
Von Pater Paolo M. Siano*
Nachdem ich die gnostischen Elemente in verschiedenen Schriften des russischen Politikwissenschaftlers Alexander Dugin aufgezeigt habe, halte ich es für wichtig, unser Wissen über das esoterische Rußland, oder besser gesagt, die Esoterik in Rußland, zu vertiefen. Um die Wurzeln von Dugins gnostischem Denken besser zu verstehen, dürfen wir nicht bei den Ideen des Italieners Julius Evola (1898–1974) oder des Franzosen René Guénon (1886–1951), zweier westlicher Esoteriker des 20. Jahrhunderts, stehenbleiben, sondern müssen weiter zurückgehen und in Rußland selbst suchen.
Es ist interessant, festzustellen, daß Prof. Dugin, der voller Eifer und Begeisterung für das heilige Rußland ist (ein imperialistischer, kriegstreiberischer, antiwestlicher und apokalyptischer Eifer), in seinem Denken dennoch Elemente der im korrupten Westen geschmiedeten gnostischen Esoterik aufnimmt. Ist das nicht ein Widerspruch? Ja, der Widerspruch, oder vielmehr die coniunctio oppositorum, ein wesentliches Element der gnostischen Esoterik.
Einleitung: Russische Esoterik vor Dugin
Wie bei uns im Westen existiert auch in der heiligen Mutter Rußland ein jahrhundertealtes und vielfältiges esoterisches und gnostisches Milieu. 1997 veröffentlichte der Verlag Cornell University Press (Ithaca und London) das Buch „The Occult in Russian and Soviet Culture“ („Das Okkulte in der russischen und sowjetischen Kultur“, 468 Seiten), herausgegeben von Bernice Glatzer-Rosenthal (1938–2024), einer jüdischen Wissenschaftlerin und Professorin für Geschichte an der Fordham University (Jesuitenuniversität in New York).
In der Einleitung betont Prof. Glatzer-Rosenthal die beträchtliche Präsenz des Okkulten im 19. und 20. Jahrhundert sowohl im vorrevolutionären Rußland als auch in der sowjetischen Kultur: „Das Okkulte war ein bemerkenswerter Bestandteil der vorrevolutionären russischen und der sowjetischen Kultur. Okkulte Lehren fanden bei Künstlern, Schriftstellern und politischen Aktivisten Anklang. […]. Frühe russische Psychologen untersuchten hypnotische Suggestion und Gedankenübertragung, Themen, die damals mit dem Okkulten in Verbindung gebracht wurden. Okkulte Ideen lagen der politischen Ideologie der extremen Rechten zugrunde und beeinflußten die linken Doktrinen des mystischen Anarchismus und des Gotterbauertums“ (S. 1).

In bezug auf die Verwendung okkulter oder esoterischer Ideen, Symbole und Techniken durch den Bolschewismus stellt die Autorin fest: „Die Bolschewiki adaptierten okkulte Ideen, Symbole und Techniken für die politische Propaganda. Okkulte und quasi-okkulte Ideen nährten den frühen sowjetischen Utopismus, durchdrangen Literatur und Kunst und trugen zum Leninkult bei. Zu Stalins Zeiten wurden die unterschwelligen Kommunikationstechniken, die von den Symbolisten und anderen entwickelt worden waren, systematisiert und in die offizielle Ästhetik des sozialistischen Realismus integriert. […] Das okkulte Revival, das im heutigen Rußland so offensichtlich ist, ist in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung dessen, das vor einem Jahrhundert stattfand; dieselben Doktrinen werden wieder in Umlauf gebracht“ (S. 1f).
Mit „Okkultismus“ meint Glatzer-Rosenthal, was der Gelehrte [und Freimaurer der Nationalen Großloge von Frankreich] Antoine Faivre (1934–2021) mit „Esoterik“ meint, und Glatzer-Rosenthal zitiert auch Faivre selbst. Der Okkultismus oder die Esoterik ist demnach eine Weltanschauung („eine Kosmologie“), die gekennzeichnet ist durch: die Lehre von den Korrespondenzen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos (siehe: Magie, Alchemie, Kabbala…); den Glauben an die lebendige Natur (Magie…); die Bedeutung der Vorstellungskraft, um die Realität zu durchdringen; die innere Transmutation (Alchemie, Magie…); die Konkordanz der Religionen und Traditionen; die Übertragung-Initiation (vgl. S. 2–5). Es handelt sich dabei um Lehren oder Glaubensvorstellungen gnostischer und magischer Natur.
Der von Glatzer-Rosenthal herausgegebene Band verschiedener Autoren reicht vom Ende des 19. bis zum letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Es ist jedoch notwendig, weiter zurückzugehen.
In dem Buch „Тамплиеры пролетариата“, ital. Ausgabe: „Die Templer des Proletariats. Metaphysik des National-Bolschewismus“ (Verlag AGA, Mailand 2021), schreibt Alexander Dugin, daß Leo Trotzki (1879–1940), einer der ersten bolschewistischen Führer, einer Loge des Großorients [von Rußland] angehörte, eine Monographie über die Freimaurerei verfaßt hatte (die heute verschollen ist), und daß es Trotzki oder zumindest auch er war, der den fünfzackigen Stern zum Emblem des Bolschewismus machte, ein esoterisches Symbol, das bereits im 19. Jahrhundert in okkultistischen, freimaurerischen, rosenkreuzerischen und sozialistischen Kreisen verwendet wurde (vgl. S. 207).
Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf die russische Freimaurerei und beginnen wir mit ihren Ursprüngen im 18. Jahrhundert.
1. Die russische Freimaurerei zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert
In den Veröffentlichungen der freimaurerischen Forschungsloge Quatuor Coronati in London (Ars Quatuor Coronatorum – Transactions of the Quatuor Coronati Lodge, No. 2076 – London) finden wir eine Studie von 1922 über die Freimaurerei in Rußland. Der Autor ist der russische Freimaurer Br. Boris Telepneff1 („Freemasonry in Russia“, in AQC 35 (1922), S. 261–292). [Telepneff ist die englische Transskription, die in den genannten Publikationen aufscheint; im weiteren Text wird jedoch die deutsche Telepnew verwendet.] Zu dieser Zeit waren die russischen Freimaurer, wenn sie ihre freimaurerischen Aktivitäten friedlich fortsetzen wollten, gezwungen, um Verfolgung und Inhaftierung zu entgehen, die Sowjetunion zu verlassen.
Schauen wir uns die Studie des Freimaurers Telepneff an. Die Unterteilung in Abschnitte ist von mir.
1.1 Anglophile Freimaurerei, Großmeister Elagin und die Kabbala
Russischen Freimaurern und Gelehrten der russischen Freimaurerei zufolge war es Zar Peter der Große (1672–1725), der in England in die Freimaurer initiiert worden sei, der die Freimaurerei nach Rußland brachte. Gesichert ist, daß die ersten verläßlichen Informationen über die Präsenz der Freimaurerei in Rußland auf den 24. Januar 1731 zurückgehen: Kapitän John Philips wird von der Großloge von England (der Großloge der sogenannten „Moderns“, gegründet 1717) zum Provinzgroßmeister von Rußland ernannt. Philips‘ Nachfolger an der Spitze der pro-englischen russischen Freimaurerei wird General James Keith (1696–1758), exiliertes Mitglied einer schottischen Adelsfamilie. Keith wurde 1740/41 von der Großloge von England zum Provinzgroßmeister von Rußland ernannt (vgl. S. 261). Keith befehligte die russischen Truppen im Krieg gegen Schweden und errang viele Siege. Er wurde auch zum Gouverneur der Ukraine2 ernannt. Aufgrund des Neids einiger russischer Generäle und Höflinge verläßt Keith 1747 Rußland und tritt in den Dienst des preußischen Königs (vgl. S. 262).

Die ersten Freimaurerlogen in Rußland bestanden größtenteils aus englischen oder deutschen Mitgliedern. Es scheint, daß es 1750 nur zwei Logen in Rußland gab: eine in St. Petersburg (eine Stadt, die von 1914 bis 1924 „Petrograd“ heißt, so auch in Telepneffs Text) ist die „Loge des Schweigens“ und die andere in Riga ist die „Loge des Nordsterns“ (vgl. S. 262). Im Jahr 1756 breitete sich die Freimaurerei in die russische High Society aus. Graf Roman Illarionowitsch Woronzow („ein prominenter Staatsmann“) war der Stuhlmeister der Loge von St. Petersburg, und ihre Mitglieder waren meist junge Offiziere aus den besten russischen Familien. Wahrscheinlich war es zu dieser Zeit, daß der Senator des Russischen Reiches Elagin (eigentlich Jelagin) der oben genannten Petersburger Loge beitrat. Wie wir noch sehen werden, spielte Elagin eine große Rolle in der russischen Freimaurerei (vgl. S. 262f).
Trotz des Erfolgs der Freimaurerei in der russischen Elite betrachtete die Regierung des Zaren die Freimaurerei wegen der Geheimhaltung ihrer Zeremonien mit Mißtrauen. Der Teil der russischen Gesellschaft, der die westlichen Neuerungen ablehnt, sieht in der Freimaurerei eine Vereinigung, deren Hauptziel darin besteht, den Thron des Antichristen vorzubereiten. Die russischen Freimaurer des 18. Jahrhunderts präsentierten die Freimaurerei hingegen als Schlüssel zu Freundschaft und Brüderlichkeit. Adlige, Soldaten, Politiker, Musiker, Kaufleute gehörten ihr an. Von der Regierung zugelassen und von der Polizei kontrolliert, breitete sich die russische Freimaurerei immer weiter aus, mit neuen Eingeweihten und neuen Logen. Iwan Perfiljewitsch Jelagin (1725–1794), Senator und Freimaurer, stammte aus einer alten und russischen Adelsfamilie und genoß die Freundschaft und das Vertrauen von Kaiserin Katharina der Großen (vgl. S. 263).
Im Jahr 1772 erhielt Jelagin von der Großloge von England die Lizenz als Provinzgroßmeister im Russischen Reich (vgl. S. 264). Jelagin verbreitet das englische System der drei Freimaurergrade („Jelagin System“), das jedoch allmählich von höheren Graden beeinflußt wurde, insbesondere von zwei Systemen oder Riten:
- dem Melissin-Ritus („Melesino-Ritus“; nach dem Namen des russischen Generals griechischer Herkunft Peter Melesino oder Melissino), der seit 1765 in der oben erwähnten „Loge des Schweigens“ auftritt und 7 Grade zählt: die 3 Grundgrade + 4 höhere Grade: 4° Dunkle Krypta; 5° Schottischer Meister; 6° Philosophischer Grad; 7° Spiritueller Ritter oder Templergroßpriester.
- dem Ritus der Strengen Observanz der Templer, der seit 1765 ein Kapitel in St. Petersburg hat (vgl. S. 271).
Die Freimaurerei von Jelagin, die im wesentlichen mit der englischen Freimaurerei übereinstimmt, behauptet, als Hauptlehre das Studium der Tugend und der Selbsterkenntnis zu haben… Im freimaurerischen System von Jelagin gibt es viele Besonderheiten sowohl in bezug auf die rituellen Formen als auch auf die innere Lehre („the inner doctrine“). In der freimaurerischen Einweihung des Jelagin-Systems gibt es makabre Elemente, wie z. B.: Ein Freimaurer wird in ein mit Blut bedecktes Laken eingewickelt; es werden Schwerter gezogen; der Einweihungskandidat muß sein Blut mit dem der bereits eingeweihten Freimaurer vermischen, um die Brüderlichkeit mit allen Freimaurern zu demonstrieren. Ähnliche makabre oder blutige Effekte finden sich auch im dritten Grad des Freimaurermeisters des Jelagin-Systems (vgl. S. 271).

Der innere oder esoterische Zweck der Freimaurerei („Der innere Zweck des Ordens“) besteht nach Großmeister Jelagin in der Bewahrung und Weitergabe eines großen und uralten Geheimnisses, das auf den ersten Menschen zurückgeht. Von ihm hängt das Wohl der Menschheit ab… Nach Jelagin besteht dieses Geheimnis nicht nur aus den freimaurerischen (oder freimaurerisch verstandenen) Prinzipien der brüderlichen Liebe, der Wohltätigkeit und der Wahrheit, sondern ist eine mystische Lehre, der Baum des Lebens, die Rückkehr des Menschen in den Zustand von Eden… In der Tat ist Jelagin sehr an der jüdischen Kabbala und Alchemie interessiert: „die ‚ausgezeichnete Kabbala‘ und die ‚tiefere Chemie‘“ (vgl. S. 272). Jelagin ist zugleich feindlich gegenüber den atheistischen und revolutionären Ideen aus Frankreich gesinnt, die zu dieser Zeit in Rußland bereits Anklang fanden (vgl. S. 272). Telepnew zeichnet eine im wesentlichen positive Meinung von Großmeister Jelagin: Er sei ein wahrer Freimaurer gewesen.
1.2 Rußlands Freimaurer zwischen Jelagin-System, Schwedischem oder Zinnendorf-Ritus und Martinismus
1771 tauchte in Rußland ein weiteres Hochgradsystem auf, der Zinnendorf-Ritus, der wie der Melissin-Ritus und der Ritus der Strengen Observanz die drei Grade (Lehrling–Geselle–Meister) mit einigen ritterlichen oder Templer-Hochgraden vereint. Der Zinnendorf-Ritus stellt sich als christlich dar und behauptet, über ein geheimnisvolles Wissen zu verfügen. Er taucht ursprünglich in Schweden mit Unterstützung von König Gustav III. auf, wird dann im römisch-deutschen Reich durch den deutschen Freimaurer Johann Wilhelm Kellner Graf Zinnendorf eingeführt. Später wird er von Berlin aus durch den Freimaurer Georg Baron von Reichel nach Rußland verpflanzt. Im Jahr 1773 gibt es in Rußland einige Logen des Schwedischen oder Zinnendorf-Ritus: vier in St. Petersburg (Harpokrat, Horus, Latomia, Nemesis, Apollo), eine in Reval (Isis) und eine in Riga (Apollo). Man beachte die heidnischen Namen der Logen. Telepnew erklärt nicht, daß es zwischen dem Schwedischen Ritus und dem Zinnendorf-Ritus zwar Unterschiede in den Graden, aber auch eine wesentliche inhaltliche Gleichheit gibt. Man kann sagen, daß der Zinnendorf-Ritus die deutsche Variante des Schwedischen Ritus ist.
Telepnew schreibt, daß Jelagin versucht, der Ausbreitung des Schwedischen oder Zinnendorf-Ritus entgegenzuwirken. Letztlich muß aber auch er die Hochgrade akzeptieren. Unter dem Einfluß prominenter russischer Freimaurer wie Generalleutnant Peter Graf Panin und der Zeitungsherausgeber Nikolai Nowikow schlossen sich die meisten von Jelagins Logen dem Schwedischen Ritus Reichels an, und so wurde am 3. September 1776 die Nationale Großloge von Rußland gegründet. Im selben Jahr 1776 erkannten diese russischen Logen ihre Abhängigkeit von der Mutterloge in Berlin an, die den Namen „Minerva“ trug und von Zinnendorf selbst gegründet worden war (vgl. S. 272).
Zusammenfassend kann man sagen, daß die russische Freimaurerei zu dieser Zeit in drei Hauptsysteme unterteilt ist:
- das alte Jelagin-System
- das kombinierte System, in dem der Reichel- (oder Zinnendorf-) Ritus dominiert
- die Apollo-Loge von Georg von Rosenberg, die nichts mit den Anhängern von Jelagin zu tun haben will.
Diese drei Systeme erfahren Veränderungen, nachdem unter den russischen Freimaurern Unstimmigkeiten über die Ideen von Louis-Claude de Saint-Martin (1743–1803), einem französischen Freimaurer des Rektifizierten Schottischen Ritus, entstanden waren. Unter dem Einfluß der pseudochristlichen und pseudomystischen Lehren von de Saint-Martin, dem Martinismus, wünschen viele russische Freimaurer einen engeren Kontakt mit ausländischen Freimaurersystemen, insbesondere mit der schwedischen Freimaurerei. Einige Logen, die durch die Vermittlung der russischen Gesandten Alexander Fürst Kurakin und Gabriel Fürst Gagarin, im Bündnis mit dem bereits erwähnten Rosenberg, dem schwedischen Ritus beitreten. Reichel, die Nowikow-Loge in St. Petersburg und die Moskauer Loge des Fürsten Nikolai Nikititsch Troubezkoi (1744–1821) schlossen sich dieser Bewegung jedoch nicht an (vgl. S. 273).
1777 kam der König von Schweden, das Oberhaupt der schwedischen Freimaurerei, nach St. Petersburg, um den Kaisersohn Paul Petrowitsch, den Großherzog von Moskau, in die Freimaurerei einzuweihen. 1778 trat die Moskauer Loge von Fürst Troubezkoi dem Schwedischen Ritus bei, ebenso wie Nowikow, der daraufhin nach Moskau zog. Im Jahr 1779 wurde in St. Petersburg eine schwedische Provinzgroßloge in Rußland gegründet, deren Provinzgroßmeister Fürst Gagarin war. So gibt es im damaligen Rußland eine Vielzahl von Freimaurer-Obödienzen und Freimaurer-Riten: den englischen oder Jelagin-Ritus, den Melissin-Ritus, die Strenge Observanz der Templer, die Rosenkreuzer, den Schwedischen Ritus, usw. Russische, deutsche, schwedische, englische Freimaurer sind im Land aktiv… Fürst Gagarin, dessen Bemühen, die russische Freimaurerei unter dem Banner des schwedischen Königs zu vereinen, mißbilligt wurde, verläßt 1781 St. Petersburg und seine Provinzgroßloge gerät in eine Krise (vgl. S. 273).
1.3 Moskau, das neue Zentrum der russischen Freimaurerei
Die Großloge von Jelagin gründet neue Logen, aber Jelagins führende Rolle in der russischen Freimaurerei ist vorbei. Diese Rolle geht auf die Moskauer Freimaurer über, wo der Einfluß der Rosenkreuzer spürbar geworden ist. Im Jahr 1782 verbietet die russische Regierung alle Geheimgesellschaften mit Ausnahme der Freimaurerei. Im Jahr 1794 äußert Kaiserin Katharina II. den Wunsch, alle Freimaurerlogen zu verbieten, und Jelagin führt den Befehl aus (vgl. S. 273).

In Moskau bezieht sich der Begriff „Rosenkreuzer“ nicht auf die Freimaurer des Rosenkreuzergrades, die es auch in Rußland gab, sondern auf Gelehrte mystischer und okkulter Themen, die Anhänger der Ideen von Louis-Claude de Saint-Martin sind. Daher wurden die russischen Rosenkreuzer auch Martinisten genannt (vgl. S. 273, Fußnote 9).
Da nun das pulsierende Zentrum der russischen Freimaurerei Moskau und nicht mehr St. Petersburg ist (man spricht von der „Moskauer Periode“ der russischen Freimaurerei), treten zwei prominente Freimaurerpersönlichkeiten hervor: Nowikow und Johann Eugen Schwarz, ein Siebenbürger Sachse. Sie geben Impulse zur Aufklärung, zur Bildungstätigkeit… sie wollen, so ihre eigene Aussage, die unwissenden Massen der Bevölkerung aufklären… Schwarz strebt die Unabhängigkeit der russischen Freimaurerei vom schwedischen System an und erklärt sich bereit, dem Ritus der Strengen Observanz der Templer des schlesischen Barons Karl Gotthelf von Hund und Altengrotkau beizutreten. So erhält Schwarz vom Großmeister, dem Herzog Ferdinand von Braunschweig, den Theoretischen Grad („the theoretical degree“) und von den deutschen Rosenkreuzern die Vollmacht, ihren Orden in Rußland zu gründen (vgl. S. 274).
Diese von Schwarz und Nowikow geförderte Bewegung – die Telepnew als Rosenkreuzer bezeichnet – verbreitet sich unter den Freimaurern in Rußland. Im Jahr 1783 bricht die Bewegung von Schwarz und Nowikow mit dem Herzog von Braunschweig und schließt sich direkt dem Hauptverband der Rosenkreuzer an. Von da an haben die Rosenkreuzer einen großen Einfluß auf die russische Freimaurerei. Dieses russische Rosenkreuzertum, das mit dem deutschen Rosenkreuzertum verbunden ist, beruft sich auf die Essener. Es behauptet, daß Jesus Essener war und daß das Essener-Licht bis in den Westen, zu den Rosenkreuzern, weitergegeben wurde… Die russischen Rosenkreuzer bestehen auf der moralischen Vollkommenheit und der Vereinigung mit Gott… Trotz der verschiedenen Veränderungen der Systeme und Riten bleibt die russische Freimaurerei der von Jelagin skizzierten Linie treu und wendet sich gegen die französische revolutionäre Tendenz (vgl. S. 275).
Im Schwarz-Nowikow-System folgt auf die drei Grundgrade der Schottische Grad und dann der Theoretische Grad, der den Rosenkreuzerorden einleitet (vgl. S. 275, Fußnote 1). Einer der bedeutendsten Rosenkreuzer dieser Zeit ist Iwan Lopuchin (1756–1816), der sich in seinen freimaurerischen Schriften zum Glauben an Gott und die christliche Religion bekennt und erklärt, daß das Ziel der wahren Freimaurer das Christentum ist und daß der wahre Freimaurer Jesus Christus folgen muß (vgl. S. 275f). Trotz dieses (exoterischen) Bekenntnisses zum christlichen Glauben teilen die russischen Rosenkreuzer jedoch gnostische Lehren, die bereits von Jelagin verfolgt wurden: Emanationismus (alles geht von Gott aus, geistige und materielle Geschöpfe, von den Engeln bis zu den Mineralien), Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Emanationskreisen, Geisterbeschwörung („Geisterbeschwörungen wurden ausprobiert“), Alchemie… Die Rosenkreuzer haben auf die russische Freimaurerei jener Zeit einen beträchtlichen Einfluß an Zahl und Autorität (vgl. S. 276).
1.4 Die russische Freimaurerei in der Krise von 1794
1784 stirbt Schwarz, der Führer der Rosenkreuzer-Freimaurerei in Rußland. Ein Ausschuß („Board“) wird gebildet: Peter Graf Tatischtschew, Nowikow und Fürst Troubezkoi. Dann werden zwei Großaufseher ernannt: Lopuchin und ein gewisser Heinrich-Jacob von Schröder , der bereits Mitglied der Berliner Loge „Zu den 3 Weltkugeln“ ist. Mit großem Geschick gelingt es Schröder, die Position und den Einfluß von Schwarz zu übernehmen, sehr zur Enttäuschung von Lopuchin. Die rosenkreuzerische Freimaurerei breitet sich weiter aus und wird immer stärker. Unterdessen schreibt Kaiserin Katharina zunächst satirische Komödien gegen die Freimaurer, in denen diese als Scharlatane und Betrüger dargestellt werden. Dann beschließt sie, die weitere Ausbreitung der Freimaurerei zu verhindern (vgl. S. 277). Zu dieser Zeit stehen die russischen Freimaurer unter dem Einfluß der deutschen Freimaurer und Friedrichs des Großen, des Königs von Preußen und „geistigen“ Führers der preußischen Freimaurerei, der ein großer Feind von Kaiserin Katharina ist (vgl. S. 277f).
1786 wurden in Rußland Schulen und Krankenhäuser der freimaurerischen Kontrolle entzogen („In 1786 schools and hospitals were taken away from Masonic control“). Von Freimaurern verfaßte Bücher werden für gefährlicher erklärt als die Bücher der französischen Enzyklopädisten. Baron Schröder verläßt Rußland. Im Jahr 1787 bricht eine schreckliche Hungersnot aus. Russische Freimaurer, darunter Nowikow, organisieren Hilfsmaßnahmen für die hungernde Bevölkerung. Es spricht sich herum, daß die Freimaurer durch diese Hilfe die Gunst der Massen suchen, um sie für politische Zwecke zu nutzen (vgl. S. 278).
Der neue Generalgouverneur von Moskau, General Alexander Fürst Prosorowski, unternimmt Schritte, um freimaurerische Aktivitäten zu unterdrücken. Im Jahr 1792 wird Nowikow verhaftet. Andere Freimaurer erhalten mildere Strafen. Lopuchin darf in Moskau bleiben. 1794 stellt die russische Freimaurerei ihre Aktivitäten offiziell ein, setzt sie aber im geheimen fort (vgl. S. 279).
1.5 Die „Wiederbelebung“ der russischen Freimaurerei bis zu den Jahren 1822/1826
Nach dem Tod der Kaiserin Katharina rehabilitierte, belohnte und schützte der neue Zar Paul I. die Freimaurer, obwohl die Freimaurerei formell immer noch verboten war. Paul I. ist jedoch auch Großmeister des Malteserordens und steht daher der Templerfreimaurerei ablehnend gegenüber (vgl. S. 279).
Unter Zar Alexander I. setzt sich das Wachstum der Freimaurerei fort. Trotz des offiziellen Verbots von Geheimbünden entstehen neue Freimaurerlogen. Im Jahr 1810 werden die Logen wieder offiziell zugelassen und anerkannt (vgl. S. 279). Nicht nur in den beiden großen Städten Moskau und St. Petersburg, sondern auch in den Provinzen bis nach Sibirien und auf die Krim, wo es Logen gibt, erlebt die Freimaurerei einen neuen Aufschwung. Während der Napoleonischen Kriege werden zahlreiche Logen neu gegründet (vgl. S. 279f).

Im Jahr 1810 wird die „Große Direktorialloge ‚Wladimir‘ zur Ordnung“ ins Leben gerufen, in der sich Freimaurer, die die Hochgrade befürworten, und Freimaurer, die die drei Grundgrade unterstützen, zusammenfinden. Den beiden Gruppen gelingt der Zusammenschluß allerdings nicht, und so kommt es zur Trennung. 1815 spaltet sich die Großloge in zwei Großlogen auf: die Großloge Astrea und die Schwedische Provinzial-Großloge von Rußland.
Die Großloge Astrea übernimmt ausschließlich die drei Grade (englisches System), überläßt es aber den Freimaurermeistern, auch den Hochgraden zu folgen. Die Astrea-Großloge mit Sitz in St. Petersburg zählt zu der Zeit 23 Logen. Astrea erlaubt die Erlangung der Hochgrade („high ranks or degrees of the high Masonic sciences“). Für alles, was die Hochgrade betrifft, ist das Großkapitel der anerkannten Riten zuständig, dessen Vorsitzender der Großmeister der Großloge Astrea ist (vgl. S. 280). Noch 1819 befaßt sich die Großloge Astrea mit den Drei Graden, arbeitet aber in guter Harmonie mit dem Großkapitel der anerkannten Riten (vgl. S. 281)…
Das deutsche Element überwiegt in der Großloge Astrea (vgl. S. 281). So wurde 1819 in St. Petersburg unter der Obödienz von Astrea die Loge Nr. 1 „Peter zur Wahrheit“ gegründet, die in deutscher Sprache arbeitet, was durch die vielen deutschen Familiennamen der 130 Mitglieder Bestätigung findet. Auch in der Loge Nr. 3 „Isis“ in Reval wird die deutsche Sprache verwendet. Alle Mitglieder tragen deutsche Familiennamen (vgl. S. 282).
In den Jahren 1819/1820 unterhält die Großloge Astrea 24 Logen:
- 7 Logen praktizieren den von Hamburger Freimaurern modifizierten Englischen Ritus;
- 2 Logen praktizieren den Zinnendorf-Ritus;
- 6 Logen praktizieren den Rektifizierten Ritus der Strengen Observanz;
- 8 Logen praktizieren den Schwedischen Ritus.
- 1 Loge praktiziert den Englischen Ritus, modifiziert durch den Freimaurer Ignaz Aurelius Fessler3 (vgl. S. 285).
Die meisten Freimaurer der Großloge Astrea sind deutscher Herkunft. Ihr sind sowohl Hochgradkapitel (von denen viele aus Frankreich importiert wurden) als auch Rosenkreuzer-Logen angeschlossen. Laut ihren Statuten hat die Großloge folgende Ziele: das Glück der Menschheit durch die Verbreitung von Moral, Tugend, Religion, Treue zum Souverän und strikten Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Reiches anzustreben (vgl. S. 285).
Br. Telepnew stellt fest, daß die Ziele der russischen Freimaurerei zur Zeit Alexanders I. immer noch die gleichen sind wie zur Zeit Jelagins, aber obwohl es immer noch prominente Russen gibt, haben die Deutschen nicht nur maßgeblichen Einfluß auf die Freimaurerei, den sie bald nach deren Einführung in Rußland gewannen, sondern auch das dominierende Element in den Logen. Mit dem Rückzug der Russen und der Aufteilung in verschiedene Riten scheint die russische Freimaurerei im Rußland Alexanders I. nicht mehr die entscheidende Rolle zu spielen, die sie früher hatte (vgl. S. 285).
In der Zwischenzeit steigt die Zahl der Freimaurer in der polnischen Aristokratie und unter prominenten Angehörigen der katholischen Kirche wie zum Beispiel Bischof Pusina. Doch die Jesuiten bleiben der Freimaurerei gegenüber feindlich eingestellt. Zar Alexander I. änderte seine Haltung gegenüber den Logen, vielleicht beeinflußt durch Österreichs Kanzler Wenzel Fürst Metternich und die Jesuiten. Am 6. August 1822 verbot ein Dekret in Rußland die Geheimgesellschaften, darunter auch die Freimaurerei. Eine Zeitlang war die Freimaurerei weiterhin aktiv, insbesondere in den Provinzen des Russischen Reiches. Dann erließ Zar Nikolaus I. 1826 ein strengeres Edikt, das die Zahl der aktiven Freimaurer in Rußland drastisch reduzierte. Zweifellos arbeiteten freimaurerische und andere geheimbündlerische Gruppen in Europa gegen Kirche und Staat, aber – so Telepnew – in Rußland sei dies nicht der Fall gewesen… Doch bis in die letzten Jahre des Zarenreiches gilt die Freimaurerei als Trägerin revolutionärer Ideen und des Atheismus bzw. als Zentrum jüdischer Organisationen mit dem Ziel, das Christentum zu beseitigen (vgl. S. 286).
1.6 Die russische Rosenkreuzer-Freimaurerei
In einer weiteren Studie für die Londoner Loge „Quatuor Coronati“ aus dem Jahr 1925 beschreibt Br. Telepnew einige Aspekte der Rosenkreuzer-Freimaurerei unter der Herrschaft von Zar Alexander I. (1777–1825), dem Nachfolger von Zar Paul I., der 1801 ermordet wurde (vgl. Br. Boris Telepneff: Some aspects of Russian Freemasonry during the reign of the Emperor Alexander I, in: AQC38 (1925), S. 6–66). Telepnew berichtet, daß die alten russischen Freimaurer mit dem Mystizismus („the spirit of mysticism“) verbunden waren, der zur Zeit Katharinas II. in der russischen Freimaurerei sehr aktiv war. Worin aber besteht diese „christliche Mystik“? Telepnew macht es sehr deutlich: Es ist das Rosenkreuzertum (vgl. S. 8), dessen Mystik er aufzeigt: „mystical work of the ‘Order of the Rosy Cross’, studying esoteric Christianity, and also alchemy, magic and similar subjects“ („die mystische Arbeit des ‚Ordens vom Rosenkreuz‘, das Studium des esoterischen Christentums, aber auch der Alchemie, der Magie und ähnlicher Themen“). Zu ihren „spirituellen Meistern“ zählt er Jacob Böhme, Basilius Valentinus und Paracelsus (vgl. S. 9). Die rosenkreuzerischen Freimaurer sind auch der jüdischen Kabbala zugetan (vgl. S. 34). Telepnew macht deutlich, was das Ziel der mystischen Forschung der russischen Freimaurer jener Zeit war: die okkulten Wissenschaften (vgl. S. 34).
1.7 Die schwedische Freimaurerei in Rußland
Die Loge „Quatuor Coronati“ veröffentlichte 1926 eine weitere Studie von Br. Telepnew. diesmal über die Geschichte der schwedischen Freimaurerei in Rußland (vgl. Br. Boris Telepneff: A few pages from the History of Swedish Freemasonry in Russia, in: AQC 39, 1926, S. 174–196).
Telepnew stellt fest, daß sich die russischen Freimaurer des 18. Jahrhunderts als „mystical philosophers searching for the Light and more Light“ („mystische Philosophen auf der Suche nach dem Licht und nach mehr Licht“) definierten… Im 18. Jahrhundert gab es eine zeitlang zwei Freimaurersysteme, die von den russischen Herrschern geduldet oder sogar gefördert wurden: das englische 3‑Grad-System und den Schwedischen Ritus (vgl. S. 174). Telepnew enthüllt, daß der Schwedische Ritus, der auch in Rußland praktiziert wurde, aus drei Elementen bestand: 1) den drei Grundgraden oder „Symbolic Masonry“, 2) den Templergraden („Templar Degrees“) und 3) dem Rosenkreuzertum („Rosidurcianism“ oder „the mysticism of esoteric Christianity“) (vgl. S. 182f). Telepnew sagt, daß die Rosenkreuzergrade des Schwedischen Ritus das Studium der Theosophie und der Alchemie anregten („A study of Theosophy and Alchemy was induced by Rosicrucians degrees“, S. 183). Ich denke, daß mit „Theosophie“ die jüdische Kabbala gemeint ist… Telepnew erklärt, daß das Ziel des Schwedischen Ritus die Wiedervereinigung mit Christus ist (vgl. S. 183)… Ja, aber welcher Christus? Wir können so antworten: ein rosenkreuzerischer, alchemistischer, kabbalistischer, kurz gesagt, gnostischer Christus. In der Tat war, laut Telepnew, der 10. und höchste Grad des Schwedischen Ritus: „10° Brethren of the Rosy Cross“ S. 183).
Telepnew bemerkt zudem, daß der Schwedische Ritus Freimaurer aus den besten Familien des russischen Adels anzog, nicht zuletzt weil zu seinen erklärten Zielen der Kampf gegen atheistische und radikale Ideen gehörte (vgl. S. 186)…
(Fortsetzung Teil 2)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Durch seine Veröffentlichungen bringt er den Nachweis, daß die Freimaurerei von Anfang an bis heute esoterische und gnostische Elemente enthielt, die ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons/RTM/Freimaurer-Lexikon (Screeenshots)
1 Boris Wassiljewitsch Telepnew, der bereits während des Ersten Weltkriegs in Rußland als Buchautor in Erscheinung getreten war mit der Kleinschrift „Europa im Krieg“ (1916).
2 Das Gouvernement Ukraine umfaßte die heutige mittlere Ukraine um Kiew, beidseitig des Dnjepr, ohne den Westen, den Osten und den Süden der heutigen Ukraine
3 Ignaz Aurelius Feßler (1756 geboren in Zurndorf in Deutsch-Westungarn, heute Burgenland, 1839 gestorben in St. Petersburg) trat 1773 in den Kapuzinerorden ein, 1779 wurde er zum Priester geweiht. Über seine katholische Zeit verbreitete er selbst später abenteuerliche Geschichten. Kaiser Joseph II., dem Feßler persönlich bekannt wurde, ernannte ihn 1783 zum Professor der orientalischen Sprachen und des Alten Testaments an der Universität Lemberg. Dort ließ er sich in die Freimaurerloge „Phönix zur runden Tafel“ initiieren und wurde aus dem Kapuzinerorden entlassen. Kurz darauf gab er auch sein Priestertum auf und verfaßte antikatholische Schriften. Er begab sich ganz in die Hände der Freimaurer bzw. auch persönlich ganz der Freimaurerei hin. 1791 fiel er offiziell von der katholischen Kirche ab, schloß sich dem Luthertum an und heiratete. Die Ehe wurde jedoch nach wenigen Jahren wieder getrennt. In Berlin reformierte er mit Johann Gottlieb Fichte die Logenstatuten der Royal York. 1809 erfolgte seine Berufung als Professor der orientalischen Sprachen nach St. Petersburg und er bemühte sich um die Legalisierung der Freimaurerei, die 1810 unter Zar Alexander I. gelang. Seine Professur wurde ihm bereits 1811 wegen des Verdachts des Atheismus wieder entzogen. Er wurde darauf Superintendent der lutherischen Gemeinde in Saratow, dann Generalsuperintendant der lutherischen Gemeinde in St. Petersburg.