
Gigantische Aufrüstungspläne in der Bundesrepublik Deutschland und in der EU sorgen für ungläubiges Staunen und heftige Debatten, zumal in der Bundesrepublik ein offensichtlicher Verfassungsbruch stattfindet, um durch eine unglaubliche Trickserei hintenrum die entsprechenden Beschlüsse, samt Grundgesetzänderungen, von einem längst aufgelösten alten Bundestag absegnen zu lassen, obwohl der neue Bundestag bereits gewählt ist und sich zu konstituieren hätte. Den meisten ist dabei gar nicht bewußt, daß es sich bei der Notstandsbestimmung, auf die man sich dabei beruft, um eine Sondermaßnahme handelt, die den anderen europäischen Demokratien fremd ist. Welche „Notsituation“ zudem gegeben sein sollte außer der aus der Retorte irgendwelcher Parteizentralen und interessengeleiteter Zirkel, da es einen regulär gewählten neuen Bundestag gibt, das kann offensichtlich jenseits der eiskalten Machtfrage niemand plausibel erklären. Das Bundesverfassungsgericht wird nun unter Beweis stellen müssen, tatsächlich die unabhängige dritte Gewalt im Staat zu sein, welche die Rechtsordnung und den Rechtsstaat gegen den Machtmißbrauch wirksam zu verteidigen weiß. In der Corona-Zeit versagte es diesbezüglich eklatant. Das International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church unter der Leitung von Stefano Fontana legte grundsätzliche Überlegungen zur plötzlichen Idee eines neuen Wettrüstens vor:
Si vis pacem para pacem
Zu den zahlreichen aktuellen Sorgen über die Situation in der Ukraine, die anhaltenden internationalen Spannungen und die Hypothese der sogenannten und nicht näher spezifizierten „Aufrüstung Europas“ schlägt unsere Beobachtungsstelle vier einfache Beobachtungen vor.
Verstehen, was passiert ist
Um voreingenommene, reduzierende oder instrumentelle Beurteilungen zu vermeiden, muß das gesamte Bild der Angelegenheit berücksichtigt werden. Einige Verantwortlichkeiten für die Geschehnisse auf beiden Seiten wurden aufgezeigt, aber viele andere sind entweder nicht ans Licht gekommen oder wurden nicht berücksichtigt. Tatsachen dieses Ausmaßes lassen sich nicht synchron erklären, d. h. auf der Grundlage dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht, sondern diachron, d. h. durch das Bemühen, ein komplexes Bild der Ereignisse zu rekonstruieren und das Verhalten der zahlreichen Akteure in Erinnerung zu rufen. Da der Krieg auch mit den Kommunikationsmitteln geführt wird, ist Vorsicht geboten, wenn es darum geht, die Schuldigen zu benennen. Es ist klüger, ein artikuliertes Bild der Verantwortung zu skizzieren und zu versuchen, gegensätzliche Vorverurteilungen zu überwinden. Es gibt keinen Sachverhalt, der es verdient, gegenüber anderen verabsolutiert zu werden. Es geht nicht darum, das Aufzeigen von Schuldigen zu vermeiden, sondern vielmehr darum, zu vermeiden, den EINEN, absoluten Schuldigen aufzuzeigen und, sobald er identifiziert und bestraft ist, das Gewissen zu entlasten.
Das Bündnissystem
Die internationale Politik muß das System der Bündnisse klug steuern. Der Beitritt eines Landes zu einem Militärbündnis wie der NATO oder zu einem wirtschaftspolitischen Bündnis wie der EU ist mit vielfältigen Konsequenzen verbunden, insbesondere dann, wenn diese Bündnisse selbst ein Umdenken erfordern. In Zeiten von Spannungen und unklaren Perspektiven ist es ratsam, keine Schritte zu unternehmen, die die Beziehungen in diesem Bereich in einer Weise verschlechtern, damit sich niemand bedroht fühlt. Auch die Frage der „Grenzen“ sollte mit Bedacht angegangen werden, wobei man realistisch aus den Erfahrungen der Vergangenheit in diesem Bereich, insbesondere in Osteuropa, lernen sollte, und zwar sowohl im Hinblick auf die Bedürfnisse der Völker als auch auf die der Staaten. In jedem Fall ist es nicht gut, einem Land, was auch immer es sein mag, mehr aufzubürden, als es für seine Integrität in diesem Moment ertragen kann.
Rüstungspolitik
Der Rüstungswettlauf hat oft andere Gründe als die vermeintliche Bedrohung durch einen Feind und ist ein Vorbote immer zerstörerischerer Zusammenstöße. Man rüstet auf, um andere Krisen wirtschaftlicher Art zu lösen oder um in der eigenen Gesellschaft vorhandene Spannungen auf das Schlachtfeld zu verlagern, um in den Besitz von Kriegsbeute anderer Art zu gelangen oder um unter dem Vorwand einer Notsituation politische Arrangements am Leben zu erhalten, die sich im Niedergang befinden. Aufrüstungsmaßnahmen garantieren nicht immer und automatisch die eigene Sicherheit, vor allem wenn sie andere bedrohen, die sich bedroht fühlen. Sicherheit kann auch auf andere Weise gewährleistet werden. Wir lehnen die Schaffung einer „gemeinsamen Verteidigung“ der EU ab, die die in letzter Zeit begangenen Fehler wiederholen und zu einer Stärkung der EU selbst bis hin zu einem Superstaat führen würde, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem sie stattdessen kritisch überdacht werden sollte.
Der Weg des Grauens
Der Gedanke, sein Glück auf die Aufrüstung zu gründen, bedeutet, den Weg des Bösen einzuschlagen. Ohne die Ausübung eines vernünftigen Rechts auf Verteidigung in Abrede zu stellen, sind Waffen keine Produkte wie jedes andere, sie stehen nicht im Dienst des Menschen: Sie dienen dazu, zu töten, zu verstümmeln und zu zerstören. Ihr Einsatz erzeugt Schrecken, die das Leben der dafür verantwortlichen Generationen überdauern und eine Kette des Hasses schüren, die sich im Laufe der Zeit selbst nährt. Im Grunde genommen stellen Waffen eine Verdinglichung des Bösen dar. Es entspricht der menschlichen Logik, die industrielle Chance zu ergreifen, die sich uns derzeit bietet, um eine sehr ernste Krise abzuwenden, aber „Verflucht ist der Mensch, der auf den Menschen vertraut“.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: vanthuanobservatory.com