soll sich selbst freigiebig anbieten, ohne für das Reisegeld zu bitten noch um irgend etwas Zeitliches bitten zu lassen; sondern Seine Heiligkeit wolle ihn so senden, wie er es für den größeren Dienst für Gott und den Apostolischen Stuhl hält, ohne bei ihm auf etwas anderes achten zu müssen“ (Monumenta SJ, Monumenta lgnatiana, Constitutiones I).] Deshalb folgte er im Gehorsam, als daraufhin von oben beschlossen wurde, ihn soweit als möglich von der Villa Malta, dem Sitz der Civiltà Cattolica in Rom, zu entfernen.
So gelangte er nach Brasilien, wo er unter den russischen Flüchtlingen wirkte, und dann in die USA, wo er eine fruchtbare Mission unter den ukrainischen Katholiken des byzantinischen Ritus entfaltete. Seine Haltung gegenüber dem neuen vatikanischen Kurs änderte er aber nicht.
Moskau und der Vatikan
Als ich Pater Floridi 1977 kennenlernte, war er ein Mann von beeindruckender Gestalt. Er war 57 Jahre alt und sein schwarzer Bart umrahmte ein offenes und joviales Gesicht. Vor allem besaß er jenen Humor, der typisch für die echten „romani de Roma“, die „Römer aus Rom“ ist, wie sich die Bewohner der Stadt Rom selbst nennen.
1976 hatte er für den Verlag La Casa di Matriona [Der 1975 gegründete Verlag veröffentlicht Schriften literarischen, religiösen, philosophischen, historischen und kunsthistorischen Inhalts über Rußland. Dort erschien der weltweit erste Bildband über die Solowezki-Inseln. Als Alexander Solschenizyn den Begriff Archipel Gulag prägte, dachte er auch an das Archipel Solowki, ursprünglich eine Mönchsinsel, wo von den Kommunisten 1920 das erste Konzentrationslager für politische Gefangene, das SLON (Lager zur Spezialverwendung), eingerichtet wurde. Das Lager, in dem Tausende Gefangene hingerichtet wurden, an Unterernährung, Erfrierung oder an Typhus starben, wurde zum Prototypen des sowjetischen Lagersystems. 1939 wurde das Lager wegen der Grenznähe zu Finnland aufgelassen, das Ende 1939 von der Sowjetunion im Winterkrieg angegriffen wurde. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR kehrten wieder orthodoxe Mönche auf die Inseln zurück.] das Buch „Moskau und der Vatikan“(Mosca e il Vaticano) veröffentlicht, das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde und noch heute ein Standardwerk über die Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem Kreml ist.
Am 28. November 1977 führte ich mit ihm für die Monatszeitschrift Cristianità ein umfangreiches Interview, das ich vollständig wiedergebe. Als ich es erneut las, wurde mir klar, daß die darin enthaltene historische Analyse helfen kann, die Ostpolitik von gestern und von heute besser zu verstehen. (Cristianità, 32, 1977, S. 3f.)
Dissidenz war breites Phänomen
Frage: Der Zuschnitt, den sie Ihrem Buch „Moskau und der Vatikan“ gegeben haben ist sehr eigen. Der Untertitel lautet: „Die sowjetischen Dissidenten und der ‚Dialog‘“. Die Entspannungspolitik zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Kreml wird vom Blickwinkel der sowjetischen Dissidenten aus beurteilt. Aus welchem Grund interessieren Sie sich für die „sowjetischen Dissidenten“?
Pater Floridi: Das ist ganz einfach: Ich habe die Sowjetunion studiert, besonders den „Homo sovieticus“, einen Menschen, dessen Natur trotz der „Unnatürlichkeit“ des Regimes, in dem er lebt, nicht anders ist als die unsere. Ich wurde mir deshalb gewußt, daß sich in dieser Welt etwas bewegte, daß sich der Beginn einer Reaktion abzeichnete.
Frage: Ist diese Reaktion auf eine kulturelle Elite beschränkt oder erstreckt sie sich auf das sowjetische Volk? Es besteht der Verdacht, daß es sich um ein nicht ausreichend verwurzeltes Phänomen halten könnte, fast eine Art von kultureller „Mode“…
Pater Floridi: Das Phänomen ist absolut nicht auf eine intellektuelle Elite beschränkt. Besonders im religiösen Bereich erstreckt sich das Dissidententum auf weite Teile der Bevölkerung. Ich denke zum Beispiel an die ukrainischen und litauischen Katholiken, an die Baptisten, an die orthodoxe Untergrundkirche, an die Anhänger von Pater Dudko oder an das, was in Polen geschieht, wo die Dissidenz sich unter den Arbeitern entwickelt und ausbreitet. Es ist jedoch hinzuzufügen, daß die Wirklichkeit des Dissidententums nicht immer und notwendigerweise mit dem Bild übereinstimmt, das man sich im Westen davon macht. Im Westen ist nur eine gewisse Dissidenz bekannt, jene der intellektuellen Kanäle. Wir kennen aber viel weniger die Wirklichkeit der religiösen Dissidenz des Volkes.
Dissidenten lehnten Ostpolitik ab
Frage: Welche Meinung haben die „Dissidenten“ zum „Dialog“ zwischen Moskau und dem Vatikan?
Pater Floridi: Eine extrem negative. Die Dissidenten haben kein Vertrauen in den Dialog, von dem sie vor allem die konkreten Folgen zu spüren bekommen. Sie sollten die Nutznießer dieser Entspannungspolitik sein und sind in Wirklichkeit deren Opfer. Lassen Sie mich aber auch sagen, daß es mir unfaßbar scheint, daß es auf katholischer Seite jemanden gibt, der auf sie den Schatten des Mißtrauens und des Verdachts lenken will. Ich beziehe mich auf den Artikel eines Schweizer Mitbruders von mir, Pater Hotz, der in der Civiltà Cattolica veröffentlicht und im übrigen von Ihrer Zeitschrift brillant widerlegt wurde. Es scheint mir paradox, daß die Dissidenten die Katholiken des Westens beschwören, dem Dialog zu mißtrauen, während ausgerechnet die Katholiken im Westen dazu aufrufen, an den Dissidenten zu zweifeln und ihnen zu mißtrauen.
Das Schweigen des Vatikans: Linie Casaroli
Frage: Welches Interesse hat der Kreml am „Dialog“?
Pater Floridi: Durch den Dialog erreicht die Sowjetunion das Schweigen des Vatikans. Dieses Schweigen schwächt die innere und äußere Opposition gegen das kommunistische Regime und trägt so dazu bei, nach innen die Positionen des Sowjetreiches zu festigen und sein internationales Expansionsstreben zu fördern. Es ist offensichtlich, daß Moskau die Unterstützung Roms sucht, um auf internationaler Ebene die eigene „Glaubwürdigkeit“ zu erhöhen. Die „Entspannung“ wird um so stärker gesucht, je mehr die inneren Spannungen zunehmen.
Frage: Welche Gründe bewegen hingegen, Ihrer Meinung nach, den Vatikan, den „Dialog“ mit dem Kreml zu suchen?
Pater Floridi: Auf dieser Seite ist die Sache komplexer. Ich würde sagen, daß man zumindest zwei strategische Linien ausmachen kann. Die erste ist diplomatischer Natur, sie sucht einen Vergleich und zielt darauf ab, einen modus vivendi zwischen dem Vatikan und dem kommunistischen Staat zu finden mit dem Ziel, den internationalen „Frieden“ und die Struktur der katholischen Kirche auf dem Gebiet des Sowjetreiches zu bewahren. Der Vatikan zieht es daher vor, die Untergrundkirche in den Katakomben, obwohl sie hinter dem Eisernen Vorhang ein heldenhaftes Apostolat geleistet hat und leistet, einfach zu übersehen, um mit der kommunistischen Führung eine neue Art von Beziehungen „unter dem Licht der Sonne“ zu schaffen. Das bedeutet zum Beispiel, daß die katholischen Bischöfe für ihre Ernennung die sowjetische Zustimmung brauchen… Diese Strategie geht von Kurienerzbischof Casaroli und seinem Dikasterium aus. [Msgr. Agostino Casaroli war seit 1967 Titularerzbischof und Sekretär des Päpstlichen Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche, und damit „Außenminister“ des Heiligen Stuhls. 1979 wurde er zum Staatssekretär des Heiligen Stuhls ernannt und zum Kardinal erhoben.] Casaroli selbst hat am 20. Januar 1972 in seiner in Mailand gehaltenen Rede „Der Heilige Stuhl und Europa“ ein ausreichend deutliches Programm skizziert.
Das Schweigen des Vatikans: Linie Willebrands
Frage: Sie sprachen noch von einer zweiten strategischen Linie…
Pater Floridi: Ja, diese könnte man die „ökumenische“ nennen. Sie geht vom Sekretariat für die Einheit der Christen aus, das von Kardinal Willebrands geleitet wird. Es handelt sich um den „ökumenischen Dialog“ zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem orthodoxen Patriarchat von Moskau. Msgr. Willebrands [Der Niederländer Johannes Willebrands war 1960 von Johannes XXIII. als Sekretär für das neu errichtete Sekretariat für die Einheit der Christen an die Römische Kurie berufen worden. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wirkte er maßgeblich an verschiedenen Dokumenten zu Ökumene, Dialog mit nicht-christlichen Religionen und Religionsfreiheit mit (Nostra Aetate, Unitatis redintegratio und Dignitatis humanae). 1969 erhob ihn Paul VI. in den Kardinalsrang und machte ihn zugleich zum Vorsitzenden des Sekretariats.] „verhandelte“ als Sekretär des Dikasteriums, im Zuge seines Moskau-Aufenthaltes (27. September bis 2. Oktober 1962) die Teilnahme orthodoxer Russen als Beobachter beim Zweiten Vatikanischen Konzil. Die russischen Vertreter waren sogar überhaupt die ersten orthodoxen Beobachter, die seit dem Tag der Konzilseröffnung (11. Oktober) in Rom anwesend waren.
Gerade in diesen Tagen befindet sich eine orthodoxe Delegation am Russicum, die offiziell im Rahmen einer Wallfahrt kommen.
In einem ANSA-Bericht heißt es, daß „die Treffen im Zuge regelmäßiger Besucheraustausche zwischen dem Heiligen Stuhl und der russisch-orthodoxen Kirche erfolgen und mit dem Besuch einer vatikanischen Delegation beim Moskauer Patriarchat zusammenfallen.“
Das Zweite Vatikanische Konzil stellte also eine historische Wende in den Beziehungen zwischen der Kirche von Rom und dem orthodoxen Patriarchat von Moskau dar, die bis dahin durch eine radikal antikatholische Haltung geprägt war.
Frage: Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Kursänderung?
Pater Floridi: Man darf nicht die enge Verbindung und direkte Abhängigkeit des Moskauer Patriarchats vom Kreml vergessen. Sicher ist, daß es ein mehr als großes Interesse des Kremls gab, jeden Versuch einer möglichen, offiziellen Verurteilung des Kommunismus durch das Konzil zu verhindern. Es fehlte nicht an Gelegenheiten, in denen die russischen Gäste deutlich zu verstehen gaben, daß das Schweigen zum Kommunismus eine conditio sine qua non für die Fortsetzung ihrer Anwesenheit in Rom war. Die orthodoxe Kirche gab ihre „Vorbehalte“ gegen das Konzil erst auf, als klar war, daß das Konzil den Kommunismus nicht verurteilen wird.
Katholische Ukrainer als „Haupthindernis“
Frage: Auf welche „Hindernisse“ trifft der Heilige Stuhl in seinem „ökumenischen Dialog“ mit dem Moskauer Patriarchat?
Pater Floridi: Ein Haupthindernis ist heute die unbequeme Existenz von sechs Millionen ukrainischen Katholiken die entschlossen sind, ihrer religiösen, historischen und kulturellen Tradition treu zu bleiben. Der Heilige Stuhl will das ukrainische Patriarchat nicht anerkennen, bzw. nur zur Hälfte, um die ukrainisch-katholische Kirche in der Heimat und im Ausland am Leben zu erhalten, weil die orthodoxe Kirche von Moskau die Beseitigung der ukrainischen Katholiken verlangt. Der Vatikan nimmt heute mehr Rücksicht auf die schismatischen Metropoliten Nikodim und Pimen als auf den katholischen Patriarchen Slipyj. [Josef Kardinal Slipyj (1892–1984) war im ukrainischen Teil Österreichs geboren worden. Nach seinem Studium in Innsbruck und Lemberg wurde er 1917 zum Priester der mit Rom unierten, ukrainischen griechisch-katholischen Kirche geweiht. 1939 machte ihn Papst Pius XII. zum Koadjutor für das Erzbistum Lemberg. Während der deutschen Besetzung stand er unter Aufsicht. 1944 wurde er Metropolit von Lemberg. Im April 1945 wurde er von den Sowjets verhaftet und nach Sibirien deportiert. Erst 1963 wurde er auf Intervention von Johannes XXIII. wegen des Zweiten Vatikanischen Konzils freigelassen. Im selben Jahr wurde Lemberg zum Großerzbistum, aber nicht zum Patriarchat erhoben, wie es für die byzantinische Tradition üblich wäre, um die Eigenständigkeit zu zeigen. Großerzbischof Slipyj persönlich wurde zum Kardinal erhoben, mußte aber in Rom im Exil bleiben, wo er 1984 starb. 1992 wurden seine sterblichen Überreste in seine inzwischen unabhängig gewordene Ukraine überführt.]
Abhängigkeit des Patriarchats vom Kreml
Frage: Warum gibt es diese enge Verbindung zwischen dem Kreml und dem Moskauer Patriarchat?
Pater Floridi: Das Patriarchat von Moskau erfüllt zwei Hauptfunktionen. Die erste, interne, ist eine Filterfunktion. Sie besteht darin, dafür zu sorgen, daß sich die Gläubigen dem kommunistischen Regime unterwerfen. Die zweite, externe, besteht darin, die Oberhäupter der anderen christlichen Kirchen davon zu überzeugen, daß der Kommunismus gar nicht so schlecht sei, wie er dargestellt wird, und seinen „Einsatz“ für den Frieden in der Welt herauszustreichen. Von Bedeutung in diesem Sinn ist die Funktion, die das Moskauer Patriarchat in jenem Weltkirchenrat spielt, der sich weigert, die friedlichen Dissidenten in der Sowjetunion zu unterstützen, während er keine Probleme hat, seine Unterstützung den „Dissidenten“ in den westlichen Staaten zukommen zu lassen, obwohl es sich nicht selten um Terroristen handelt.
Frage: Denken Sie nicht, daß der Kreml die Entwicklung seiner Beziehungen zum Vatikan ähnlich sieht?
Pater Floridi: Natürlich. In den kommunistischen Staaten, mit denen diplomatische Beziehungen hergestellt oder ein Konkordat vereinbart wird, gewähren die Regierungen ihre Zustimmung zur Ernennung von Bischöfen nur unter der Bedingung, daß diese das gesamte Sowjetgesetz akzeptieren, natürlich einschließlich jenes Teils, der die Religion betrifft. Auf diese Weise wälzt die Regierung die verhaßte Last, dafür zu sorgen, daß auch ungerechte Gesetze eingehalten werden, auf die kirchlichen Autoritäten ab. Der eifrige Priester, der heute den Katechismus lehrt, wird vor allem vom Bischof bestraft, noch vor den staatlichen Behörden.
Gläubige gehen schwierigeren, aber mutigeren Weg
Frage: Wie reagieren die Gläubigen auf diese dramatische Situation?
Pater Floridi: Die Gläubigen hinter dem Eisernen Vorhang stehen vielfach vor regelrechten Gewissensdramen. Sie lösen sie generell, indem sie den schwierigeren, aber mutigeren Weg des Widerstandes gegen die kirchliche Autorität gehen. Das ist vielleicht der interessanteste Aspekt des Phänomens: die Ausweitung der Dissidenz vom staatlichen Bereich auf den kirchlichen. Das geschieht in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Litauen. Mehr als hundert litauische Priester haben den Heiligen Vater ersucht, lieber ohne einen Bischof zu bleiben, als den Auftrag Christi zu verraten.
Frage: Halten auch Sie einen modus vivendi zwischen dem Sowjetstaat und dem Vatikan für unmöglich?
Pater Floridi: Ich befürchte, daß der Vatikan etwas vergißt, was von den Dissidenten auch bei den Audienzen für Sacharow betont wurde, nämlich, daß der Sowjetstaat die Vernichtung jeder Religion will und daher auch der katholischen Religion. Ich sehe daher nicht, welche Elemente es geben könnte, auf denen ein modus vivendi zwischen der katholischen Kirche und dem kommunistischen Atheismus errichtet werden könnte.
Einige Kirchenvertreter haben die Prioritäten aus den Augen verloren
Frage: Was halten Sie von der These, daß eine Verhärtung des Vatikans den internationalen Frieden gefährden könnte?
Pater Floridi: Uns wurde, seit ich ein Kind war, in der Katechese gelehrt, daß Gott allem voranzustellen ist, und es besser wäre, daß die Welt zugrunde ginge, als eine Sünde zu begehen, also Gott zu beleidigen. Eine Nuklearkatastrophe wäre also weniger schlimm als eine Todsünde. Dieser feste Glaube scheint bei den kirchlichen Autoritäten zurückgegangen zu sein, die darauf fixiert sind, einen Frieden um jeden Preis zu suchen. Die Rettung der Menschenleben scheint ihnen wichtiger als die Verletzung des Göttlichen Rechts. Das ist ein sehr schwerwiegendes Problem, dessen Lösung den Theologen, den Bischöfen und dem Papst zukommt. Ich gebe also die Frage an sie weiter. Diese Haltung rechtfertigt, wie ich meine, die religiöse Dissidenz, die sich die Lehre des heiligen Petrus zu eigen macht, derzufolge „Gott mehr zu gehorchen ist als den Menschen“ (Apg 5,29).
Pater Alessio Ulisse Floridi starb am 7. November 1986 in der Klinik Regina Apostolorum von Albano (Rom) nachdem es im Gefolge einer Operation zu Komplikationen gekommen war. Die Ordensfrauen der Klinik beschrieben seine Haltung in der Krankheit als sehr erbaulich. Wir rufen ihn heute als Zeugen der Anklage gegen den „Ausverkauf“ der chinesischen Kirche an das kommunistische Regime durch Papst Franziskus und Kardinalstaatssekretär Parolin an.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons/Alleanza cattolica (Screenshots)