
Von Roberto de Mattei*
Der Blick auf die internationale Lage in diesen letzten Augusttagen läßt sich entweder im Lichte einer Realpolitik analysieren, die sich keiner höheren Ordnung verpflichtet sieht, oder aber im Licht jener christlichen Geschichtstheologie, auf die sich Papst Leo XIV. am 23. August in seiner Ansprache vor dem International Catholic Legislators Network bezog – und dabei an die Lehren des heiligen Augustinus in De Civitate Dei (Vom Gottesstaat) erinnerte.
Die immanente Sichtweise der Politik geht auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück, der seinerseits eine Folge der protestantischen Reformation war. Dieser Friede legte den Grundsatz fest, daß es keine Autorität oder Gesetz über der „Staatsräson“ gebe. Der erste europäische Politiker, der das Konzept der Staatsräson als Maßstab für sein Regierungshandeln verwendete – wobei das Interesse des Fürsten zum höchsten Prinzip politischen Handelns erhoben wurde –, war Kardinal Richelieu (1582–1642), Premierminister unter Ludwig XIII.
Die Realpolitik, eine Version der Staatsräson des 19. Jahrhunderts, fand ihren bedeutendsten Vertreter im deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898), der eine machtpolitisch orientierte, auf Pragmatismus und Kräfteverhältnisse gestützte Politik im Interesse des Deutschen Reichs betrieb. Eine rote Linie zieht sich von Richelieu über Bismarck bis hin zu Donald Trump und Wladimir Putin.
Der Gipfel vom 15. August zwischen Trump und Putin in Alaska stellte den Höhepunkt – aber zugleich auch das Scheitern – der Realpolitik dar. Ein Höhepunkt, insofern das Bild des roten Teppichs, auf dem sich der amerikanische Präsident und der russische Staatsführer begegneten, der Welt eine klare Botschaft vermittelte: Nationale Interessen stehen über allem, und nur die Stärksten entscheiden über das Schicksal der Welt (vgl. Artikel). Ein Scheitern jedoch, weil das einzige Ergebnis des Treffens Putins spektakuläre Rückkehr auf die internationale Bühne war, während der anschließende Gipfel Trumps mit europäischen Spitzenpolitikern am 18. August im Oval Office des Weißen Hauses zu keinem greifbaren Ergebnis führte. Trump drängt auf ein rasches Ende des Ukrainekriegs, da seine Priorität darin liegt, strategische Ressourcen freizumachen, um sich auf den eigentlichen Gegner zu konzentrieren: Xi Jinpings China, das er als seinen wahren Konkurrenten in wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Hinsicht betrachtet. Der Indo-Pazifik ist, mehr noch als Europa, das vorrangige geopolitische Einsatzgebiet amerikanischer Außenpolitik im 21. Jahrhundert.
Putin wiederum möchte Trump glauben machen, er strebe ein Kriegsende an – doch das Gegenteil ist der Fall. Am 15. August in Anchorage erklärte der Kremlchef vor der Presse erneut, daß Friedensverhandlungen nur unter der Voraussetzung möglich seien, daß die „primären Ursachen“ des Krieges beseitigt würden – was für ihn die vollständige Abschaffung der Ukraine als unabhängiger Staat bedeutet. Putin bezeichnete als Eckpfeiler dieses Projekts die „Entnazifizierung“ und „Russifizierung“ der Ukraine. „Entnazifizierung“ meint die Beseitigung der gegenwärtigen politischen Führung sowie die Demobilisierung des ukrainischen Militärs; „Russifizierung“ bedeutet die Rückkehr zur russischen Sprache und zur Religion des Moskauer Patriarchats – mit dem Ziel, die Grundlagen der ukrainischen nationalen Identität vollständig auszulöschen. Putin geht es nicht um den Donbass, sondern um die ganze Ukraine, die seiner Meinung nach seit tausend Jahren zu Rußland gehört. Die Ukrainer ihrerseits kämpfen nicht für ein Stück Land, sondern für ihre Zukunft als freies und unabhängiges Volk.
Trumps Worte an Selenskyj – „You don’t have the cards right now“ („Du hast gerade keine guten Karten“) – bringen seine Überzeugung zum Ausdruck, das Problem allein mit der Logik der Machtverhältnisse lösen zu können. Diese Haltung erinnert an die bekannte Aussage des Thukydides: „Die Starken tun, was sie können; die Schwachen leiden, was sie müssen“, wie sie in jenem Abschnitt des Peloponnesischen Krieges erscheint, in dem athenische Gesandte die Einwohner der Insel Melos zur Kapitulation bewegen wollen – mit dem Argument, daß internationale Beziehungen nicht durch Gerechtigkeit, sondern durch Macht geregelt würden. Doch die Geschichte kennt auch andere Gesetze als das des Stärkeren. Ein Beispiel hierfür ist der heldenhafte Widerstand des finnischen Generals Gustav Mannerheim (1867–1951) gegen die Sowjetunion im Winterkrieg (1939–1940) und im Fortsetzungskrieg (1941–1944).
Im übrigen war es gerade die Staatsräson, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat. Zur Verhinderung weiterer Kriege wurde zunächst der Völkerbund gegründet, später, 1945, die Vereinten Nationen – beide Initiativen endeten im Desaster. Im Jahr 2024 veröffentlichte die UNO 1.100 Berichte, ein Anstieg von 20 Prozent gegenüber 1990 – doch wie Generalsekretär António Guterres selbst einräumt, liest sie niemand. „Die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen“, schreibt Giulio Meotti, „war noch nie so am Boden: beschuldigt der Komplizenschaft mit der Hamas im Gaza-Krieg vom 7. Oktober 2023, auf ukrainischer Seite praktisch nicht existent, gelähmt durch bürokratische Sklerose und Skandale“ (Il Foglio, 23. August 2025).
Ein solches Scheitern ist unvermeidlich, wenn politisches Handeln sich weder auf das Naturrecht bezieht noch die Kirche als höchste Instanz des Friedens in der Welt anerkennt. In einem solchen Kontext ist der Appell, die „Macht des Rechts“ dem „Recht des Stärkeren“ entgegenzusetzen, nicht nur illusorisch, sondern heuchlerisch. Denn welches Recht können die europäischen Staaten geltend machen, die täglich Millionen Unschuldiger durch Abtreibungsgesetze töten und das Naturrecht verletzen, indem sie juristischen und sozialen Schutz jeder Form moralischer Abirrung gewähren? Die Wahrheit ist: Das Recht des Stärkeren wird unterschiedlich interpretiert – durch Trump, durch Putin, durch Xi Jinping, aber auch durch die Europäische Union, die Inbegriff der „Diktatur des Relativismus“ ist.
In seiner Ansprache an die Abgeordneten vom 21. Juni zitierte Papst Leo XIV. jenes „unverzichtbare Bezugssystem“, das er im Naturrecht erkennt – ein Recht, „nicht von Menschenhand geschrieben, aber als universell gültig und zu allen Zeiten verbindlich anerkannt, das in der Natur selbst seine glaubwürdigste und überzeugendste Form findet“. Bereits in der Antike, so der Papst weiter, sei Cicero ein maßgeblicher Interpret dieses Rechts gewesen, der schrieb: „Das Naturrecht ist die rechte Vernunft, die der Natur entspricht, universell, beständig und ewig. Mit ihren Geboten ruft sie zur Pflicht, mit ihren Verboten hält sie vom Bösen ab“ (De re publica, III, 22).
Die christliche Geschichtstheologie beruht nicht nur auf der Existenz einer natürlichen, sondern auch einer übernatürlichen Ordnung, die allen, die das natürliche und göttliche Gesetz achten, geistige und sittliche Kraft verleiht. Die Krise des Westens entspringt dem Verlust dieser Geschichtsauffassung – und dem Verlust jenes kämpferischen Geistes, der aus ihr hervorgeht. Die Vorboten der russischen Invasion in der Ukraine sind bereits in der Annexion der Krim 2014 zu erkennen. Damals schloß Putin angesichts der westlichen Untätigkeit, daß auch weiteren expansionistischen Vorstößen keine ernsthafte Reaktion folgen würde. Die schmachvolle Aufgabe Kabuls im August 2021 bestätigte ihn in dieser Überzeugung. Ein völlig anderes Selbstverständnis herrschte, als im Oktober 1854 europäische Armeen Rußland im Krimkrieg entgegentraten: In der Ebene von Balaklawa galoppierte die britische Leichte Brigade frontal gegen die russische Artillerie, und ein kleines schottisches Highlander-Regiment vermochte mit einer dünnen Feuerlinie einen russischen Kavallerieangriff aufzuhalten, der die Schlacht hätte entscheiden können (vgl. Artikel).
Diese Beispiele stammen aus der natürlichen Ordnung, doch müssen wir uns heute bewußt machen, daß nur eine übernatürliche Kraft die Verteidiger des Westens noch zu beleben vermag.
Diese Kraft kann ausschließlich aus der katholischen Kirche hervorgehen – und die Kirche, so verkündete vor achtzig Jahren Papst Pius XII., hat ihren einzigartigen und universalen Mittelpunkt in Rom:
„die Ewige Stadt, die universale Stadt, die Stadt Caput Mundi, die Urbs schlechthin, die Stadt, deren Bürger alle Menschen sind, die Stadt, Sitz des Stellvertreters Christi, zu der sich die Blicke der ganzen katholischen Welt richten“ (Ansprache vom 24. Dezember 1945).
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Danke für die Analyse, sie zeigt mir an, was ich geopolitisch derzeit nicht so sehe. Tatsächlich staune ich immer neu, wie ein in anderen Bereichen so scharfer Analytiker wie Prof. de Mattei in geopolitischen Fragen, welche die Interessen eines bestimmten Westens betreffen, zu solchen Schlüssen gelangt, zu denen ich nicht gelange.
Der grundsätzliche Aspekt der übernatürlichen Ordnung, ohne welche es keine natürliche Ordnung geben kann, ist dabei vollkommen richtig. Die konkrete Ausleuchtung aktueller Fragen folgt allerdings konsequent bestimmten US-amerikanischen Interessen. Warum ist dem aber so?
De Mattei sieht und schreibt es auch, daß die EU-Eliten ebenso wie die US-amerikanischen eine verheerende Politik betreiben, dennoch wiederholt er deren Narrative, sobald es um Fragen bestimmter Interessen geht. Das will nicht zusammenpassen. Traurig wird es, wenn er – um diese Narrative wiederholen zu können – große Teile der Realität ausblenden muss. Eine verkürzte Darstellung hilft niemandem. Auch helfen keine aufgeblasenen Feindbilder.
Konkret zur Ukraine: Wer immer, auf beiden Seiten, nicht zur Kenntnis nehemn will, dass die Ukraine ein historisch, kulturell, religiös und neuerdings auch sprachlich geteiltes Land ist, will keine gerechte Lösung. De Mattei hat bisher in keiner seiner Analysen auch nur ansatzweise diese Zweiteilung angesprochen. Zur Schwarzweißmalerei fällt mir an erster Stelle die Frage ein, welchen Gesetzen denn dann die US-Politik im Ersten Weltkrieg folgte und zum Kriegseintritt führte?
Trump mag eine schillernde Figur sein, und wir könnten noch Probleme mit ihm bekommen, aber man muss ihm zugestehen, dass er zumindest ehrlich und für jeden (guten Willens) sichtbar macht, was die US-Außenpolitik der vergangenen 180 Jahre charakterisierte. Nur geschah dies bisher verschleiert, geschönt, behübscht. Man könnte auch sagen: Trump ist ehrlicher.
Ich möchte Herrn de Mattei auf ein paar Kleinigkeiten aufmerksam machen. Putin ist getauft, er küßt Ikonen, damit ist er auf keinen Fall ein Satanist. Diverse Gründe – Weihe – Papst Johannes Paul – haben mitgeholfen, daß die SU zusammenbrach. Rußland hat sich vom Kommunismus bekehrt. Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst, die Streitkräfte der Russischen Konföderation bekamen eine eigene große Kirche und das große, wertvolle Mandylion soll Putin gestiftet haben. Als die Reliquien des hl. Nikolaus von Bari in Rußland in vielen Städten zur Verehrung gezeigt wurden, bildeten sich kilometerlange Schlangen bei jeden Wetter.
Warum gibt es die NATO immer noch? Weil der >Tiefe Staat< schon immer vor allem Deutschland und Rußland auseinander halten will. Den Gegensatz der Interessen zeigen diese beiden Reden von Putin im Reichstag vor dem Bundestag am 25.9.2001 und die von George Friedman am 4.2.2015.
https://www.youtube.com/watch?v=FO_OWqUuh9E
https://www.youtube.com/warch?v=vln_ApfoFgw.
Meine Feinde waren jahrzehntelang das Sowjetregime und der Sowjetsoldat. jetzt sind es die Bundesregierung, die EU. die NATO, die UNO usw.
Tja, schon über die Auswirkungen von Niccolò Machiavelli sagte man seinerzeit „Politik im schlimmsten Kaufmanns-Stil“. Warum das heute zwar auf Putin und Trump zutreffen, für Merz, Selenski, Macron, Starmer, von der Leyen oder Carney, etc nicht gelten sollte, verstehe ich nicht. Gott hatte seinem Volk Richter gegeben, dann Könige, jetzt regieren uns die im WEF organisierten Kaufleute.