Freimaurerei und Esoterik in Rußland seit dem 18. Jahrhundert (Teil 1)

Gnosis und Okkultes in Rußland


Eine kurze Geschichte der Freimaurerei in Rußland seit dem 18. Jahrhundert
Eine kurze Geschichte der Freimaurerei in Rußland seit dem 18. Jahrhundert

Von Pater Pao­lo M. Sia­no*

Nach­dem ich die gno­sti­schen Ele­men­te in ver­schie­de­nen Schrif­ten des rus­si­schen Poli­tik­wis­sen­schaft­lers Alex­an­der Dugin auf­ge­zeigt habe, hal­te ich es für wich­tig, unser Wis­sen über das eso­te­ri­sche Ruß­land, oder bes­ser gesagt, die Eso­te­rik in Ruß­land, zu ver­tie­fen. Um die Wur­zeln von Dug­ins gno­sti­schem Den­ken bes­ser zu ver­ste­hen, dür­fen wir nicht bei den Ideen des Ita­lie­ners Juli­us Evo­la (1898–1974) oder des Fran­zo­sen René Gué­non (1886–1951), zwei­er west­li­cher Eso­te­ri­ker des 20. Jahr­hun­derts, ste­hen­blei­ben, son­dern müs­sen wei­ter zurück­ge­hen und in Ruß­land selbst suchen.

Anzei­ge

Es ist inter­es­sant, fest­zu­stel­len, daß Prof. Dugin, der vol­ler Eifer und Begei­ste­rung für das hei­li­ge Ruß­land ist (ein impe­ria­li­sti­scher, kriegs­trei­be­ri­scher, anti­west­li­cher und apo­ka­lyp­ti­scher Eifer), in sei­nem Den­ken den­noch Ele­men­te der im kor­rup­ten Westen geschmie­de­ten gno­sti­schen Eso­te­rik auf­nimmt. Ist das nicht ein Wider­spruch? Ja, der Wider­spruch, oder viel­mehr die coni­unc­tio oppo­si­torum, ein wesent­li­ches Ele­ment der gno­sti­schen Esoterik.

Einleitung: Russische Esoterik vor Dugin

Wie bei uns im Westen exi­stiert auch in der hei­li­gen Mut­ter Ruß­land ein jahr­hun­der­te­al­tes und viel­fäl­ti­ges eso­te­ri­sches und gno­sti­sches Milieu. 1997 ver­öf­fent­lich­te der Ver­lag Cor­nell Uni­ver­si­ty Press (Itha­ca und Lon­don) das Buch „The Occult in Rus­si­an and Soviet Cul­tu­re“ („Das Okkul­te in der rus­si­schen und sowje­ti­schen Kul­tur“, 468 Sei­ten), her­aus­ge­ge­ben von Ber­nice Glat­zer-Rosen­thal (1938–2024), einer jüdi­schen Wis­sen­schaft­le­rin und Pro­fes­so­rin für Geschich­te an der Ford­ham Uni­ver­si­ty (Jesui­ten­uni­ver­si­tät in New York).

In der Ein­lei­tung betont Prof. Glat­zer-Rosen­thal die beträcht­li­che Prä­senz des Okkul­ten im 19. und 20. Jahr­hun­dert sowohl im vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Ruß­land als auch in der sowje­ti­schen Kul­tur: „Das Okkul­te war ein bemer­kens­wer­ter Bestand­teil der vor­re­vo­lu­tio­nä­ren rus­si­schen und der sowje­ti­schen Kul­tur. Okkul­te Leh­ren fan­den bei Künst­lern, Schrift­stel­lern und poli­ti­schen Akti­vi­sten Anklang. […]. Frü­he rus­si­sche Psy­cho­lo­gen unter­such­ten hyp­no­ti­sche Sug­ge­sti­on und Gedan­ken­über­tra­gung, The­men, die damals mit dem Okkul­ten in Ver­bin­dung gebracht wur­den. Okkul­te Ideen lagen der poli­ti­schen Ideo­lo­gie der extre­men Rech­ten zugrun­de und beein­fluß­ten die lin­ken Dok­tri­nen des mysti­schen Anar­chis­mus und des Gott­er­bau­er­tums“ (S. 1).

Okkul­tis­mus vor und nach der Revolution

In bezug auf die Ver­wen­dung okkul­ter oder eso­te­ri­scher Ideen, Sym­bo­le und Tech­ni­ken durch den Bol­sche­wis­mus stellt die Autorin fest: „Die Bol­sche­wi­ki adap­tier­ten okkul­te Ideen, Sym­bo­le und Tech­ni­ken für die poli­ti­sche Pro­pa­gan­da. Okkul­te und qua­si-okkul­te Ideen nähr­ten den frü­hen sowje­ti­schen Uto­pis­mus, durch­dran­gen Lite­ra­tur und Kunst und tru­gen zum Lenin­kult bei. Zu Sta­lins Zei­ten wur­den die unter­schwel­li­gen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­ni­ken, die von den Sym­bo­li­sten und ande­ren ent­wickelt wor­den waren, syste­ma­ti­siert und in die offi­zi­el­le Ästhe­tik des sozia­li­sti­schen Rea­lis­mus inte­griert. […] Das okkul­te Revi­val, das im heu­ti­gen Ruß­land so offen­sicht­lich ist, ist in vie­ler­lei Hin­sicht eine Wie­der­ho­lung des­sen, das vor einem Jahr­hun­dert statt­fand; die­sel­ben Dok­tri­nen wer­den wie­der in Umlauf gebracht“ (S. 1f).

Mit „Okkul­tis­mus“ meint Glat­zer-Rosen­thal, was der Gelehr­te [und Frei­mau­rer der Natio­na­len Groß­lo­ge von Frank­reich] Antoine Fai­v­re (1934–2021) mit „Eso­te­rik“ meint, und Glat­zer-Rosen­thal zitiert auch Fai­v­re selbst. Der Okkul­tis­mus oder die Eso­te­rik ist dem­nach eine Welt­an­schau­ung („eine Kos­mo­lo­gie“), die gekenn­zeich­net ist durch: die Leh­re von den Kor­re­spon­den­zen zwi­schen Makro­kos­mos und Mikro­kos­mos (sie­he: Magie, Alche­mie, Kab­ba­la…); den Glau­ben an die leben­di­ge Natur (Magie…); die Bedeu­tung der Vor­stel­lungs­kraft, um die Rea­li­tät zu durch­drin­gen; die inne­re Trans­mu­ta­ti­on (Alche­mie, Magie…); die Kon­kor­danz der Reli­gio­nen und Tra­di­tio­nen; die Über­tra­gung-Initia­ti­on (vgl. S. 2–5). Es han­delt sich dabei um Leh­ren oder Glau­bens­vor­stel­lun­gen gno­sti­scher und magi­scher Natur.

Der von Glat­zer-Rosen­thal her­aus­ge­ge­be­ne Band ver­schie­de­ner Autoren reicht vom Ende des 19. bis zum letz­ten Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts. Es ist jedoch not­wen­dig, wei­ter zurückzugehen.

In dem Buch „Тамплиеры пролетариата“, ital. Aus­ga­be: „Die Temp­ler des Pro­le­ta­ri­ats. Meta­phy­sik des Natio­nal-Bol­sche­wis­mus“ (Ver­lag AGA, Mai­land 2021), schreibt Alex­an­der Dugin, daß Leo Trotz­ki (1879–1940), einer der ersten bol­sche­wi­sti­schen Füh­rer, einer Loge des Groß­ori­ents [von Ruß­land] ange­hör­te, eine Mono­gra­phie über die Frei­mau­re­rei ver­faßt hat­te (die heu­te ver­schol­len ist), und daß es Trotz­ki oder zumin­dest auch er war, der den fünf­zacki­gen Stern zum Emblem des Bol­sche­wis­mus mach­te, ein eso­te­ri­sches Sym­bol, das bereits im 19. Jahr­hun­dert in okkul­ti­sti­schen, frei­mau­re­ri­schen, rosen­kreu­ze­ri­schen und sozia­li­sti­schen Krei­sen ver­wen­det wur­de (vgl. S. 207).

Wer­fen wir an die­ser Stel­le einen Blick auf die rus­si­sche Frei­mau­re­rei und begin­nen wir mit ihren Ursprün­gen im 18. Jahrhundert.

1. Die russische Freimaurerei zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert

In den Ver­öf­fent­li­chun­gen der frei­mau­re­ri­schen For­schungs­lo­ge Qua­tu­or Coro­na­ti in Lon­don (Ars Qua­tu­or Coro­na­torum – Tran­sac­tions of the Qua­tu­or Coro­na­ti Lodge, No. 2076 – Lon­don) fin­den wir eine Stu­die von 1922 über die Frei­mau­re­rei in Ruß­land. Der Autor ist der rus­si­sche Frei­mau­rer Br. Boris Telep­neff1 („Free­ma­son­ry in Rus­sia“, in AQC 35 (1922), S. 261–292). [Telep­neff ist die eng­li­sche Trans­skrip­ti­on, die in den genann­ten Publi­ka­tio­nen auf­scheint; im wei­te­ren Text wird jedoch die deut­sche Telep­new ver­wen­det.] Zu die­ser Zeit waren die rus­si­schen Frei­mau­rer, wenn sie ihre frei­mau­re­ri­schen Akti­vi­tä­ten fried­lich fort­set­zen woll­ten, gezwun­gen, um Ver­fol­gung und Inhaf­tie­rung zu ent­ge­hen, die Sowjet­uni­on zu verlassen.

Schau­en wir uns die Stu­die des Frei­mau­rers Telep­neff an. Die Unter­tei­lung in Abschnit­te ist von mir.

1.1 Anglophile Freimaurerei, Großmeister Elagin und die Kabbala

Rus­si­schen Frei­mau­rern und Gelehr­ten der rus­si­schen Frei­mau­re­rei zufol­ge war es Zar Peter der Gro­ße (1672–1725), der in Eng­land in die Frei­mau­rer initi­iert wor­den sei, der die Frei­mau­re­rei nach Ruß­land brach­te. Gesi­chert ist, daß die ersten ver­läß­li­chen Infor­ma­tio­nen über die Prä­senz der Frei­mau­re­rei in Ruß­land auf den 24. Janu­ar 1731 zurück­ge­hen: Kapi­tän John Phil­ips wird von der Groß­lo­ge von Eng­land (der Groß­lo­ge der soge­nann­ten „Moderns“, gegrün­det 1717) zum Pro­vinz­groß­mei­ster von Ruß­land ernannt. Phil­ips‘ Nach­fol­ger an der Spit­ze der pro-eng­li­schen rus­si­schen Frei­mau­re­rei wird Gene­ral James Keith (1696–1758), exi­lier­tes Mit­glied einer schot­ti­schen Adels­fa­mi­lie. Keith wur­de 1740/​41 von der Groß­lo­ge von Eng­land zum Pro­vinz­groß­mei­ster von Ruß­land ernannt (vgl. S. 261). Keith befeh­lig­te die rus­si­schen Trup­pen im Krieg gegen Schwe­den und errang vie­le Sie­ge. Er wur­de auch zum Gou­ver­neur der Ukrai­ne2 ernannt. Auf­grund des Neids eini­ger rus­si­scher Gene­rä­le und Höf­lin­ge ver­läßt Keith 1747 Ruß­land und tritt in den Dienst des preu­ßi­schen Königs (vgl. S. 262).

Iwan Jelagin, Sekre­tär von Kai­se­rin Katha­ri­na II.

Die ersten Frei­mau­rer­lo­gen in Ruß­land bestan­den größ­ten­teils aus eng­li­schen oder deut­schen Mit­glie­dern. Es scheint, daß es 1750 nur zwei Logen in Ruß­land gab: eine in St. Peters­burg (eine Stadt, die von 1914 bis 1924 „Petro­grad“ heißt, so auch in Telep­neffs Text) ist die „Loge des Schwei­gens“ und die ande­re in Riga ist die „Loge des Nord­sterns“ (vgl. S. 262). Im Jahr 1756 brei­te­te sich die Frei­mau­re­rei in die rus­si­sche High Socie­ty aus. Graf Roman Illa­ri­o­no­witsch Woron­zow („ein pro­mi­nen­ter Staats­mann“) war der Stuhl­mei­ster der Loge von St. Peters­burg, und ihre Mit­glie­der waren meist jun­ge Offi­zie­re aus den besten rus­si­schen Fami­li­en. Wahr­schein­lich war es zu die­ser Zeit, daß der Sena­tor des Rus­si­schen Rei­ches Elagin (eigent­lich Jelagin) der oben genann­ten Peters­bur­ger Loge bei­trat. Wie wir noch sehen wer­den, spiel­te Elagin eine gro­ße Rol­le in der rus­si­schen Frei­mau­re­rei (vgl. S. 262f).

Trotz des Erfolgs der Frei­mau­re­rei in der rus­si­schen Eli­te betrach­te­te die Regie­rung des Zaren die Frei­mau­re­rei wegen der Geheim­hal­tung ihrer Zere­mo­nien mit Miß­trau­en. Der Teil der rus­si­schen Gesell­schaft, der die west­li­chen Neue­run­gen ablehnt, sieht in der Frei­mau­re­rei eine Ver­ei­ni­gung, deren Haupt­ziel dar­in besteht, den Thron des Anti­chri­sten vor­zu­be­rei­ten. Die rus­si­schen Frei­mau­rer des 18. Jahr­hun­derts prä­sen­tier­ten die Frei­mau­re­rei hin­ge­gen als Schlüs­sel zu Freund­schaft und Brü­der­lich­keit. Adli­ge, Sol­da­ten, Poli­ti­ker, Musi­ker, Kauf­leu­te gehör­ten ihr an. Von der Regie­rung zuge­las­sen und von der Poli­zei kon­trol­liert, brei­te­te sich die rus­si­sche Frei­mau­re­rei immer wei­ter aus, mit neu­en Ein­ge­weih­ten und neu­en Logen. Iwan Per­fil­je­witsch Jelagin (1725–1794), Sena­tor und Frei­mau­rer, stamm­te aus einer alten und rus­si­schen Adels­fa­mi­lie und genoß die Freund­schaft und das Ver­trau­en von Kai­se­rin Katha­ri­na der Gro­ßen (vgl. S. 263).

Im Jahr 1772 erhielt Jelagin von der Groß­lo­ge von Eng­land die Lizenz als Pro­vinz­groß­mei­ster im Rus­si­schen Reich (vgl. S. 264). Jelagin ver­brei­tet das eng­li­sche System der drei Frei­mau­rer­gra­de („Jelagin System“), das jedoch all­mäh­lich von höhe­ren Gra­den beein­flußt wur­de, ins­be­son­de­re von zwei Syste­men oder Riten:

  1. dem Melis­sin-Ritus („Mele­si­no-Ritus“; nach dem Namen des rus­si­schen Gene­rals grie­chi­scher Her­kunft Peter Mele­si­no oder Melis­si­no), der seit 1765 in der oben erwähn­ten „Loge des Schwei­gens“ auf­tritt und 7 Gra­de zählt: die 3 Grund­gra­de + 4 höhe­re Gra­de: 4° Dunk­le Kryp­ta; 5° Schot­ti­scher Mei­ster; 6° Phi­lo­so­phi­scher Grad; 7° Spi­ri­tu­el­ler Rit­ter oder Templergroßpriester.
  2. dem Ritus der Stren­gen Obser­vanz der Temp­ler, der seit 1765 ein Kapi­tel in St. Peters­burg hat (vgl. S. 271).

Die Frei­mau­re­rei von Jelagin, die im wesent­li­chen mit der eng­li­schen Frei­mau­re­rei über­ein­stimmt, behaup­tet, als Haupt­leh­re das Stu­di­um der Tugend und der Selbst­er­kennt­nis zu haben… Im frei­mau­re­ri­schen System von Jelagin gibt es vie­le Beson­der­hei­ten sowohl in bezug auf die ritu­el­len For­men als auch auf die inne­re Leh­re („the inner doc­tri­ne“). In der frei­mau­re­ri­schen Ein­wei­hung des Jelagin-Systems gibt es maka­bre Ele­men­te, wie z. B.: Ein Frei­mau­rer wird in ein mit Blut bedeck­tes Laken ein­ge­wickelt; es wer­den Schwer­ter gezo­gen; der Ein­wei­hungs­kan­di­dat muß sein Blut mit dem der bereits ein­ge­weih­ten Frei­mau­rer ver­mi­schen, um die Brü­der­lich­keit mit allen Frei­mau­rern zu demon­strie­ren. Ähn­li­che maka­bre oder blu­ti­ge Effek­te fin­den sich auch im drit­ten Grad des Frei­mau­rer­mei­sters des Jelagin-Systems (vgl. S. 271).

Telep­new als Bar­de der rus­si­schen Freimaurerei

Der inne­re oder eso­te­ri­sche Zweck der Frei­mau­re­rei („Der inne­re Zweck des Ordens“) besteht nach Groß­mei­ster Jelagin in der Bewah­rung und Wei­ter­ga­be eines gro­ßen und uralten Geheim­nis­ses, das auf den ersten Men­schen zurück­geht. Von ihm hängt das Wohl der Mensch­heit ab… Nach Jelagin besteht die­ses Geheim­nis nicht nur aus den frei­mau­re­ri­schen (oder frei­mau­re­risch ver­stan­de­nen) Prin­zi­pi­en der brü­der­li­chen Lie­be, der Wohl­tä­tig­keit und der Wahr­heit, son­dern ist eine mysti­sche Leh­re, der Baum des Lebens, die Rück­kehr des Men­schen in den Zustand von Eden… In der Tat ist Jelagin sehr an der jüdi­schen Kab­ba­la und Alche­mie inter­es­siert: „die ‚aus­ge­zeich­ne­te Kab­ba­la‘ und die ‚tie­fe­re Che­mie‘“ (vgl. S. 272). Jelagin ist zugleich feind­lich gegen­über den athe­isti­schen und revo­lu­tio­nä­ren Ideen aus Frank­reich gesinnt, die zu die­ser Zeit in Ruß­land bereits Anklang fan­den (vgl. S. 272). Telep­new zeich­net eine im wesent­li­chen posi­ti­ve Mei­nung von Groß­mei­ster Jelagin: Er sei ein wah­rer Frei­mau­rer gewesen.

1.2 Rußlands Freimaurer zwischen Jelagin-System, Schwedischem oder Zinnendorf-Ritus und Martinismus

1771 tauch­te in Ruß­land ein wei­te­res Hoch­grad­sy­stem auf, der Zin­nen­dorf-Ritus, der wie der Melis­sin-Ritus und der Ritus der Stren­gen Obser­vanz die drei Gra­de (Lehrling–Geselle–Meister) mit eini­gen rit­ter­li­chen oder Temp­ler-Hoch­gra­den ver­eint. Der Zin­nen­dorf-Ritus stellt sich als christ­lich dar und behaup­tet, über ein geheim­nis­vol­les Wis­sen zu ver­fü­gen. Er taucht ursprüng­lich in Schwe­den mit Unter­stüt­zung von König Gustav III. auf, wird dann im römisch-deut­schen Reich durch den deut­schen Frei­mau­rer Johann Wil­helm Kell­ner Graf Zin­nen­dorf ein­ge­führt. Spä­ter wird er von Ber­lin aus durch den Frei­mau­rer Georg Baron von Rei­chel nach Ruß­land ver­pflanzt. Im Jahr 1773 gibt es in Ruß­land eini­ge Logen des Schwe­di­schen oder Zin­nen­dorf-Ritus: vier in St. Peters­burg (Har­po­krat, Horus, Lato­mia, Neme­sis, Apol­lo), eine in Reval (Isis) und eine in Riga (Apol­lo). Man beach­te die heid­ni­schen Namen der Logen. Telep­new erklärt nicht, daß es zwi­schen dem Schwe­di­schen Ritus und dem Zin­nen­dorf-Ritus zwar Unter­schie­de in den Gra­den, aber auch eine wesent­li­che inhalt­li­che Gleich­heit gibt. Man kann sagen, daß der Zin­nen­dorf-Ritus die deut­sche Vari­an­te des Schwe­di­schen Ritus ist.

Telep­new schreibt, daß Jelagin ver­sucht, der Aus­brei­tung des Schwe­di­schen oder Zin­nen­dorf-Ritus ent­ge­gen­zu­wir­ken. Letzt­lich muß aber auch er die Hoch­gra­de akzep­tie­ren. Unter dem Ein­fluß pro­mi­nen­ter rus­si­scher Frei­mau­rer wie Gene­ral­leut­nant Peter Graf Panin und der Zei­tungs­her­aus­ge­ber Niko­lai Nowi­kow schlos­sen sich die mei­sten von Jelag­ins Logen dem Schwe­di­schen Ritus Rei­chels an, und so wur­de am 3. Sep­tem­ber 1776 die Natio­na­le Groß­lo­ge von Ruß­land gegrün­det. Im sel­ben Jahr 1776 erkann­ten die­se rus­si­schen Logen ihre Abhän­gig­keit von der Mut­ter­lo­ge in Ber­lin an, die den Namen „Miner­va“ trug und von Zin­nen­dorf selbst gegrün­det wor­den war (vgl. S. 272).

Zusam­men­fas­send kann man sagen, daß die rus­si­sche Frei­mau­re­rei zu die­ser Zeit in drei Haupt­sy­ste­me unter­teilt ist:

  • das alte Jelagin-System
  • das kom­bi­nier­te System, in dem der Rei­chel- (oder Zin­nen­dorf-) Ritus dominiert
  • die Apol­lo-Loge von Georg von Rosen­berg, die nichts mit den Anhän­gern von Jelagin zu tun haben will.

Die­se drei Syste­me erfah­ren Ver­än­de­run­gen, nach­dem unter den rus­si­schen Frei­mau­rern Unstim­mig­kei­ten über die Ideen von Lou­is-Clau­de de Saint-Mar­tin (1743–1803), einem fran­zö­si­schen Frei­mau­rer des Rek­ti­fi­zier­ten Schot­ti­schen Ritus, ent­stan­den waren. Unter dem Ein­fluß der pseu­do­christ­li­chen und pseu­do­my­sti­schen Leh­ren von de Saint-Mar­tin, dem Mar­ti­nis­mus, wün­schen vie­le rus­si­sche Frei­mau­rer einen enge­ren Kon­takt mit aus­län­di­schen Frei­mau­rer­sy­ste­men, ins­be­son­de­re mit der schwe­di­schen Frei­mau­re­rei. Eini­ge Logen, die durch die Ver­mitt­lung der rus­si­schen Gesand­ten Alex­an­der Fürst Kura­kin und Gabri­el Fürst Gaga­rin, im Bünd­nis mit dem bereits erwähn­ten Rosen­berg, dem schwe­di­schen Ritus bei­tre­ten. Rei­chel, die Nowi­kow-Loge in St. Peters­burg und die Mos­kau­er Loge des Für­sten Niko­lai Niki­titsch Trou­bez­koi (1744–1821) schlos­sen sich die­ser Bewe­gung jedoch nicht an (vgl. S. 273).

1777 kam der König von Schwe­den, das Ober­haupt der schwe­di­schen Frei­mau­re­rei, nach St. Peters­burg, um den Kai­ser­sohn Paul Petro­witsch, den Groß­her­zog von Mos­kau, in die Frei­mau­re­rei ein­zu­wei­hen. 1778 trat die Mos­kau­er Loge von Fürst Trou­bez­koi dem Schwe­di­schen Ritus bei, eben­so wie Nowi­kow, der dar­auf­hin nach Mos­kau zog. Im Jahr 1779 wur­de in St. Peters­burg eine schwe­di­sche Pro­vinz­groß­lo­ge in Ruß­land gegrün­det, deren Pro­vinz­groß­mei­ster Fürst Gaga­rin war. So gibt es im dama­li­gen Ruß­land eine Viel­zahl von Frei­mau­rer-Obö­di­en­zen und Frei­mau­rer-Riten: den eng­li­schen oder Jelagin-Ritus, den Melis­sin-Ritus, die Stren­ge Obser­vanz der Temp­ler, die Rosen­kreu­zer, den Schwe­di­schen Ritus, usw. Rus­si­sche, deut­sche, schwe­di­sche, eng­li­sche Frei­mau­rer sind im Land aktiv… Fürst Gaga­rin, des­sen Bemü­hen, die rus­si­sche Frei­mau­re­rei unter dem Ban­ner des schwe­di­schen Königs zu ver­ei­nen, miß­bil­ligt wur­de, ver­läßt 1781 St. Peters­burg und sei­ne Pro­vinz­groß­lo­ge gerät in eine Kri­se (vgl. S. 273).

1.3 Moskau, das neue Zentrum der russischen Freimaurerei

Die Groß­lo­ge von Jelagin grün­det neue Logen, aber Jelag­ins füh­ren­de Rol­le in der rus­si­schen Frei­mau­re­rei ist vor­bei. Die­se Rol­le geht auf die Mos­kau­er Frei­mau­rer über, wo der Ein­fluß der Rosen­kreu­zer spür­bar gewor­den ist. Im Jahr 1782 ver­bie­tet die rus­si­sche Regie­rung alle Geheim­ge­sell­schaf­ten mit Aus­nah­me der Frei­mau­re­rei. Im Jahr 1794 äußert Kai­se­rin Katha­ri­na II. den Wunsch, alle Frei­mau­rer­lo­gen zu ver­bie­ten, und Jelagin führt den Befehl aus (vgl. S. 273).

Niko­lai Nowi­kow, Land­adel und Zeitungsherausgeber

In Mos­kau bezieht sich der Begriff „Rosen­kreu­zer“ nicht auf die Frei­mau­rer des Rosen­kreu­zer­gra­des, die es auch in Ruß­land gab, son­dern auf Gelehr­te mysti­scher und okkul­ter The­men, die Anhän­ger der Ideen von Lou­is-Clau­de de Saint-Mar­tin sind. Daher wur­den die rus­si­schen Rosen­kreu­zer auch Mar­ti­ni­sten genannt (vgl. S. 273, Fuß­no­te 9).

Da nun das pul­sie­ren­de Zen­trum der rus­si­schen Frei­mau­re­rei Mos­kau und nicht mehr St. Peters­burg ist (man spricht von der „Mos­kau­er Peri­ode“ der rus­si­schen Frei­mau­re­rei), tre­ten zwei pro­mi­nen­te Frei­mau­rer­per­sön­lich­kei­ten her­vor: Nowi­kow und Johann Eugen Schwarz, ein Sie­ben­bür­ger Sach­se. Sie geben Impul­se zur Auf­klä­rung, zur Bil­dungs­tä­tig­keit… sie wol­len, so ihre eige­ne Aus­sa­ge, die unwis­sen­den Mas­sen der Bevöl­ke­rung auf­klä­ren… Schwarz strebt die Unab­hän­gig­keit der rus­si­schen Frei­mau­re­rei vom schwe­di­schen System an und erklärt sich bereit, dem Ritus der Stren­gen Obser­vanz der Temp­ler des schle­si­schen Barons Karl Gott­helf von Hund und Alten­grot­kau bei­zu­tre­ten. So erhält Schwarz vom Groß­mei­ster, dem Her­zog Fer­di­nand von Braun­schweig, den Theo­re­ti­schen Grad („the theo­re­ti­cal degree“) und von den deut­schen Rosen­kreu­zern die Voll­macht, ihren Orden in Ruß­land zu grün­den (vgl. S. 274).

Die­se von Schwarz und Nowi­kow geför­der­te Bewe­gung – die Telep­new als Rosen­kreu­zer bezeich­net – ver­brei­tet sich unter den Frei­mau­rern in Ruß­land. Im Jahr 1783 bricht die Bewe­gung von Schwarz und Nowi­kow mit dem Her­zog von Braun­schweig und schließt sich direkt dem Haupt­ver­band der Rosen­kreu­zer an. Von da an haben die Rosen­kreu­zer einen gro­ßen Ein­fluß auf die rus­si­sche Frei­mau­re­rei. Die­ses rus­si­sche Rosen­kreu­zer­tum, das mit dem deut­schen Rosen­kreu­zer­tum ver­bun­den ist, beruft sich auf die Esse­ner. Es behaup­tet, daß Jesus Esse­ner war und daß das Esse­ner-Licht bis in den Westen, zu den Rosen­kreu­zern, wei­ter­ge­ge­ben wur­de… Die rus­si­schen Rosen­kreu­zer bestehen auf der mora­li­schen Voll­kom­men­heit und der Ver­ei­ni­gung mit Gott… Trotz der ver­schie­de­nen Ver­än­de­run­gen der Syste­me und Riten bleibt die rus­si­sche Frei­mau­re­rei der von Jelagin skiz­zier­ten Linie treu und wen­det sich gegen die fran­zö­si­sche revo­lu­tio­nä­re Ten­denz (vgl. S. 275).

Im Schwarz-Nowi­kow-System folgt auf die drei Grund­gra­de der Schot­ti­sche Grad und dann der Theo­re­ti­sche Grad, der den Rosen­kreu­zer­or­den ein­lei­tet (vgl. S. 275, Fuß­no­te 1). Einer der bedeu­tend­sten Rosen­kreu­zer die­ser Zeit ist Iwan Lopuch­in (1756–1816), der sich in sei­nen frei­mau­re­ri­schen Schrif­ten zum Glau­ben an Gott und die christ­li­che Reli­gi­on bekennt und erklärt, daß das Ziel der wah­ren Frei­mau­rer das Chri­sten­tum ist und daß der wah­re Frei­mau­rer Jesus Chri­stus fol­gen muß (vgl. S. 275f). Trotz die­ses (exo­te­ri­schen) Bekennt­nis­ses zum christ­li­chen Glau­ben tei­len die rus­si­schen Rosen­kreu­zer jedoch gno­sti­sche Leh­ren, die bereits von Jelagin ver­folgt wur­den: Emana­tio­nis­mus (alles geht von Gott aus, gei­sti­ge und mate­ri­el­le Geschöp­fe, von den Engeln bis zu den Mine­ra­li­en), Wech­sel­wir­kung zwi­schen den ver­schie­de­nen Emana­ti­ons­krei­sen, Gei­ster­be­schwö­rung („Gei­ster­be­schwö­run­gen wur­den aus­pro­biert“), Alche­mie… Die Rosen­kreu­zer haben auf die rus­si­sche Frei­mau­re­rei jener Zeit einen beträcht­li­chen Ein­fluß an Zahl und Auto­ri­tät (vgl. S. 276).

1.4 Die russische Freimaurerei in der Krise von 1794

1784 stirbt Schwarz, der Füh­rer der Rosen­kreu­zer-Frei­mau­re­rei in Ruß­land. Ein Aus­schuß („Board“) wird gebil­det: Peter Graf Tatischt­schew, Nowi­kow und Fürst Trou­bez­koi. Dann wer­den zwei Groß­auf­se­her ernannt: Lopuch­in und ein gewis­ser Hein­rich-Jacob von Schrö­der , der bereits Mit­glied der Ber­li­ner Loge „Zu den 3 Welt­ku­geln“ ist. Mit gro­ßem Geschick gelingt es Schrö­der, die Posi­ti­on und den Ein­fluß von Schwarz zu über­neh­men, sehr zur Ent­täu­schung von Lopuch­in. Die rosen­kreu­ze­ri­sche Frei­mau­re­rei brei­tet sich wei­ter aus und wird immer stär­ker. Unter­des­sen schreibt Kai­se­rin Katha­ri­na zunächst sati­ri­sche Komö­di­en gegen die Frei­mau­rer, in denen die­se als Schar­la­ta­ne und Betrü­ger dar­ge­stellt wer­den. Dann beschließt sie, die wei­te­re Aus­brei­tung der Frei­mau­re­rei zu ver­hin­dern (vgl. S. 277). Zu die­ser Zeit ste­hen die rus­si­schen Frei­mau­rer unter dem Ein­fluß der deut­schen Frei­mau­rer und Fried­richs des Gro­ßen, des Königs von Preu­ßen und „gei­sti­gen“ Füh­rers der preu­ßi­schen Frei­mau­re­rei, der ein gro­ßer Feind von Kai­se­rin Katha­ri­na ist (vgl. S. 277f).

1786 wur­den in Ruß­land Schu­len und Kran­ken­häu­ser der frei­mau­re­ri­schen Kon­trol­le ent­zo­gen („In 1786 schools and hos­pi­tals were taken away from Maso­nic con­trol“). Von Frei­mau­rern ver­faß­te Bücher wer­den für gefähr­li­cher erklärt als die Bücher der fran­zö­si­schen Enzy­klo­pä­di­sten. Baron Schrö­der ver­läßt Ruß­land. Im Jahr 1787 bricht eine schreck­li­che Hun­gers­not aus. Rus­si­sche Frei­mau­rer, dar­un­ter Nowi­kow, orga­ni­sie­ren Hilfs­maß­nah­men für die hun­gern­de Bevöl­ke­rung. Es spricht sich her­um, daß die Frei­mau­rer durch die­se Hil­fe die Gunst der Mas­sen suchen, um sie für poli­ti­sche Zwecke zu nut­zen (vgl. S. 278).

Der neue Gene­ral­gou­ver­neur von Mos­kau, Gene­ral Alex­an­der Fürst Pro­sor­ow­ski, unter­nimmt Schrit­te, um frei­mau­re­ri­sche Akti­vi­tä­ten zu unter­drücken. Im Jahr 1792 wird Nowi­kow ver­haf­tet. Ande­re Frei­mau­rer erhal­ten mil­de­re Stra­fen. Lopuch­in darf in Mos­kau blei­ben. 1794 stellt die rus­si­sche Frei­mau­re­rei ihre Akti­vi­tä­ten offi­zi­ell ein, setzt sie aber im gehei­men fort (vgl. S. 279).

1.5 Die „Wiederbelebung“ der russischen Freimaurerei bis zu den Jahren 1822/​1826

Nach dem Tod der Kai­se­rin Katha­ri­na reha­bi­li­tier­te, belohn­te und schütz­te der neue Zar Paul I. die Frei­mau­rer, obwohl die Frei­mau­re­rei for­mell immer noch ver­bo­ten war. Paul I. ist jedoch auch Groß­mei­ster des Mal­te­ser­or­dens und steht daher der Temp­ler­frei­mau­re­rei ableh­nend gegen­über (vgl. S. 279).

Unter Zar Alex­an­der I. setzt sich das Wachs­tum der Frei­mau­re­rei fort. Trotz des offi­zi­el­len Ver­bots von Geheim­bün­den ent­ste­hen neue Frei­mau­rer­lo­gen. Im Jahr 1810 wer­den die Logen wie­der offi­zi­ell zuge­las­sen und aner­kannt (vgl. S. 279). Nicht nur in den bei­den gro­ßen Städ­ten Mos­kau und St. Peters­burg, son­dern auch in den Pro­vin­zen bis nach Sibi­ri­en und auf die Krim, wo es Logen gibt, erlebt die Frei­mau­re­rei einen neu­en Auf­schwung. Wäh­rend der Napo­leo­ni­schen Krie­ge wer­den zahl­rei­che Logen neu gegrün­det (vgl. S. 279f).

Sym­bo­le der in ver­schie­de­nen Obö­di­en­zen auf­tre­ten­den Frei­mau­re­rei in Ruß­land, Mit­te des 19. Jahrhunderts. 

Im Jahr 1810 wird die „Gro­ße Direk­to­ri­al­loge ‚Wla­di­mir‘ zur Ord­nung“ ins Leben geru­fen, in der sich Frei­mau­rer, die die Hoch­gra­de befür­wor­ten, und Frei­mau­rer, die die drei Grund­gra­de unter­stüt­zen, zusam­men­fin­den. Den bei­den Grup­pen gelingt der Zusam­men­schluß aller­dings nicht, und so kommt es zur Tren­nung. 1815 spal­tet sich die Groß­lo­ge in zwei Groß­lo­gen auf: die Groß­lo­ge Astrea und die Schwe­di­sche Pro­vin­zi­al-Groß­lo­ge von Ruß­land.
Die Groß­lo­ge Astrea über­nimmt aus­schließ­lich die drei Gra­de (eng­li­sches System), über­läßt es aber den Frei­mau­rer­mei­stern, auch den Hoch­gra­den zu fol­gen. Die Astrea-Groß­lo­ge mit Sitz in St. Peters­burg zählt zu der Zeit 23 Logen. Astrea erlaubt die Erlan­gung der Hoch­gra­de („high ranks or degrees of the high Maso­nic sci­en­ces“). Für alles, was die Hoch­gra­de betrifft, ist das Groß­ka­pi­tel der aner­kann­ten Riten zustän­dig, des­sen Vor­sit­zen­der der Groß­mei­ster der Groß­lo­ge Astrea ist (vgl. S. 280). Noch 1819 befaßt sich die Groß­lo­ge Astrea mit den Drei Gra­den, arbei­tet aber in guter Har­mo­nie mit dem Groß­ka­pi­tel der aner­kann­ten Riten (vgl. S. 281)…

Das deut­sche Ele­ment über­wiegt in der Groß­lo­ge Astrea (vgl. S. 281). So wur­de 1819 in St. Peters­burg unter der Obö­di­enz von Astrea die Loge Nr. 1 „Peter zur Wahr­heit“ gegrün­det, die in deut­scher Spra­che arbei­tet, was durch die vie­len deut­schen Fami­li­en­na­men der 130 Mit­glie­der Bestä­ti­gung fin­det. Auch in der Loge Nr. 3 „Isis“ in Reval wird die deut­sche Spra­che ver­wen­det. Alle Mit­glie­der tra­gen deut­sche Fami­li­en­na­men (vgl. S. 282).

In den Jah­ren 1819/​1820 unter­hält die Groß­lo­ge Astrea 24 Logen:

  • 7 Logen prak­ti­zie­ren den von Ham­bur­ger Frei­mau­rern modi­fi­zier­ten Eng­li­schen Ritus;
  • 2 Logen prak­ti­zie­ren den Zinnendorf-Ritus;
  • 6 Logen prak­ti­zie­ren den Rek­ti­fi­zier­ten Ritus der Stren­gen Observanz;
  • 8 Logen prak­ti­zie­ren den Schwe­di­schen Ritus.
  • 1 Loge prak­ti­ziert den Eng­li­schen Ritus, modi­fi­ziert durch den Frei­mau­rer Ignaz Aure­li­us Fess­ler3 (vgl. S. 285).

Die mei­sten Frei­mau­rer der Groß­lo­ge Astrea sind deut­scher Her­kunft. Ihr sind sowohl Hoch­grad­ka­pi­tel (von denen vie­le aus Frank­reich impor­tiert wur­den) als auch Rosen­kreu­zer-Logen ange­schlos­sen. Laut ihren Sta­tu­ten hat die Groß­lo­ge fol­gen­de Zie­le: das Glück der Mensch­heit durch die Ver­brei­tung von Moral, Tugend, Reli­gi­on, Treue zum Sou­ve­rän und strik­ten Gehor­sam gegen­über den Geset­zen des Rei­ches anzu­stre­ben (vgl. S. 285).

Br. Telep­new stellt fest, daß die Zie­le der rus­si­schen Frei­mau­re­rei zur Zeit Alex­an­ders I. immer noch die glei­chen sind wie zur Zeit Jelag­ins, aber obwohl es immer noch pro­mi­nen­te Rus­sen gibt, haben die Deut­schen nicht nur maß­geb­li­chen Ein­fluß auf die Frei­mau­re­rei, den sie bald nach deren Ein­füh­rung in Ruß­land gewan­nen, son­dern auch das domi­nie­ren­de Ele­ment in den Logen. Mit dem Rück­zug der Rus­sen und der Auf­tei­lung in ver­schie­de­ne Riten scheint die rus­si­sche Frei­mau­re­rei im Ruß­land Alex­an­ders I. nicht mehr die ent­schei­den­de Rol­le zu spie­len, die sie frü­her hat­te (vgl. S. 285).

In der Zwi­schen­zeit steigt die Zahl der Frei­mau­rer in der pol­ni­schen Ari­sto­kra­tie und unter pro­mi­nen­ten Ange­hö­ri­gen der katho­li­schen Kir­che wie zum Bei­spiel Bischof Pusi­na. Doch die Jesui­ten blei­ben der Frei­mau­re­rei gegen­über feind­lich ein­ge­stellt. Zar Alex­an­der I. änder­te sei­ne Hal­tung gegen­über den Logen, viel­leicht beein­flußt durch Öster­reichs Kanz­ler Wen­zel Fürst Met­ter­nich und die Jesui­ten. Am 6. August 1822 ver­bot ein Dekret in Ruß­land die Geheim­ge­sell­schaf­ten, dar­un­ter auch die Frei­mau­re­rei. Eine Zeit­lang war die Frei­mau­re­rei wei­ter­hin aktiv, ins­be­son­de­re in den Pro­vin­zen des Rus­si­schen Rei­ches. Dann erließ Zar Niko­laus I. 1826 ein stren­ge­res Edikt, das die Zahl der akti­ven Frei­mau­rer in Ruß­land dra­stisch redu­zier­te. Zwei­fel­los arbei­te­ten frei­mau­re­ri­sche und ande­re geheim­bünd­le­ri­sche Grup­pen in Euro­pa gegen Kir­che und Staat, aber – so Telep­new – in Ruß­land sei dies nicht der Fall gewe­sen… Doch bis in die letz­ten Jah­re des Zaren­rei­ches gilt die Frei­mau­re­rei als Trä­ge­rin revo­lu­tio­nä­rer Ideen und des Athe­is­mus bzw. als Zen­trum jüdi­scher Orga­ni­sa­tio­nen mit dem Ziel, das Chri­sten­tum zu besei­ti­gen (vgl. S. 286).

1.6 Die russische Rosenkreuzer-Freimaurerei

In einer wei­te­ren Stu­die für die Lon­do­ner Loge „Qua­tu­or Coro­na­ti“ aus dem Jahr 1925 beschreibt Br. Telep­new eini­ge Aspek­te der Rosen­kreu­zer-Frei­mau­re­rei unter der Herr­schaft von Zar Alex­an­der I. (1777–1825), dem Nach­fol­ger von Zar Paul I., der 1801 ermor­det wur­de (vgl. Br. Boris Telep­neff: Some aspects of Rus­si­an Free­ma­son­ry during the reign of the Emper­or Alex­an­der I, in: AQC38 (1925), S. 6–66). Telep­new berich­tet, daß die alten rus­si­schen Frei­mau­rer mit dem Mysti­zis­mus („the spi­rit of mysti­cism“) ver­bun­den waren, der zur Zeit Katha­ri­nas II. in der rus­si­schen Frei­mau­re­rei sehr aktiv war. Wor­in aber besteht die­se „christ­li­che Mystik“? Telep­new macht es sehr deut­lich: Es ist das Rosen­kreu­zer­tum (vgl. S. 8), des­sen Mystik er auf­zeigt: „mysti­cal work of the ‘Order of the Rosy Cross’, stu­dy­ing eso­te­ric Chri­stia­ni­ty, and also alche­my, magic and simi­lar sub­jects“ („die mysti­sche Arbeit des ‚Ordens vom Rosen­kreuz‘, das Stu­di­um des eso­te­ri­schen Chri­sten­tums, aber auch der Alche­mie, der Magie und ähn­li­cher The­men“). Zu ihren „spi­ri­tu­el­len Mei­stern“ zählt er Jacob Böh­me, Basi­li­us Valen­ti­nus und Para­cel­sus (vgl. S. 9). Die rosen­kreu­ze­ri­schen Frei­mau­rer sind auch der jüdi­schen Kab­ba­la zuge­tan (vgl. S. 34). Telep­new macht deut­lich, was das Ziel der mysti­schen For­schung der rus­si­schen Frei­mau­rer jener Zeit war: die okkul­ten Wis­sen­schaf­ten (vgl. S. 34).

1.7 Die schwedische Freimaurerei in Rußland

Die Loge „Qua­tu­or Coro­na­ti“ ver­öf­fent­lich­te 1926 eine wei­te­re Stu­die von Br. Telep­new. dies­mal über die Geschich­te der schwe­di­schen Frei­mau­re­rei in Ruß­land (vgl. Br. Boris Telep­neff: A few pages from the Histo­ry of Swe­dish Free­ma­son­ry in Rus­sia, in: AQC 39, 1926, S. 174–196).

Telep­new stellt fest, daß sich die rus­si­schen Frei­mau­rer des 18. Jahr­hun­derts als „mysti­cal phi­lo­so­phers sear­ching for the Light and more Light“ („mysti­sche Phi­lo­so­phen auf der Suche nach dem Licht und nach mehr Licht“) defi­nier­ten… Im 18. Jahr­hun­dert gab es eine zeit­lang zwei Frei­mau­rer­sy­ste­me, die von den rus­si­schen Herr­schern gedul­det oder sogar geför­dert wur­den: das eng­li­sche 3‑Grad-System und den Schwe­di­schen Ritus (vgl. S. 174). Telep­new ent­hüllt, daß der Schwe­di­sche Ritus, der auch in Ruß­land prak­ti­ziert wur­de, aus drei Ele­men­ten bestand: 1) den drei Grund­gra­den oder „Sym­bo­lic Mason­ry“, 2) den Temp­ler­gra­den („Tem­plar Degrees“) und 3) dem Rosen­kreu­zer­tum („Rosi­durcia­nism“ oder „the mysti­cism of eso­te­ric Chri­stia­ni­ty“) (vgl. S. 182f). Telep­new sagt, daß die Rosen­kreu­zer­gra­de des Schwe­di­schen Ritus das Stu­di­um der Theo­so­phie und der Alche­mie anreg­ten („A stu­dy of Theo­so­phy and Alche­my was indu­ced by Rosi­cru­ci­ans degrees“, S. 183). Ich den­ke, daß mit „Theo­so­phie“ die jüdi­sche Kab­ba­la gemeint ist… Telep­new erklärt, daß das Ziel des Schwe­di­schen Ritus die Wie­der­ver­ei­ni­gung mit Chri­stus ist (vgl. S. 183)… Ja, aber wel­cher Chri­stus? Wir kön­nen so ant­wor­ten: ein rosen­kreu­ze­ri­scher, alche­mi­sti­scher, kab­ba­li­sti­scher, kurz gesagt, gno­sti­scher Chri­stus. In der Tat war, laut Telep­new, der 10. und höch­ste Grad des Schwe­di­schen Ritus: „10° Bre­th­ren of the Rosy Cross“ S. 183).

Telep­new bemerkt zudem, daß der Schwe­di­sche Ritus Frei­mau­rer aus den besten Fami­li­en des rus­si­schen Adels anzog, nicht zuletzt weil zu sei­nen erklär­ten Zie­len der Kampf gegen athe­isti­sche und radi­ka­le Ideen gehör­te (vgl. S. 186)…

(Fort­set­zung Teil 2)

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze gewid­met hat. Durch sei­ne Ver­öf­fent­li­chun­gen bringt er den Nach­weis, daß die Frei­mau­re­rei von Anfang an bis heu­te eso­te­ri­sche und gno­sti­sche Ele­men­te ent­hielt, die ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen Glau­bens­leh­re begründen.

Übersetzung/​Fußnoten: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Roma­na/­Wi­ki­com­mon­s/RT­M/F­rei­mau­rer-Lexi­kon (Scree­en­shots)


1 Boris Was­sil­je­witsch Telep­new, der bereits wäh­rend des Ersten Welt­kriegs in Ruß­land als Buch­au­tor in Erschei­nung getre­ten war mit der Klein­schrift „Euro­pa im Krieg“ (1916).

2 Das Gou­ver­ne­ment Ukrai­ne umfaß­te die heu­ti­ge mitt­le­re Ukrai­ne um Kiew, beid­sei­tig des Dnjepr, ohne den Westen, den Osten und den Süden der heu­ti­gen Ukraine

3 Ignaz Aure­li­us Feß­ler (1756 gebo­ren in Zurn­dorf in Deutsch-West­un­garn, heu­te Bur­gen­land, 1839 gestor­ben in St. Peters­burg) trat 1773 in den Kapu­zi­ner­or­den ein, 1779 wur­de er zum Prie­ster geweiht. Über sei­ne katho­li­sche Zeit ver­brei­te­te er selbst spä­ter aben­teu­er­li­che Geschich­ten. Kai­ser Joseph II., dem Feß­ler per­sön­lich bekannt wur­de, ernann­te ihn 1783 zum Pro­fes­sor der ori­en­ta­li­schen Spra­chen und des Alten Testa­ments an der Uni­ver­si­tät Lem­berg. Dort ließ er sich in die Frei­mau­rer­lo­ge „Phö­nix zur run­den Tafel“ initi­ie­ren und wur­de aus dem Kapu­zi­ner­or­den ent­las­sen. Kurz dar­auf gab er auch sein Prie­ster­tum auf und ver­faß­te anti­ka­tho­li­sche Schrif­ten. Er begab sich ganz in die Hän­de der Frei­mau­rer bzw. auch per­sön­lich ganz der Frei­mau­re­rei hin. 1791 fiel er offi­zi­ell von der katho­li­schen Kir­che ab, schloß sich dem Luther­tum an und hei­ra­te­te. Die Ehe wur­de jedoch nach weni­gen Jah­ren wie­der getrennt. In Ber­lin refor­mier­te er mit Johann Gott­lieb Fich­te die Logen­sta­tu­ten der Roy­al York. 1809 erfolg­te sei­ne Beru­fung als Pro­fes­sor der ori­en­ta­li­schen Spra­chen nach St. Peters­burg und er bemüh­te sich um die Lega­li­sie­rung der Frei­mau­re­rei, die 1810 unter Zar Alex­an­der I. gelang. Sei­ne Pro­fes­sur wur­de ihm bereits 1811 wegen des Ver­dachts des Athe­is­mus wie­der ent­zo­gen. Er wur­de dar­auf Super­in­ten­dent der luthe­ri­schen Gemein­de in Sara­tow, dann Gene­ral­su­per­in­ten­dant der luthe­ri­schen Gemein­de in St. Petersburg.

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