von Giuseppe Nardi
(Rom) Am späten Donnerstag abend rief mich noch ein befreundeter Lebensrechtler an. Er wollte wissen, ob ich schon „das neue Papst-Interview“ gelesen hätte. Nein, hatte ich nicht. Ich hatte den Abend in der Oper verbracht und mir einen entspannenden musikalischen Genuß gegönnt. Die Freude darüber sollte schnell verfliegen. Mein Freund war außer sich.
Die renommierte Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica hatte ein ausführliches Interview mit Papst Franziskus veröffentlicht. Erste Details davon waren bekannt geworden. Der Papst nimmt „zu allen heißen Eisen“ Stellung, lautete eine Schlagzeile. Nein, die Wirklichkeit ist, daß Papst Franziskus zu den wirklich heißen Eisen schweigt. Und das auch noch gut findet.
Papst Franziskus: „Man muß nicht endlos davon sprechen“ – und deshalb redet er gleich gar nicht davon
Der Papst sagte im Interview:
„Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit der Verhütungsmethoden. Das geht nicht. Ich habe nicht viel über diese Sachen gesprochen. Das wurde mir vorgeworfen. Aber wenn man davon spricht, muss man den Kontext beachten. Man kennt ja übrigens die Ansichten der Kirche, und ich bin ein Sohn der Kirche. Aber man muss nicht endlos davon sprechen.“
„Das ist furchtbar“, stammelte der Lebensrechtler ins Telefon. „Es ist einfach nur furchtbar“. „Dieser Papst“, habe sich schon bisher um das Thema Lebensrecht herumgedrückt. Das ist tatsächlich schon vielen aufgefallen. Jüngst erst übte Bischof Thomas Tobin von Rhode Island in den USA Kritik daran. Auch ich fragte mich, wie genau das zu deuten sei. Viele Katholiken, auch mein Freund, – ich gebe zu, auch ich – hofften, daß er doch bald klare Worte für den Schutz ungeborener Kinder finden würde. Jedes halbherzige Papstwort und jede halbherzige Papstgeste wurde in manchen Lebensrechtskreisen ausgelegt, als würde Papst Franziskus dieselbe Linie vertreten wie Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Das ist sehr verständlich. Tut er das aber wirklich? Die Zweifel blieben.
„Nun wissen wir es: Er hat ganz bewußt geschwiegen und er wird auch weiterhin schweigen“, so mein enttäuschter Freund.
„Nicht endlos darüber reden“? – Wer redet denn überhaupt noch darüber?
„‘Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen‘, sagt der Papst. Aber die meisten Bischöfe und Priester schweigen doch. Oder sie tun es höchstens halbherzig als Pflichtübung und natürlich noch vor uns Lebensschützern, weil wir das hören wollen.“
Und weiter: „Erst gestern las ich, daß der Papst für den ‚tatkräftigen Einsatz für den Schutz des Lebens in Deutschland‘ danke. Und daß der Papst zum Marsch für das Leben 2013 am Samstag in Berlin eine Grußbotschaft geschrieben hat.“
Mein Freund las mir vor, was darin steht: „Gerne verbindet sich Seine Heiligkeit mit den Teilnehmern am Marsch für das Leben im Gebet und bittet Gott, alle Bemühungen zur Förderung des uneingeschränkten Schutzes des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen mit seinem Segen zu begleiten.“
Standardbotschaft für Marsch für das Leben in Berlin – Wirkliche Botschaft des Papstes lautet aber anders
Eine Weile hörte ich nichts am anderen Ende der Leitung. Dann sagte mein Freund: „Das paßt doch alles nicht zusammen. Diese sogenannte Grußbotschaft des Papstes, stammt doch gar nicht vom Papst. Oder etwa nicht?“ Ich konnte nicht widersprechen. Die Formulierung ist typisch für irgendein Büro des Staatssekretariats. Eine persönliche Botschaft des Papstes ist es keine.
„Was der Papst wirklich denkt, das hat er in diesem Interview gesagt“, so mein Freund. „Das ist seine wirkliche Botschaft an uns, die wir am Samstag in Berlin gegen das Unrecht der Abtreibung demonstrieren und für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder. Das ist seine wirkliche Botschaft an die Welt. Und diese Botschaft ist eine Katastrophe. Sie sagt: Hört doch auf über Abtreibung zu reden, man kann sich ja ‚nicht nur‘ damit befassen und man muß ja ‚nicht endlos‘ darüber reden.“
„Das ist doch heller Wahnsinn!? Wer redet denn überhaupt noch über dieses Unrecht? Es sind doch nur mehr ganz wenige. Es ist doch zum großen Tabu unserer Zeit geworden, über das man nicht mehr redet. Und nun sagt der Papst den wenigen, die noch darüber reden, sie sollen doch endlich aufhören damit.“
Abtreibung ist himmelschreiendes Unrecht – Will Papst Franziskus das Tabu zementieren, statt es zu enttabuisieren?
„Jedes Jahr werden allein im deutschen Sprachraum mehr als 150.000 Kinder umgebracht, wahrscheinlich sogar noch wesentlich mehr. Aber das ist doch egal. ‚Man muß ja nicht immer davon reden‘. Das sagt uns der Papst. Unser Papst. Der Papst sagt, daß dieses himmelschreiende Unrecht des Kindermordes letztlich doch nicht so wichtig ist. Es gibt ‚wichtigeres‘. Die Lehre der Kirche ist ja bekannt zu Abtreibung und Homosexualität. Aber aussprechen tut sie dieser Papst nie. Warum?“
Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung: „Sehe ich das vielleicht falsch? Der Papst sagt nicht wörtlich, daß ihm der millionenfache Kindermord egal ist, aber das ist doch letztlich die Aussage. Die Kirche soll sich anderen Themen zuwenden, der Kindermord ist nicht so wichtig. Sagt er nicht das?“
Massenphänomen Abtreibung auf pastorale Frage reduzieren?
Wieder konnte ich nicht widersprechen. Ich hatte mir während des Telefongesprächs im Internet das Originalinterview angeschaut. Mein Freund hatte recht. Der Papst sagt der Weltöffentlichkeit, die Abtreibung, er spricht nie von ungeborenen Kindern und nie von deren Tötung, sei falsch, aber nicht so wichtig. Und er sagt, man dürfe nicht verurteilen, denn jede Abtreibung erfolge in einem bestimmten „Kontext“. Das Massenphänomen wird damit – ganz individualistisch – in unzählige Einzelfälle zerlegt und damit gesagt, daß man keine allgemeingültige Aussage, sprich Verurteilung aussprechen könne. Das ist die Linie, auf der sich die Bischöfe bei uns mit der Politik arrangiert haben. Man redet nicht viel über das Unrecht. Man ist natürlich gegen die Abtreibung, aber das Gesetz wird nicht angerührt. Was aber ist aus dem katholischen Grundsatz geworden: fortiter in re suaviter in modo. Entschlossen gegen die Sünde, aber milde gegen den Sünder? Löst sich alles in einem Vorrang der Pastoral auf? Nur mehr individuelle Betreuung des Sünders, aber keine Nennung mehr der Sünde?
Wenn sich schon jemand für den Lebensschutz einsetzen will, dann soll er – ohne zu verurteilen und ohne die Dinge wirklich beim Namen zu nennen, Frauen versuchen von der Abtreibung abzuhalten. Aber auch das nur in einem immer eingeschränkteren Rahmen. In unseren Städten wird die Gehsteigberatung eingeschränkt. Einrichtungen, die sich wirklich und bedingungslos für das Leben einsetzen, sind von jeder öffentlichen Finanzierung ausgeschlossen.
80jähriger Lebensschützer verurteilt: Papst Franziskus hat ihn nicht angerufen, nicht Mut gemacht, sich nicht solidarisiert
In Frankreich wurde erst vor kurzem ein über 80jähriger Lebensrechtler zu Gefängnis und Psychotherapie verurteilt, weil er abtreibungsentschlossenen Frauen ein Paar Baby-Schuhe schenkte. Der Papst rief den Lebensschützer nicht an, machte ihm nicht Mut, zeigte sich nicht solidarisch. Letztlich sagt er ihm: Selber schuld.
Wie schrieb Franziskus dem Atheisten Eugenio Scalfari erst vor wenigen Tagen? „Nur wer gegen sein Gewissen handelt, sündigt.“ Das ist kein Ringen um das Seelenheil eines Atheisten, das ist ein Persilschein. Der Papst peilt mit seinen Worten und Gesten zielstrebig – nun weiß man, daß er es ganz bewußt tut – den gesellschaftlichen Konsens an. Was im Bereich des allgemeinen Konsenses liegt, das bekräftigt auch der Papst. Damit findet er Beifall oder tut niemandem weh. Über das andere schweigt er.
Papst Franziskus bringt frommen, glaubensstarken Mann zum Weinen
Plötzlich hörte ich diesen Mann von der Sanftmut eines Kindes, aber der Standhaftigkeit eines Bären, den Freund, der so vielen Frauen geholfen hat, daß sie sich von falschen Gesetzen, die das Morden an unschuldigen Kindern erlauben, nicht zum Unrecht hinreißen ließen. Daß sie trotz allem Ja sagen konnten zu ihrem Kind und zum Leben. Wie viele Frauen sind ihm dafür dankbar. Und wie vielen Frauen hat er schon geholfen, die sich zur „einfachen“ Lösung verführen haben lassen, die ihnen verantwortungslose Politiker per Gesetz hingeworfen haben, die aber früher oder später nicht mehr damit zurechtkamen. Nun hörten ich diesen Mann, der mir in vielen entscheidenden Momenten durch seinen unerschütterlichen, kindlichen Glauben ein Vorbild war, am anderen Ende des Telefons weinen. Er weinte über den Papst. Er weinte über seinen Papst, meinen Papst.
Ich war im ersten Augenblick peinlich berührt und sagte gar nichts. Ich wußte nicht, was ich sagen hätte sollen. Und dann war mir plötzlich selbst zum Weinen zumute. Dieser Papst hat wirklich getan, was schon seit seiner Wahl in der Luft lag, was viele befürchtet haben: Er hat den Rubikon überschritten.
Sucht Papst – wie viele Bischöfe und Kirchenfunktionäre – billiges Arrangements mit Abtreibungs-Konsens?
Jede Zeit hat ihre großen Herausforderungen. Eine der größten unserer Zeit ist das himmelschreiende Unrecht des Kindermordes. Ein wahrer Holocaust des individuellen Egoismus. Ausdruck des Zeitgeistes und daher wirkliches, aber schreckliches Zeichen unserer Zeit. Die aber müßte die Kirche erkennen. Doch sie tut es nicht. Die meisten Bischöfe im deutschen Sprachraum haben sich längst mit dem dominanten Zeitgeist arrangiert. Die christdemokratischen Parteien ob CDU, ÖVP oder CVP sagen den Bischöfen, daß über die Abtreibungsgesetzgebung nicht diskutiert werde. Und die Bischöfe fügen sich. Sie wollen ja „gesellschaftsfähig“ bleiben, nicht zu sehr aus der Reihe tanzen. Das ist schon seit Jahrzehnten so bei uns. Aber bisher hatten wir Katholiken den Papst in Rom, der klare Worte fand.
Paul VI. schenkte der Kirche die prophetische Enzyklika Humanae vitae. Nicht von ungefähr haben ihm die Bischöfe des ganzen deutschen Sprachraums die Gefolgschaft verweigert. Der Applaus der Welt war ihnen wichtiger. Das war der entscheidende Bruch, der bis heute nicht rückgängig gemacht wurde.
Papst Johannes Paul II. nannte das Morden des „modernen“, selbstbestimmten, triebgelenkten und konsumorientierten Menschen beim Namen und sprach von der „Kultur des Todes“. Ihr setzte er entschlossen eine „Kultur des Lebens“ entgegen. Wie halbherzig ist ihm die Kirche bei uns darin gefolgt. Wie viele haben ihn boykottiert und gegen ihn gearbeitet. Wie oft ist sogar von katholischen SeelsorgerInnen zu hören, daß eine Frau „gut getan“ hat, ihr Kind „in dieser Situation“ zu töten? Die Engel im Himmel müssen jedes Mal vor Entsetzen aufschreien, über einen solchen Frevel.
Und Benedikt XVI., der noch am 1. Januar 2013 in seiner Botschaft zum Tag des Friedens die so kräftige Aussage machte, daß „Abtreibung und Homo-Ehe“ den Frieden zerstören.
Wann hat Papst Franziskus als Erzbischof von Buenos Aires das letzte Mal eindeutig das Lebensrecht ungeborener Kinder verteidigt?
Da setzte mein Freund wieder ein: „Und jetzt? Jetzt haben wir einen Papst in Rom, der sich mit dem Zeitgeist arrangiert. Abtreibung? Nicht schon wieder! Immer diese Abtreibung. Hört doch endlich auf. Merkt ihr denn nicht, daß wir die einzigen sind, die da etwas auszusetzen haben. Ja, es ist nicht Recht, aber es ist doch nicht so wichtig. ‚Man muß ja nicht immer davon reden‘, sagt der Papst. Wann hat er denn bisher in seinem Pontifikat wirklich klar dazu Stellung genommen? Wann hat er das als Erzbischof von Buenos Aires das letzte Mal getan?“
„Dieser Papst redet mehr als jeder andere Papst vor ihm. Er überflutet die Welt mit seinen Worten. Jeden Morgen neue ‚Perlen‘, und viele Wiederholungen. Und trotz dieser vielen Worte findet er keine Zeit, auch einmal klar und unmißverständlich gegen das größte Verbrechen unserer Zeit Stellung zu nehmen und jene kleine Schar zu stärken und zu ermutigen, die unter teils großen Opfern die ungeborenen Kinder verteidigt? Die Standardgrußworte an den Marsch für das Leben in Berlin aus irgendeinem Büro, das ist doch nur, um uns Deppen von Lebensschützern zufriedenzustellen. Aber wirklich ernst ist dem Papst nicht damit. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, daß sie in seinem Namen verschickt wurden. Er will sich mit der Welt arrangieren, wie die meisten unserer Bischöfe.“
Kulturkampf „Homo-Ehe“: Papst Franziskus hat Millionen Franzosen im Regen stehen lassen
„Und beim Thema Homosexualität, die von der Bibel als Greuel bezeichnet wird, schweigt der Papst genauso. Dabei findet zu diesem Thema der derzeit härteste Kulturkampf statt. Millionen Franzosen haben im Frühjahr gegen die Einführung der Homo-Ehe gekämpft. Der Kampf ging von aufrechten Katholiken aus. Hat sie Papst Franziskus unterstützt? Nein. Mit keinem Wort. Er hat sie im Regen stehen gelassen. Ganz allein. So handelt kein guter Hirte.“
Es folgte ein langes Schweigen, in dem mein Freund nichts sagte und ich nichts sagte. Es lag Trauer und Leid in der Luft, aber auch Zorn. Aber es herrschte nur Schweigen.
Schließlich sagte mein Freund, der über seinen Papst weint: „Ich bete seit Jahren für den Papst. Jeden Tag. Ich habe für Johannes Paul II. gebetet. Ich habe für Benedikt XVI. gebetet. Und ich bete für Papst Franziskus und werde das auch weiterhin für ihn tun. Und ich werde ihn verteidigen, in allem was er wirklich Katholisches tut. Aber ich werde in Zukunft jeden Tag auch dafür beten, daß uns der allmächtige und dreieinige Gott bald einen neuen Papst schenken möge.“
Abtreibung Symptom einer Krankheit – Kein Segen, deshalb sterben unsere Völker
Ich schwieg. Aber hatte dieser fromme Mann Unrecht? Ist der Kindermord nicht symptomatisch für unsere Zeit. Ist es nicht dieses himmelschreiende Unrecht, ist es nicht das Schreien der getöteten Kinder das zu Gott dringt, das unsere Völker des Segens beraubt. Ist es nicht deshalb, daß unsere Völker und damit unsere Kultur keine Zukunft sterben? Und sterbende Völker haben keine Zukunft. Mit allen damit zusammenhängenden Folgen.
Der Kindermord steht am Anfang von allem. Wird dieses segenzerstörende Verbrechen nicht beendet, wird sich auch sonst nichts zum Besseren wenden lassen. Wer um die geistliche Dimension des menschlichen Handelns weiß, kann das ignorieren, widersprechen kann er kaum. 50.000.000 getötete Kinder, 50.000.0000 zerschundene, schuldiggewordenen Frauen, 50.000.000 Millionen schuldig gewordene Männer, Ärzte und Helfershelfer. Das ist ein Schlachtfeld der Seelen apokalyptischen Ausmaßes. Doch den Papst kümmert es nicht wirklich. Was aber kümmert ihn dann?
„Papst Franziskus irrt: Kirche ist kein Feldlazarett, sondern ein Narrenhaus“
Nach dem emotional so aufwühlenden Telefongespräch las ich noch einmal in Ruhe, was der Papst gesagt hatte. Das Schlüsselwort des gesamten Interviews, wie auch der Vatikanist Andrea Tornielli meint, ist das Bild von der Kirche als „Feldlazarett“. Ja, aber als Feldlazarett des eigenen Schlachtfeldes. Oder wie ein Kommentator zu Torniellis Anmerkung meinte: „Nein, Papst Franziskus irrt, die Kirche ist kein Feldlazarett, sie ist vielmehr ein Narrenhaus, und er versucht die Narren nicht so bändigen, sondern zu animieren.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Una Fides