
Von Stefano Fontana*
Zahlreiche Interpretationen des Pontifikats von Franziskus überlagern sich in diesen Tagen mit Hoffnungen und Prognosen für die Zeit nach dem Konklave. In diesen Überlegungen, die verschiedene Kriterien und Aspekte des Papsttums aufgreifen, fällt eine gewisse Abwesenheit auf: die der Theologie.
Unter den vielen Elementen, die zur Qualifizierung eines Pontifikats beitragen, muß auch die theologische Linie, die es verkörpert, in Betracht gezogen werden, und zwar in bezug auf die theologische Linie, die in der Kirche inzwischen vorherrschend geworden ist. Es wäre etwas grundsätzlich anderes, wenn das nächste Konklave die theologische Linie dieser zwölf Jahre bestätigen würde, als wenn sich daraus eine korrigierende Linie ergeben würde.
Über die Theologie von Franziskus ist viel geschrieben worden. Synthetisch betrachtet, ohne auf die spezifische Analyse ihrer „Meister“ und die von ihm selbst erklärten Bezugspunkte einzugehen, kann man jedoch sagen, daß dieser Papst die wichtigsten Instanzen des nachkonziliaren theologischen Progressismus zur Reife gebracht hat, vor allem in der Praxis, und ohne sich allzu sehr auf das Konzil zu berufen.
In vielen Fragen hat Franziskus keine Antworten gegeben, sondern Zweifel aufgeworfen und Probleme erzeugt. Er warf selbst jenen Starrheit vor, die immer noch beharren, sich an den Papst wenden zu müssen, um im Glauben gestärkt zu werden. Stattdessen plädierte er für eine Unruhe des Glaubens, für Unzufriedenheit und Offenheit für Veränderungen, indem man sich vom Geist leiten lassen soll, wie er oft sagte und schrieb. Auf die Dubia [Zweifel] der Kardinäle antwortete er nicht, da er sie für unangebracht hielt, weil an eine objektive und statische Sicht der Kirche gebunden. All dies ist nicht neu: Karl Rahner hatte diese Bedingung bereits dargelegt: „Die natürliche Offenbarung Gottes besteht eigentlich in der Existenz Gottes als Frage (nicht als Antwort)“, „Die Erfahrung der Transzendenz wird gemacht, indem man Fragen stellt, indem man einen endlichen Horizont des Fragens aufstellt“.
Bei der Unterzeichnung des Abu-Dhabi-Dokuments über die menschliche Brüderlichkeit am 4. Februar 2019 erklärte Franziskus, daß der Pluralismus der Religionen von Gott gewollt sei. Auch das ist nichts Neues. Diese Position wurde schon lange von Theologen vorbereitet. Um uns auf einen von ihnen zu beschränken, erinnern wir an das, was Claude Geffré 2001 in seinem Buch „Glauben und interpretieren“ schrieb: „Wir müssen die Gesamtheit der Texte der Heiligen Schrift sowie das Zeugnis der christlichen Tradition von unserer neuen historischen Situation eines offensichtlich unüberwindbaren religiösen Pluralismus aus neu interpretieren“. Mit diesen Aussagen sind wir noch weiter als in anderen Büchern von Jacques Dupuis wie: „Jesus Christus begegnet den Religionen“ und „Theologie des religiösen Pluralismus“. Außerdem hat sogar Rahner gesagt, daß Gottes Mitteilung an die Menschheit vorreligiös ist und daß man deshalb ein (anonymer) Christ ist, egal welche Religion man wählt.
Franziskus hat den Katechismus in bezug auf die Todesstrafe neu geschrieben. Als Grund wurde angegeben, daß sie von der heutigen Sensibilität nicht mehr akzeptiert würde. Geffré sagt, man solle die Situation des religiösen Pluralismus zur Kenntnis nehmen, um die kirchliche Lehre über die nichtchristlichen Religionen zu ändern; Franziskus sagt, man solle die heutigen Empfindlichkeiten in bezug auf die Todesstrafe zur Kenntnis nehmen, um die kirchliche Lehre darüber zu revidieren. Der Weg ist derselbe: Man geht von der bestehenden historischen Tatsachenlage aus und formuliert im Lichte dieser die Lehre neu. Auf diese Weise hat Franziskus auch einige extreme Schlußfolgerungen der modernen theologischen Hermeneutik übernommen, die durch Rudolf Bultmann, Edward Schillebeeckx und Claude Geffré (sowie viele andere) das Wissen immer nur als Interpretation betrachtet und dem existentiellen Kontext den Wert eines theologischen Ortes zuweist, der die Kommunikation Gottes zum Ausdruck bringt.
In bezug auf die „anonymen Christen“ stellt man fest, daß Franziskus sich immer an alle und nicht bevorzugt an die Katholiken gewandt hat, in der Vorstellung, daß sich die Kommunikation Gottes in der menschlichen Geschichte des Volkes und insbesondere in den Armen vollzieht. Die Kirche müsse daher lernen und nicht lehren, denn Gott sei bereits in der Welt am Werk, wie Harvey Fox 1965 in seinem berühmten Buch „The Secular City“ schrieb. Auch die Enzyklika Fratelli tutti unterstreicht diese historische und existentielle Vision der menschlichen Brüderlichkeit, die jener, die mit dem Opfer Christi verbunden ist, vorausgeht und sie untermauert. Wenn Franziskus sich in seinen Ansprachen an die Volksbewegungen wandte, gab er ihnen keine Kriterien für die Bewertung ihres Wesens und ihrer Arbeit vor, sondern überließ sie ihrer üblichen Praxis. Er fordert sie immer lediglich auf, vorwärts zu gehen.
Die Idee einer „hinausgehenden“ Kirche faßt den gesamten nachkonziliaren progressiven theologischen Weg zusammen. Sie geht nicht mehr hinaus, um zu evangelisieren, sondern um evangelisiert zu werden. Auch diese Perspektive ist keineswegs neu, der Ausdruck wurde bereits von Pater Marie-Dominique Chenu, dem Erfinder der „Zeichen der Zeit“, verwendet.
Das „alle rein“ in der Kirche, das zum Hauptmotto dieses Pontifikats geworden ist, wurde bereits Anfang der 1970er Jahre von Karl Rahner in seinem Büchlein „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ gefordert. Es ist also ein Produkt der nachkonziliaren progressiven Theologie. Der Text von Laudato si‘ lehnt sich an die Lehren von Leonardo Boff an, dem einstigen Hauptvertreter der Befreiungstheologie, der sich inzwischen dem Öko-Thema zugewandt hat. Die Volkstheologie, der Franziskus nach eigenen Angaben sehr zugetan ist, ist mit der Befreiungstheologie von Gustavo Gutierrez verbunden, mit dem er die existentielle Situation als theologischen Ort teilt, ein Prinzip, das Benedikt XVI. 2007 in Aparecida kritisiert hatte.
Die Politik von Franziskus, Prozesse anzustoßen, Wege zu begünstigen und zu dialektischen Widersprüchen zu führen, geht auf Hegel zurück, von dem der Jesuit Georg Sans 2020 in La Civiltà cattolica schrieb, daß „die Theologie ihn nicht mehr zu fürchten braucht“. Die Aufhebung der Metaphysik in der Theologie, von der die vorherrschende nachkonziliare Theologie ausging, wurde in diesem Pontifikat bestätigt, unter anderem in der Konstitution Veritatis gaudium vom 29. Januar 2018 über die Universitäten und kirchlichen Fakultäten.
Mit Franziskus sind die wesentlichen Aspekte der avantgardistischen Theologie von der Kirchenleitung übernommen worden. Sollte sich das theologische Grundgerüst in Zukunft nicht ändern, können sich zwar Randaspekte ändern, aber nicht die Substanz [dieser falschen Ausrichtung].
*Stefano Fontana, Direktor des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church; zu seinen jüngsten Publikationen gehören „La nuova Chiesa di Karl Rahner“ („Die neue Kirche von Karl Rahner. Der Theologe, der die Kapitulation vor der Welt lehrte“, 2017), gemeinsam mit Erzbischof Paolo Crepaldi „Le chiavi della questione sociale“ („Die Schlüssel der sozialen Frage. Gemeinwohl und Subsidiarität: Die Geschichte eines Mißverständnisses“, 2019), „La filosofia cristiana“ („Die christliche Philosophie. Eine Gesamtschau auf die Bereiche des Denkens“, 2021); alle erschienen im Verlag Fede & Cultura, Verona.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ