Von Endre A. Bárdossy*
Während der letzten 50 Jahre verbreitete sich im Leben der Kirche der Gebrauch, aber auch der Mißbrauch des Wortes „Pastoral“ wie ein Lauffeuer.
Das Zweite Vaticanum wurde von Papst Johannes XXIII. als Pastoralkonzil einberufen. In der Folge haben eine Unzahl von Pastoralämtern, Pastoralassistenten, Pastoralreferenten, Pastoralblättern, Pastoraldiensten und Pastoralplanungen, Pastoralinstituten und Pastoralkonferenzen, Pastoralsoziologen und Pastoraltheologen, ja sogar eine eigens für den Bedarf des Modernismus und Progressismus erfundene Pastoralanthropologie und Pastoralpsychologie bis zur Erfindung der Pastoralkatechese ihr Wesen und Unwesen entfaltet. In diesem Prozeß wurden die schlichten Seelsorger und unsere großartigen, geistigen Väter von gestern laufend von Managern ersetzt, die mit der Hektik der Großstädte auch das Gemeinwesen der Kirche unterwandern.
Das Programm des Aggiornamento platzte als Rohrkrepierer wie ein Multi-Kulti-Feuerwerk in die Liturgie, in die Lehre und in die sogenannte „Orthopraxis“ der Befreiungstheologie. Das sind eindeutige Tatsachen.
Die Pastoralrevolution wurde nicht erst vor vier Jahren aus Argentinien importiert. Sie lodert seit geraumer Zeit, wenn auch mitunter herausragende Jesuitengestalten wie der Theologe Karl Rahner, der General Pedro Arrupe, der Kardinal Carlo Maria Martini und Papst Bergoglio die Autoren- und Führerschaft angetreten. Die Acies ordinata der Liberalen marschiert an allen Fronten, aber auch die Konservativen justieren ihre Argumente ohne Verzug für eine Entscheidungsschlacht, welche nach menschlichem Ermessen, soweit kein Wunder geschieht, voraussichtlich nur in ein Schisma münden kann. Die Fronten, Gesten und Worte werden beinahe täglich unversöhnlicher.
„Beliebig, gefällig, anbiedern: An einen Pontifex maximus erinnert der Zeitgeistpapst Franziskus immer weniger. Inzwischen fragt er sich sogar selber, ob er der Grund für eine Spaltung der Kirche sein könnte.“ (1)
Analog zur Political Corectness gibt es heute eine von langer Hand vorbereitete, bis in letzte Detail durchdachte Ecclesial Correctness, welche zusätzlich zu den richtungsweisenden Personalentscheidungen auf der Führungsebene der Bischöfe und Kardinäle vor allem sprachpolitisch bis in die letzten Fasern der Lexik und Semantik eingreift. Dem philosophisch und theologisch wenig geschulten Volk soll das Reformvokabular durch Redewendungen eingetrichtert werden. Nicht anders handelten alle revolutionären Geister früherer Zeiten: die Reformatoren aus Wittenberg, die Kommunen aus Paris, die Bolschewiken aus Leningrad oder Heideggers Generation unter dem Hakenkreuz.
Von Luthers Phraseologie angefangen bis zu Papst Bergoglios saloppen Interviews, die dem ahnungslosen Gläubigen durch oftmaliges Wiederholen einfach aufgedrängt werden, kommt es auf das Neusprech an, das sogleich von allen kirchenfernen Medien übernommen wird.
Die Neue Pastoral setzt den Primat des Gewissens über die Lehre und das Gesetz
Nach einer aufrüttelnden Studie von Guido Vignelli (2) wuchern am häufigsten im Schoße der Kirche sechs Talisman-Worte: Pastoral, Zuhören, Barmherzigkeit, Unterscheiden, Begleiten, Integrieren, die selbstverständlich keineswegs tadelnswert sind, im liberal-progressiven Kontext nehmen sie jedoch eine kritische Konzentration sowie unerhörte Akzente und Disproportionen an. Die elastischen Bedeutungen und überraschenden Wendungen sprengen die Normalverteilung der ausgewogenen, vernünftigen Rede und lösen sie aus der Gesamtheit der überlieferten Klugheit und Gerechtigkeit, aus den Grenzen des Maßvollen und Mutigen (nicht des Waghalsigen!) heraus. Von Wahrheit und Richtigkeit dispensiert, wenden sie sich den Freiheiten des autonomen Kürwillens (ὕβρις / hybris) und der ungeschminkten Unmoralität zu. Hybris bedeutet Übermut, Hochmut, Freveltat und nicht zuletzt simple Frechheit.
Sprachen die Lutheraner von „Allein die Schrift“, so lautet das Stichwort der Modernisten, daß das Heil der Welt „Allein im Dialog“ um jeden Preis und mit einem jeden dahergelaufenen Subjekt läge. Dazu brauchen wir heute nicht einmal Luthers vermeintliche Buchstabentreue zur Sola Scriptura, da die zweideutigen Wörter und die flügge gewordenen Halbwahrheiten aus Amoris Laetitia sogar in Fußnoten gut versteckt Platz finden können. Diese dürfen dann von allen Ortsbischöfen in regionale Idiolekte „inkulturiert“ und so verstanden werden, wie es halt nach der Diskretion des partikulären Gewissens und der pastoralen Unterscheidung zu einer gradualen Situationsethik paßt.
Zauberworte überfluten die zerklüftete Landschaft der Katholischen Kirche
Plinio Corrêa de Oliveira (3) publizierte inmitten des Kalten Krieges einen scharfsinnigen Essay unter dem einprägsamen Titel: Der Dialog – ein unbemerkter ideologischer Umschlagplatz (4), in dem er die vorgeschobenen Brückenköpfe an den feindlichen Demarkationslinien „Talisman-Worte“ nannte, die dazu bestimmt waren, den Endsieg des Klassenkampfes über die Katholische Kirche zu bereiten. Diesen Zauberformeln der allgegenwärtigen Propaganda wurde eine beinahe magische Kraft zugeschrieben in der Hoffnung, daß sie so unbemerkt ins Bewußtsein der wehrlosen Leute eingeschleust werden können. Die Manipulation läßt sich dadurch charakterisieren, daß einer legitimen Restbedeutung auf gewaltsame, künstliche Art und Weise, um eine fixe Achse herum, in den Medien und in der Umgangssprache mit verblüffendem Wagemut reichlich variierte Zweit- und Drittdeutungen in zweifelhaften Kontexten unterlegt werden.
Es muß nochmals unterstrichen werden, daß solche Sinnverschiebungen immer einen tadellosen Kern aufweisen. Im schillernden Kontext sind sie für die Manipulanten jedoch ein talismanartiger Glücksbringer, womit jene einen erwünschten, präzise einkalkulierten, psychologischen Effekt ins Gespräch einbringen können, und zwar indem sie in der Seele der Betroffenen nach und nach, schlußendlich aber treffsicher eine tiefe Transformation erreichen.
Die Demaskierung der Talisman-Worte in der psychologischen Kriegsführung diente in jener Zeit nicht nur der Enthüllung des wahren Wesens der sozialistischen Propaganda, gleichwohl ob sie historisch von links außen oder von rechts außen kam. Schon Papst Paul VI. sprach vom „Rauch Satans, der durch irgendeinen Riß in den Tempel Gottes eingedrungen sei.“
Heute, am Anfang des dritten Millenniums, sehen wir nicht allein im sozialdemokratisch getarnten Marxismus den Hauptfeind des Katholizismus, sondern im überall einsickernden Liberalismus. Dietrich von Hildebrand (1889–1977) sprach in prophetischer Weise von einer zukünftigen Kirchenkrise, der größten, die es bisher gab, weil die neuen Häretiker nicht nur einzelne Wahrheiten ablehnen, sondern den Anspruch der Wahrheit überhaupt entthronen. (5)
Die Prozesse der Unterwanderung marschieren freilich nicht nur kontinuierlich, sondern vor allem systematisch, wenn auch oft unbemerkt, voran, um die Eskalation der Konflikte, den keimenden Widerstand und das Veto der Glaubenskongregation zu vermeiden. Der Dialog wird zunehmend auf Kosten der Wahrheit und Richtigkeit als dialektisches Spiel betrieben. Im Zuge dieser Dekantierung und Verwässerung des Überlieferten wird nichts verurteilt, nichts ausgeschlossen. Alles wird umarmt. Der um sich greifende Relativismus wird somit ein konsequenter Brückenbau vom Gottesglauben zur Gott- und Gesetzlosigkeit.
Inkulturation war immer schon das Talisman-Wort der Jesuiten in der Zweiten und Dritten Welt
Von Japan über Lateinamerika bis zum letzten Urwaldwinkel in Schwarzafrika wird von den Jesuiten das Talisman-Wort „Inkulturation“ strapaziert. Definitionsgemäß bedeutet diese die Einverleibung der unchristlichen Begriffs‑, Vorstellungs- und Normenwelt einer um eine, zwei oder mehrere Stufen primitiveren indigenen Bevölkerung, die im Extremfall sogar auch noch in einer Stammesverfassung leben mag, in das innerste Sanktuarium der christlichen Werte, Tugenden und Mysterien.
Dagegen wagen wir nach Thomas Stearns Eliot (6) einen kühnen Gedanken: Daß nämlich (um ein beliebiges Land namhaft zu machen) ein christliches Japan sehr wohl denkbar und wünschenswert wäre, aber ein japanisches Christentum nicht!
Denn letzteres wäre ein Multi-Kulti-Mischmasch des Aberglaubens und des subjektiven Kürwillens, was der souveränen, gebieterischen Gestaltungskraft des Christentums widerspricht. Somit gibt es auch kein italienisches, anglikanisches oder orthodoxes Christentum, sondern nur eines – nämlich das Kat-holische. Καθολικός‚ (katholikos) bedeutet nicht zufällig bereits im Neuen Testament „das Allgemeine, Universale“, was sich vom ὅλον (holon), dem unversehrten Ganzen ableitet, und sowohl formal wie material auf das Ganze bezogen ist. Daher ist hier Eliot’s Definition angebracht:
Das, was wir die Kultur eines Volkes nennen, und das, was wir seine Religion nennen, sind zwei verschiedene Aspekte derselben Sache, und zwar ist die Kultur ihrem eigentlichen Wesen nach die – um es einmal so auszudrücken – fleischgewordene Religion eines Volkes. (7)
Anders gesagt, nicht das Christentum soll japanisch bearbeitet und modelliert, sondern Japan soll christlich befruchtet werden. Um es noch einmal unmißverständlich abzugrenzen: die Kulturgüter, Sitten und Bräuche (lat. mores) sind das Fleisch und Blut der Religion – und nicht umgekehrt. Die Religion ist kein „Kulturgut“ unter den Gütern, schillernder vielleicht als Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Technik, Bodenkultur oder der Weinbau, sondern ihr Quellgrund. Dementsprechend kann jede, vor allem aber die wahre Religion mehr oder weniger eine gewisse Hochkultur schaffen, wie das im europäischen Altertum und im Hochmittelalter vor sich gegangen war. Dabei ist das „Europa der Vaterländer“ nach dem prophetischen Wort des Generals Charles de Gaulle weder auf das Abendland noch auf das Morgenland zu beschränken, sondern erstreckt sich selbstverständlich bis zum Ural hin.
Unmöglich ist jedoch der Umkehrprozeß, nämlich aus Versatzstücken einer abgetakelten Niederkultur eine neue Dekoration für die Bühne des Christentums herbeizuzaubern. Geradezu die von Jesuiten organisierten Reduktionen d. h. geschlossenen Siedlungen in der Zeit von 1609–1767 für Indios waren in Südamerika eine katastrophale Sonderwelt des Kollektivismus auf einem kulturellen Gefälle, so ähnlich wie die Migrantenghettos heute in Europa, wo vor allem die Minderwertigkeitskomplexe blühen und die Ressentiments genährt werden. Die Subkulturen werden entweder auf natürlichem Wege (durch Vermittlung der Schule, Arbeit, in Mischehen, vor allem aber durch die Religion) assimiliert oder auf Grund der eigenen Defizienz ökonomisch degradiert und in irgendeiner Form sozial benachteiligt. Man kann nicht gleichzeitig die zivilisatorischen Standards verlangen, ohne das Regelwerk dieser Lebensform zu verinnerlichen.
Eine befriedigende Synthese auf halbem Wege ist nirgendwo gelungen. Merkwürdigerweise werden die exotischsten halbe-halbe Kulturlösungen nicht von den Eingeborenen gewünscht, sondern von dem missionarischen, aus Europa stammenden Leitpersonal sehnsüchtig imaginiert und bewußt geplant. Da stoßen wir in medias res des jesuitischen (aber heutzutage auch im liberalen Raum weit verbreiteten) Irrtums bezüglich einer organisierten, pluralistischen Inkulturation der „Vielfalt“ um ihrer selbst willen, ohne ziselierte Abwägung von Wahrheit und Richtigkeit. Für das Entstehen einer genuinen Kultur ist – nach Eliot – die erste Vorbedingung, daß sie sich stets durch eine organische, gewachsene, nicht gemachte Struktur distinguieren muß. Historisch trat diese immer wieder in Verbindung mit einer Religion auf und konnte sich nur so weiterentwickeln. Eliot zitiert nicht ohne feinste britische Ironie eine Kultusministerin, die sich zu den folgenden intellektuellen Feststellungen verstieg:
„So sind wir denn – wie Miss Wilkinson ihre Rede eröffnete, – zusammengekommen: Schaffende aus dem Bildungswesen, der wissenschaftlichen Forschung und den verschiedenen Kulturgebieten. Wir sind die Vertreter derer, die lehren, derer, die Entdeckungen machen, derer, die schriftstellerisch tätig sind, derer, die ihre Inspirationen in Musik oder bildender Kunst ausdrücken… Ja, wir haben Kultur. Mancher wird einwenden, daß der Künstler, der Musiker, der Schriftsteller, daß alle geistig und künstlerisch Schaffenden weder national noch international organisiert werden können. Der Künstler, heißt es, schafft zu seiner eigenen Befriedigung. Das mag vor dem Krieg ein stichhaltiges Argument gewesen sein. Aber diejenigen unter uns, die sich an das Ringen im Fernen Osten und in Europa erinnern, das dem offenen Krieg voranging, wissen, was es für den Kampf gegen den Faschismus bedeutete, daß es Schriftsteller und Künstler gab, die fest entschlossen waren, ihre internationalen Beziehungen über die von Tag zu Tag dichter verriegelten Grenzen hinweg aufrechtzuerhalten.“
Dazu ist freilich billigerweise zu sagen: Wenn es darum geht, Unsinn über Kultur zu reden, so geben die Politiker der verschiedenen Farben einander nichts nach. Wäre durch die Wahl von 1945 die Gegenpartei zur Macht gelangt – wir hätten unter sonst gleichen Umständen auch die im wesentlichen gleichen feierlichen Erklärungen zu hören bekommen. Politik treiben und bei allen Gelegenheiten streng auf genauen Wortsinn achten, das ist unvereinbar. (8)
Billigkeitshalber, aber auch der strikten Wahrheit zuliebe ist nicht nur die bombastische Einfältigkeit dieser ministerialen Festrede herauszustreichen. Es liegt uns vielmehr daran zu betonen, daß keine Hochkultur jemals ohne Grenzen existierte. Kultur ist vielmehr eine Monade, die weder völlig offen, durchsichtig und zugänglich, noch hinter Schloß und Riegel existieren kann. Grenzen des Anstandes, aber auch der Geographie sind geradezu konstituierend für ihre Entstehung und Erhaltung. Kultur ist nicht jedermanns Sache, mit Verlaub müßte man vielmehr in sie eingeweiht werden: Es gibt Aufnahmebedingungen für die heranwachsenden Postulanten, und Ausschließungsgründe für Banausen und Barbaren.
Nach der geltenden politischen Korrektheit scheint es heute schick „maß- und grenzenlos“ zu sein. Die Superlative sind jedoch abträglich für das Gedeihen der Kultur. Die eigene Offenheit zu beschwören gehört zu jedem Rednerpult der progressiven Kräfte. Offene Binnengrenzen und unbewachte Außengrenzen zu haben, sind tief verwurzelte, liberale Glaubenssätze der europäischen Unitarier und der angloamerikanischen Demokraten. Die Massen aus der Zweiten und Dritten Welt verkehren daher über die ehemaligen Grenzen hinweg mit Anspruch auf Quartier und Verpflegung, um leistungsfrei, ja gratis ausgehalten zu werden. Ja, sie lieben nicht die primitive Romantik auf einem verlorenen Eiland in der Südsee, im brasilianischen Urwald oder die Einsamkeit auf der Saualm in Kärnten, sondern strömen in die größten Metropolen wie Buenos Aires, Berlin, London, Paris oder das kleinere Wien, wo sie vielerorts samt der autochthonen Bevölkerung auch die Kultur verdrängen, allein schon dank ihrer fünffach höheren Fertilitätsquote.
Je mehr die irregeleiteten Massen aus Lateinamerikas Elendsvierteln, Muselmanen aus der Armut des Nahen und Fernen Ostens oder Afrikaner aus dem Dschungel von den Benefizien der Zivilisation profitiert haben, umso schneller verlieren sie wie von selbst ihren Aberglauben mit unchristlichen Religionsresten. In dieses Vakuum paßte wohl die Leitkultur der Christlichkeit hinein, davon ist aber weit und breit nichts zu merken, da wir selber immer weniger christlich sind. Einer Islamisierung könnte nur ein wieder erstarktes, qualitativ hochwertiges Christentum entgegenwirken. Ein liberaler Ethik-Ersatz, Staatsbürgerschaftskunde oder ein verschärftes Strafgesetzbuch wird wenig ausrichten können. Die gegenwärtig verlaufende Anbiederung des Katholizismus in Liturgie, Lehre und Moral an die Kriterien der Lutheraner und der liberalen Aufklärer scheint aber ein Prozeß der schwarzen Inkulturation zu sein, in dessen Verlauf auch die mondänsten Unwerte in das Christentum einverleibt werden. Pechschwarz sind sie gerade deshalb, weil das laufende Aggiornamento (Anpassung) an die Kultur des Todes, unter Zuhilfenahme von Abortus und Euthanasie, Prostitution und Sodomie, mit einer Unkultur der Familie, und vollends mit der Auslöschung jeglicher Kultur verbunden ist.
Wie war die interkulturelle Missionierung früher?
Die aus Thessaloniki stammenden Gebrüder Kyrill und Method waren orthodoxe Gelehrten und Priester aus dem Oströmischen Reich des IX. Jahrhunderts. Sie dachten nicht im geringsten an ein „Aggiornamento“ (Aktualisierung und Fortbildung) des Christentums nach indigenen slawischen Mustern, sondern setzten die Aktualisierung und Fortbildung der primitiven Slawen nach den höher stehenden („richtigeren“) byzantinischen Normen durch. Wenn auch die historisch schwerwiegende Unterlassung der lateinischen Schrift und die Schaffung eines „inkulturierten“ kyrillischen Mischmasch-Alphabets eher ein strategischer Fehler war, da es eine unüberwindbare, kulturelle Mauer errichtete, nicht nur zwischen den lateinischen Slawen (Polen-Slowaken, Tschechen, Kroaten-Slowenen) und den orthodoxen Slawen im endlos scheinenden Rußland bis zum Stillen Ozean sowie in den Kleinstaaten Serbien, Montenegro und Bulgarien, sondern zogen in Europas Herzmitte eine Demarkationslinie, deren Spuren auf dem Balkan immer noch ein rotes Brandzeichen sind.
„Nur“ aus Buchstaben wurde die Jahrhunderte währende Trennung gemauert, und doch tiefer greifend in der slawischen Seele als so manche Grabenbrüche der Erdkruste, allein durch die Tatsache, daß einer des anderen heilige Bücher nicht entziffern konnte, so als wären sie spiegelverkehrt Analphabeten. Daran ist zu ermessen, daß die Abspaltung der griechisch-russischen Orthodoxie weniger an der Lehre und Moral, sondern viel mehr an den Barrieren der Buchstaben erstarrte, die im Verlauf vieler Jahrhunderte die Kommunikation unmöglich machten. Die fern von uns lebenden Orthodoxen stehen ja dem Katholizismus am nächsten, nicht die Protestanten von nebenan, die eigentlich in einem katholischen Land Fremde sind, weil sie in der Diaspora als praktisch völlig säkularisierte Einzelgänger das Gruppenbewußtsein und das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft der Kirche verloren haben. Aber machen wir uns nichts vor, auch Katholiken droht künftig das selbe Schicksal der geistigen Heimatlosigkeit in der säkularen Gesellschaft.
Die Verbindung des Christentums mit den Werten der Zivilisation war das richtige „Strategem“ (στρατήγημα), d. h. die „Kriegslist“ der siegreichen Feldherren, der katholischen Könige und Kaiser. Der richtige „Pastorale Plan“ der Missionare des lateinischen Westens war nach dem Motto „Ora et labora“ definiert. Das Kreuz, der Pflug und das lateinische Alphabet der Benediktiner waren das süße Joch und das wirksame Zaumzeug, unter dem die germanischen Horden und die letzten ungarischen Nomaden im X. Jahrhundert domestiziert werden mußten.
Im Trubel des Weltkrieges (1914–1918) erwies der Feldherr Atatürk (im übrigen ein Freimaurer) der Zivilisierung seiner Heimat eine bleibende, analoge Wohltat mit der Einführung der lateinischen Schrift. Sein Säkularisierungsprogramm aller osmanischen Traditionen erzeugte jedoch in der modernen Türkei eine riesige geistige Leere, welche nunmehr von Erdogans Renaissance wieder aufgefüllt wird.
Barmherzigkeit und die Kunst des Zuhörens dürfen weder auf die trennende noch auf die definierende Unterscheidung verzichten. Komplexe Situationen verlangen zwar Diskretion und Respekt, aber keinen Verzicht auf den strategischen Plan, der allein die Wahrheit zum Sieg verhelfen kann. Die Verletzten und Umgefallenen im geistigen und moralischen Krieg müssen zwar verarztet werden, aber die vordersten Schlachtlinien verlaufen um die Reconquista der objektiven Werte und um die Wahrung der unversehrten Positionen. Es geht also um die großräumige Erhaltung und Erweiterung der katholischen Identität und nicht nur um ein futuristisches Detailgeschäft für eine gute Nachbarschaft.
Organisierte Zweideutigkeiten im laufenden Pontifikat
Amoris Laetitia schockierte die traditionell Gesinnten zutiefst, wohingegen die Anderen quittieren sie mit unverhohlener Schadensfreude – denn mit ihr wurde die überlieferte sakramentale Ordnung der Ehe, der Beichte und der Eucharistie „fortschrittlich“ unterminiert.
Nicht weniger letal ist das Gaudium (9) des regierenden Papstes, wenn er uns im § 222 seiner ersten Exhortation sein persönliches Erfolgsrezept lüftet, wonach die Zeit mehr wert sei als der Raum… Überdies bestünde – nach seinen vagen Worten, – eine der Sünden auf dem Felde der „sozialpolitischen“ Tätigkeiten darin, dem Raum den Prozessen (Zeitabläufen) gegenüber Vorrang zu gewähren.
Gegen den Purzelbaum dieser eigenartigen Logik wäre mit dem gesunden Menschenverstand entschieden festzuhalten, daß ein Zeitablauf nichts wert ist, währenddessen die eigenen Positionen langsam, aber sicher dahinsiechen und das vom Feind besetzte Terrain nicht wiedererobert wird. Der Zeit Vorrang einzuräumen, und sich auf Mañana zu verlassen, bedeutet vielmehr eine Fahrlässigkeit. Jede Reconquista braucht festen Boden unter den Füßen und feste Ziele und Definitionen für die Aktion.
Mahlen die Mühlen der Zeit wirklich beständig zu unseren Gunsten, auch wenn unterdessen unsere Räume kleinweis abbröckeln? Das war nicht die Strategie der ersten heldenhaften und heiligen Jesuiten zur Zeit der wütenden Reformation! Auf spontane „Zeitabläufe“ und selbstgärende „Prozesse“ ist kein Verlaß! Was nur wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch – das ist der krumme Fuß des Jesuitischen Probabilismus in der Situationsethik. Die Zeichen der Zeit zu deuteln ist eine müßige Lotterie. Sie beflügeln nur die Phantasie der Horoskopleser. Was zählt, das sind die zielbewußt gemachten Werke, die täglich getan und verteidigt werden müssen. Jede kleine, aber gewonnene Schlacht, jede mühsame Kleinarbeit zählt. Nihil novi sub sole (Ecclesiastes 1,9) – nach der Weisheit des Alten Testaments gibt es nichts Neues unter der Sonne, wenn es um das „Eingemachte“ geht.
Keine sentimentale „Nächstenliebe“ kann von der überlieferten, richtigen Lehre einen Rückzieher ergattern oder einen faulen Kompromiß mit dem Feind erzwingen. Die Kirche ist kein „Feldlazarett“ der Hingefallenen und Abgefallenen, sondern Geburtsstätte, Volks‑, Mittel- und Hochschule des Guten, Gesunden und Gerechten, das für die nächste Generation restlos zu vermitteln ist. Wie man nicht „partiell verheiratet“ sein kann, verlangt auch die Gemeinschaft mit der Kirche eine tätige Hingabe und die restlose Übergabe dessen, was wir empfangen haben. Alles andere ist Defätismus, wenn nicht geradezu Verrat. Wie es auf dem Grab des unvergeßlichen Erzbischofs Marcel Lefebvre (1905–1991) in Stein gemeißelt ist:
Tradidi quod et accepi
Ich habe weitergegeben,
was ich empfangen habe.
(1 Kor 15, 3)
*Endre A. Bárdossy war o. Universitätsprofessor in San Salvador de Jujuy, Argentinien, für Landwirtschaftliche Betriebswirtschaftslehre und Leiter eines Seminario de Aplicación Interdisciplinaria im Departamento de Ciencias Socio-Económicas an der Universidad Nacional de Cuyo, Mendoza. Dieser Aufsatz ist Teil III einer Trilogie, deren ersten beiden Teile ebenfalls auf dieser Seite veröffentlicht wurden: Unterscheidung der Geister in der Überflußgesellschaft von heute (Teil I) und Wahrheit und Richtigkeit (Teil II).
Bilder: Austen Ivereigh (Twitter) (Screenshots)
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(1) Matthias Matussek: Papst Allerlei.
(2) Guido Vignelli: Una rivoluzione pastorale. Sei parole talismaniche nel dibattito sinodale sulla famiglia, 2016, (Eine pastorale Revolution. Sechs Talisman-Worte aus der synodalen Debatte über die Familie). Der volle Text (italienisch) kann kostenlos abgeladen werden; cf. auch.
(3) Plinio Corrêa de Oliveira (1908–1995), Professor der Zivilisationsgeschichte an der Universität von Sao Paulo, ist der Gründer einer internationalen, katholischen Organisation mit Hauptsitz in Brasilien, die in Südamerika, den Vereinigten Staaten, Europa und Australien 15 Landesgesellschaften zum „Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum“ (TFP) in einem Dachverband zusammenfaßt.
(4) Plinio Corrêa de Oliveira: Baldeaçà£o ideologica inadvertida e diálogo (Portugiesisch); 1965.
(5) Bischof Andreas Laun: Der Rauch Satans ist in die Liturgie eingedrungen, am 17.XI.2011
(6) T.S. Eliot (1888–1965), „der Europäer aus St. Louis“ (Missouri), war der jüngste Sproß von sieben Kindern einer angesehenen Fabrikantenfamilie. In Harvard studierte er Sprachen und Philosophie. Nach einem Jahr an der Sorbonne, absolvierte er ausgedehnte Reisen in der Alten Welt. Die klassischen antiken Texte las er im Original, ebenso Dante, auch Deutsch erlernte er in der Marburger Sommeruniversität (1914). Im August brach der Weltkrieg aus. Fluchtartig kehrte er von Deutschland nach England, in die Heimat seiner im XVII. Jahrhundert nach Amerika ausgewanderten Vorfahren, zurück, um definitiv dort zu bleiben. Den Fortschrittsglauben des XIX. Jahrhunderts – Liberalismus und Marxismus, – durchschaute er als gescheitert. Angesichts des Krieges vertiefte sich sein Weltbild durch und durch christlich, wie es in der High Church eines John Henry Newmans (1801–1890), des späteren Kardinals (1879) Tradition war. Denn die Welt, Platons Höhlenmythus ähnlich, ist nicht die wahre – sie gleicht eher einer Unreal City, einer unwirklichen Stadt. Sein erster Gedichtband erschien 1917 in London. Mit seinem Versepos The Waste Land (1922) glückte ihm der Durchbruch zu Berühmtheit. Es wurde mit James Joyces Ulysses auf gleiche Ebene gehoben. Es folgten die Hollow Men (1925). Eliot nahm die britische Staatsbürgerschaft an und konvertierte zum Anglo-Katholizismus (1927). Murder in the Cathedral (1935) ist von seinen sieben Dramen das bekannteste. Dem erfolgreichen Lyriker, Dramatiker, Essayisten und Verleger wurde der Literatur-Nobelpreis verliehen (1948).
(7) T. S. Eliot: Notes Towards the Definition of Culture. London 1948. Dt. Zum Begriff der Kultur. Rowohlt 1961. S. 30.
(8) Ibidem p. 13.
(9) Evangelii Gaudium, 2013. Vom lat. gaudium / Freude, Genuß, Spaß und Vergnügen kommt das umgangssprachliche „Gaudi“. Amoris Laetitia, 2016. Lat. laetitia bedeutet üppigen Wuchs und üppige Freude. Sie gehen vom Liebesgott Amor aus, der in der heidnischen Mythologie auch Cupido (Begierde) heißt.
Der Autor vergisst, daß die lateinische Kirche selber das Ergebnis von Inkulturation war. Die Apostel haben die ersten Messopfer nicht in Latein gefeiert.
Schon die von Christus und den Aposteln benutzte Septuaginta war eine Übertragung des Alten Testamentes in die griechische Sprache und das griechische Denken. Der griechisch gebildete Paulus führte das fort. Und die lateinische Kirche ist sprachlich, aber auch innerlich durch das römische juristische Denken geprägt. Man bedenke dabei, daß Tertullian und Augustinus, aber auch Minucius Felix Anwälte waren.
Die vom Autor so geliebte lateinische Schrift konnte nicht die slawische Sprache wiedergeben. Auch wir Deutschen haben vier extra Buchstaben und bräuchten noch mindestens zwei weitere („ch“ und „sch“). Es ist die Stärke der Christenheit, anderen Völkern in ihrer Welt zu begegnen. Einer der erfolgreichsten Missionare, Wulfila, war erfolgreich durch die Bibelübersetzung ins Gotische, die mit einer eigenen Schrift verbunden war.
Sind sich eigentlich alle traditionellen Katholiken bewusst, wie viel von unserer Tradition germanisch ist? Von der Gebetshaltung angefangen? Die „germanischen Horden“ mussten von niemandem „domestiziert“ werden.
Inkulturation bedeutet nicht, die Normen der missionierten Völker zu übernehmen. Sie bedeutet, die religiöse Erfahrung der Völker aufzunehmen und in die Glaubenspraxis einzubeziehen.
Hätte man die Kirche in Germanien besser inkulturiert, hätte es die Reformation nicht gegeben.
Der letzte Satz ist falsch. Martin Luther hat aus persönlichen Nöten [Zweikampf mit Todesfolge; Lebensgefahr durch die Justiz] sich eine neue Lehre gestrickt. Die Reformation ist eine Revolution.