Der heilige Augustinus und die Krise der gegenwärtigen Welt

Das letzte Wort gehört nicht dem Chaos, sondern der Wahrheit


Der heilige Augustinus, Bischof und Kirchenvater
Der heilige Augustinus, Bischof und Kirchenvater

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Der brü­chi­ge Waf­fen­still­stand im Gaza­strei­fen darf kei­ne Illu­sio­nen näh­ren – weder hin­sicht­lich der Zukunft die­ses Abkom­mens noch in bezug auf die Mög­lich­keit eines bal­di­gen Frie­dens­schlus­ses zwi­schen Ruß­land und der Ukrai­ne. Zwi­schen den bei­den gegen­wär­tig andau­ern­den Kon­flik­ten besteht zudem ein grund­le­gen­der Unter­schied. Das Abkom­men von Gaza war vor allem des­halb mög­lich, weil es dort einen Sie­ger und einen Besieg­ten gab – Isra­el einer­seits, die Hamas ande­rer­seits. Zum Zwei­ten konn­te es nur durch die brei­te Zusam­men­ar­beit ara­bisch-mus­li­mi­scher Staa­ten zustan­de­kom­men, die ent­schlos­sen waren, jene Ord­nung wie­der­her­zu­stel­len, wel­che die Hamas mit dem Angriff auf Isra­el am 7. Okto­ber 2023 erschüt­tert hatte.

In der Ukrai­ne hin­ge­gen gibt es bis­lang weder einen ein­deu­ti­gen Sie­ger noch einen ein­deu­tig Unter­le­ge­nen – und erst recht fehlt es an einer brei­ten Koali­ti­on von Staa­ten, die bereit wäre, Ruß­land zu iso­lie­ren. Denn anders als die Hamas ist Ruß­land ein rie­si­ges Land mit ato­ma­rer Schlag­kraft. Chi­na, von dem Ruß­land heu­te in hohem Maße abhän­gig ist, hat jedes Inter­es­se dar­an, das Enga­ge­ment der USA in Euro­pa ein­zu­frie­ren, um so deren Kräf­te vom indo-pazi­fi­schen Raum abzu­zie­hen – mit dem Ziel, jenen töd­li­chen Schlag gegen Tai­wan zu füh­ren, auf den sich Peking seit Jah­ren vorbereitet.

Um sei­ne mili­tä­ri­sche Prä­senz im Indo-Pazi­fik aus­wei­ten zu kön­nen, möch­te US-Prä­si­dent Trump sich von der euro­päi­schen Front zurück­zie­hen, wobei er ver­kennt, daß das, was in der Ukrai­ne auf dem Spiel steht, das Schick­sal des gesam­ten Westens betrifft. Denn inner­halb des­sen, was wir „den Westen“ nen­nen, mag Euro­pa zwar in wirt­schaft­li­cher, poli­ti­scher und mili­tä­ri­scher Hin­sicht die jün­ge­re Schwe­ster der USA sein – in gei­sti­ger und kul­tu­rel­ler Hin­sicht aber ist es deren Mut­ter. Die ame­ri­ka­ni­sche Zivi­li­sa­ti­on wur­zelt tief in jenem intel­lek­tu­el­len, reli­giö­sen und mora­li­schen Erbe, das Euro­pa hin­ter­las­sen hat.

Die Ukrai­ne – das histo­ri­sche Reich von Kiew – gehört ihrer Geschich­te und ihrer heu­ti­gen poli­ti­schen Aus­rich­tung nach unzwei­fel­haft zu Euro­pa, nicht zum mos­ko­wi­ti­schen Ruß­land. Sie im Stich zu las­sen, wäre ein Akt mora­li­scher Feig­heit und poli­ti­scher Kurzsichtigkeit.

Trump läuft – in sei­nem Bestre­ben, den Ukrai­ne­kon­flikt rasch zu been­den – Gefahr, den­sel­ben Feh­ler zu bege­hen wie Putin: nicht so sehr in der Fehl­ein­schät­zung der Per­sön­lich­keit Selen­sky­js, eines Schau­spie­lers, der sein Leben zu einer Büh­ne gemacht hat, son­dern viel­mehr in der Unter­schät­zung des unbeug­sa­men Wider­stands­gei­stes des ukrai­ni­schen Vol­kes – eines Vol­kes, das ohne sich zu beu­gen den Holo­do­mor über­lebt hat, jenes von Sta­lin her­bei­ge­führ­te Hun­ger­ster­ben der Jah­re 1932–1933, dem rund vier Mil­lio­nen Men­schen zum Opfer fie­len, und das zwi­schen 1941 und 1960 den ent­schlos­sen­sten mili­tä­ri­schen Wider­stand gegen die Sowjet­macht in Ost­eu­ro­pa lei­ste­te. Ein Abkom­men, das die­sem Volk unan­nehm­ba­re Bedin­gun­gen auf­zwingt, dürf­te schwer­lich Bestand haben.

Wir ste­hen heu­te vor Kno­ten, die sich kaum noch lösen las­sen. Prä­si­dent Trump kennt gewiß weder die Schrif­ten, wel­che Joseph de Maist­re (1753–1821) und Juan Dono­so Cor­tés (1809–1853) Ruß­land gewid­met haben, noch ver­mut­lich jene des ame­ri­ka­ni­schen Histo­ri­kers Hen­ry Adams (1838–1918), der in Ruß­land eine ter­ri­to­ria­le und mensch­li­che Rea­li­tät von unge­heu­rer Dimen­si­on sah – ein Phä­no­men, das sich schwer­lich begrei­fen oder regie­ren las­se, eher eine Natur­ge­walt als ein Staat im west­li­chen Sin­ne (vgl. The Edu­ca­ti­on of Hen­ry Adams. An Auto­bio­gra­phy, Modern Libra­ry, New York 1996, S. 438f).

Ob Trumps vor­ran­gi­ges Ziel die Grö­ße Ame­ri­kas oder viel­mehr die Selbst­ver­herr­li­chung sei­nes eige­nen Ichs ist – etwa durch die Errin­gung eines längst dis­kre­di­tier­ten, ihm jedoch offen­bar bedeu­tungs­vol­len Frie­dens­no­bel­prei­ses –, bleibt unge­wiß. Den­noch ist anzu­er­ken­nen, daß der US-Prä­si­dent von einem Stab fähi­ger Bera­ter umge­ben ist, die sei­ne Fehl­kal­ku­la­tio­nen zu kor­ri­gie­ren ver­su­chen. Putin hin­ge­gen, wie alle Dik­ta­to­ren, ist in sei­nen Ent­schei­dun­gen tra­gisch iso­liert – nie­mand wagt es, ihm zu widersprechen.

Trump blickt auf Lor­bee­ren, die über sei­ne Prä­si­dent­schaft hin­aus­rei­chen; Putin weiß, daß er bis zu sei­nem Lebens­en­de herr­schen muß – will er nicht ris­kie­ren, nach sei­ner Herr­schaft selbst den Tod zu fin­den. Aus die­sem Grund scheint sich in ihm ein selbst­zer­stö­re­ri­scher Impuls zu regen. Der Prä­si­dent der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on hat sei­ne Geg­ner im In- und Aus­land ermor­den las­sen und läßt Hun­dert­tau­sen­de sei­ner eige­nen Lands­leu­te in einem der desa­strö­se­sten Feld­zü­ge der rus­si­schen Geschich­te abschlachten.

Die rus­si­sche Som­mer­of­fen­si­ve neigt sich ihrem Ende zu – und wie Mar­ta Ser­a­fi­ni in der Cor­rie­re del­la Sera vom 20. Okto­ber berich­tet, hat der rus­si­sche „Zar“ kei­nes sei­ner erklär­ten Zie­le erreicht: Pokrowsk, seit über einem Jahr in Bedräng­nis, ist nicht gefal­len; auch hat die rus­si­sche Armee nie die voll­stän­di­ge Kon­trol­le über die von Putin bean­spruch­ten Obla­ste Donezk, Luhansk, Sapo­rischschja und Cher­son erlangt. Der rus­si­sche Dik­ta­tor weiß, daß er nicht sie­gen kann – und ist doch zu allem bereit, nur um nicht zu ver­lie­ren. Sei­ne künf­ti­gen Schrit­te sind so schwer vor­her­seh­bar wie jene Trumps, der das Impro­vi­sier­te und das Über­ra­schen­de liebt.

Das Pro­blem ist: Einst waren die inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen einem Schach­spiel ver­gleich­bar – einem Duell erfah­re­ner Spie­ler, die all ihre intel­lek­tu­el­len Fähig­kei­ten ein­setz­ten. Heu­te jedoch beherr­schen ein Wirr­warr an Lei­den­schaf­ten die Büh­ne – sie sind die eigent­li­che Ursa­che der glo­ba­len Insta­bi­li­tät. Robert Kaplan spricht in die­sem Zusam­men­hang von einem „shake­speare­schen Nie­der­gang“ und meint damit jene inne­ren Dämo­nen, die die poli­ti­schen Füh­rer in einen Zustand des Wahns trei­ben (Das fra­gi­le Jahr­hun­dert. Cha­os und Macht in einer Welt dau­er­haf­ter Kri­sen, Mar­si­lio, Vene­dig 2025, S. 100). Doch fehlt es den heu­ti­gen Macht­ha­bern an jener tra­gi­schen Ein­sicht und see­li­schen Grö­ße, die Shake­speares Figu­ren auf ihrem Weg in den Unter­gang auszeichnen.

An die Stel­le des eli­sa­be­tha­ni­schen Thea­ters ist eine digi­ta­le Welt getre­ten, in der jeder – ob Macht­ha­ber, Influen­cer oder ein­fa­cher Zuschau­er – sei­ne Rol­le vor einem unsicht­ba­ren Publi­kum spielt, wäh­rend sozia­le Netz­wer­ke die Reich­wei­te unge­ord­ne­ter Lei­den­schaf­ten ver­viel­fa­chen. Wie in Shake­speares Dra­men domi­nie­ren Emo­tio­nen über die Ver­nunft – doch die inne­ren Dämo­nen eines Mac­beth oder Othel­lo zei­gen sich heu­te als sozia­le Abhän­gig­keit von Algorithmen.

Zorn, Rach­sucht, Haß und Res­sen­ti­ment sind zu den beherr­schen­den Trieb­kräf­ten einer labi­len kol­lek­ti­ven Psy­che gewor­den, die sich in der vir­tu­el­len Welt nährt – vor einem glo­ba­len Publi­kum. In die­sem Umfeld voll­zieht sich der inne­re Ver­fall einer Zivi­li­sa­ti­on, die – wie Shake­speares tra­gi­sche Gestal­ten – von ihren eige­nen Dämo­nen ver­zehrt wird. Nur dass sich der Wahn­sinn heu­te nicht mehr in der Stil­le eines Pala­stes abspielt, son­dern sich selbst insze­niert – vor dem Bild­schirm, als glo­ba­le Tra­gö­die in Echtzeit.

Die Psy­cho­lo­gie von Indi­vi­du­en und Mas­sen ent­zieht sich jeder ideo­lo­gi­schen Deu­tung: Denn die Gegen­wart wird nicht mehr von Ideen, son­dern von kol­lek­ti­ven Stim­mun­gen und einem unkon­trol­lier­ba­ren Pathos beherrscht. In der Welt der rea­len und vir­tu­el­len Lei­den­schaf­ten lösen sich sämt­li­che Ideo­lo­gien auf. Bestand hat allein die zer­stö­re­ri­sche Kraft des Kom­mu­nis­mus – neu belebt durch Chi­nas Prä­si­dent Xi Jin­ping in Peking und von Wla­di­mir Putin in Mos­kau in poli­ti­sche Pra­xis übersetzt.

Die Pro­phe­zei­ung von Fati­ma erfüllt sich – und die katho­li­sche, apo­sto­li­sche, römi­sche Kir­che bleibt mit ihren unfehl­ba­ren Wahr­hei­ten in Glau­be und Moral der letz­te feste Punkt im gegen­wär­ti­gen Cha­os. Wenn alles vom Stru­del der Gegen­wart ver­schlun­gen wird, wenn die Zeit zu einem Strom ziel­lo­ser Ereig­nis­se wird, in dem alles mög­lich und alles unvor­her­seh­bar ist, wird histo­ri­sche und theo­lo­gi­sche Refle­xi­on zur Not­wen­dig­keit. Got­tes Ein­grei­fen ist in jedem Augen­blick mög­lich – und es genügt ein ein­zi­ger Akt der Treue oder des Ver­rats durch einen Men­schen, um den Lauf der Geschich­te zu wenden.

Im 5. Jahr­hun­dert ver­riet der römi­sche Gene­ral Boni­fa­ti­us, Comes Afri­cae und Statt­hal­ter der römi­schen Pro­vinz Afri­ka (ca. 422–432 n. Chr.), sei­nen Glau­ben und das Reich, indem er sich mit den ein­fal­len­den Van­da­len ver­bün­de­te (Pro­sper von Aqui­ta­ni­en, Chro­ni­con, zum Jahr 429). Der hei­li­ge Augu­sti­nus, der ihn zum Wider­stand auf­rief, starb wäh­rend der Bela­ge­rung der Stadt Hip­po – in der Betrach­tung des Unter­gangs des Römi­schen Rei­ches, das nicht nur durch die in der Betrach­tung des Unter­gangs des Römi­schen Rei­ches, das nicht nur durch die Macht der Bar­ba­ren, son­dern auch durch den Ver­rat und das Ver­sa­gen sei­ner eige­nen Ver­tei­di­ger zer­fiel. Und doch soll­te gera­de auf den Trüm­mern die­ses Rei­ches die christ­li­che Zivi­li­sa­ti­on des Mit­tel­al­ters erstehen.

Die Theo­lo­gie der Geschich­te des hei­li­gen Augu­sti­nus – jenes Zeu­gen des Ver­falls des Impe­ri­um Roma­num – ist bis heu­te die ein­zi­ge gei­sti­ge Deu­tung, die dem Her­zen wah­re Hoff­nung zu schen­ken ver­mag. Sie offen­bart, dass inmit­ten des Zer­falls ein höhe­rer Sinn ver­bor­gen liegt, daß Got­tes Hand auch in Kata­stro­phen wirkt, um einen neu­en, tie­fe­ren Anfang vorzubereiten.

Wer, wenn nicht ein künf­ti­ger Papst Leo XIV., könn­te heu­te beru­fen sein, den dau­er­haf­ten Sinn die­ser augu­sti­ni­schen Leh­re wie­der­zu­be­le­ben? In einer Welt, in der die Geschich­te sich schein­bar nur noch als Auf­ein­an­der­fol­ge von Kri­sen, Brü­chen und Kata­stro­phen ent­fal­tet, wird es not­wen­dig, den Blick zu heben – über das Getö­se der Gegen­wart hin­aus – hin zu einer Geschichts­be­trach­tung, die nicht von Angst, son­dern von Glau­be, nicht von Resi­gna­ti­on, son­dern von Hoff­nung getra­gen ist.

Denn das letz­te Wort gehört nicht dem Cha­os, nicht dem Krieg, nicht dem Tod – son­dern der Wahr­heit, der Ord­nung und dem gött­li­chen Plan. In die­ser Gewiß­heit liegt die eigent­li­che Kraft, die der christ­li­chen Zivi­li­sa­ti­on in den dun­kel­sten Stun­den ihrer Geschich­te immer wie­der neu­es Leben ein­ge­haucht hat. Und so kann auch in der heu­ti­gen Stun­de der Prü­fung, durch Lei­den geläu­tert, ein neu­er Auf­bruch gesche­hen – aus dem Inner­sten des Men­schen, dem ein­zi­gen Ort, an dem die Geschich­te wahr­haft ent­schie­den wird.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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