Freimaurerei und Esoterik in Rußland seit dem 18. Jahrhundert (Teil 2)


Die Kabbala in der Freimaurerei in Russland vor und nach 1800
Die Kabbala in der Freimaurerei in Russland vor und nach 1800

Frei­mau­re­rei und Eso­te­rik in Ruß­land seit dem 18. Jahr­hun­dert (Teil 1)

Anzei­ge

Von Pater Pao­lo M. Siano*

2. Die Kabbala in der russischen Freimaurerei im 18./19. Jahrhundert

2004 war Kon­stan­tin Bur­mi­strow (geb. 1969) Assi­stent für jüdi­sche Phi­lo­so­phie und jüdi­sche Mystik am Insti­tut für Phi­lo­so­phie der Rus­si­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und Maria I. Endel (geb. 1974) war Dozen­tin für jüdi­sche Phi­lo­so­phie und jüdi­sche Mystik an der Hebräi­schen Uni­ver­si­tät Mos­kau.

In jenem Jahr 2004 ver­öf­fent­lich­ten die bei­den Wis­sen­schaft­ler einen Auf­satz über die jüdi­sche Kab­ba­la in der Leh­re der rus­si­schen Frei­mau­rer: „The Place of Kab­ba­lah in the doc­tri­ne of Rus­si­an Free­ma­sons“ (in: Aries – Jour­nal for the Stu­dy of Western Eso­te­ri­cism, (2004), S. 27–68). Um dem Leser zu hel­fen, die­sen Auf­satz, der die Geschich­te der rus­si­schen Frei­mau­re­rei zwi­schen dem 18. und 19. Jahr­hun­dert nach­zeich­net, ein­zu­ord­nen und zu ver­ste­hen, wer­de ich ver­schie­de­ne histo­ri­sche Daten wie­der­ho­len, die ich bereits im ersten Teil erwähnt habe.

2.1 Periodisierung und Trends in der russischen Freimaurerei

Gegen Ende des 18. Jahr­hun­derts gab es in Ruß­land mehr als 150 Logen mit ins­ge­samt 8.000 Frei­mau­rern, von denen mehr als 3.100 iden­ti­fi­ziert wer­den konn­ten. Sie sind meist Staats­män­ner, Ari­sto­kra­ten, Intel­lek­tu­el­le, Offi­zie­re, Sol­da­ten, Schrift­stel­ler, Wis­sen­schaft­ler, Geist­li­che usw. Burmistrow/​Endel nen­nen als Haupt­be­stand­tei­le der frei­mau­re­ri­schen Tra­di­ti­on: „Mystik, Alche­mie und Kab­ba­la“ (S. 27). Die Rol­le der Kab­ba­la in der frei­mau­re­ri­schen Tra­di­ti­on ist äußerst wich­tig („extre­me­ly important“, S. 28).

Die Geschich­te der rus­si­schen Frei­mau­re­rei im 18. Jahr­hun­dert läßt sich in drei Peri­oden einteilen:

  1. Von 1740 bis zur Thron­be­stei­gung Katha­ri­nas II. (1762) wird die Frei­mau­re­rei als eine unkri­tisch aus dem Westen impor­tier­te „Mode“ betrachtet.
  2. Von 1762 bis in die frü­hen 1780er Jah­re wird die Frei­mau­re­rei als die erste Moral­phi­lo­so­phie in Ruß­land ange­se­hen („the first moral phi­lo­so­phy in Rus­sia“), in ihr herrscht das eng­li­sche 3‑Grad-System oder die „sym­bo­li­sche“ oder „Johannes“-Freimaurerei vor.
  3. Ab 1780 ist die „rosen­kreu­ze­ri­sche“ Peri­ode, d. h., sie wird von den frei­mau­re­ri­schen Hoch­gra­den beherrscht (vgl. S. 28). Dann kommt 1822 das staat­li­che Ver­bot jeg­li­cher frei­mau­re­ri­scher Tätig­keit, die im gehei­men wei­ter­geht (vgl. S. 28f), was ohne­hin eher dem Initia­ti­ons­cha­rak­ter der Frei­mau­re­rei entspricht.

Burmistrow/​Endel sehen zwei Haupt­ten­den­zen in der rus­si­schen Frei­mau­re­rei des spä­ten 18. und frü­hen 19. Jahr­hun­derts: die ratio­na­li­stisch-dei­sti­sche oder auf­klä­re­ri­sche Ten­denz und die „mysti­sche“ Ten­denz. Erste­re ist typisch für die Drei-Gra­de-Frei­mau­re­rei, die von Groß­mei­ster Iwan Jelagin (1725–1794) ange­führt wird, der sich zunächst für die Ideen Vol­taires begei­stert, sich spä­ter aber von die­sen distan­ziert, denn dann begei­stert sich Jelagin für die Kab­ba­la (vgl. S. 29).

2.2 Die Mystik der russischen Freimaurerei im 18./19. Jahrhundert

Die „mysti­sche“ Ten­denz der rus­si­schen Frei­mau­re­rei des 18. Jahr­hun­derts zeigt sich vor allem in den Hochgraden:

  1. Der Schwe­di­sche Ritus mit dem „Capi­tu­lum Phoe­nix“, des­sen Groß­mei­ster Fürst Gabri­el Gaga­rin (1745–1808) ist. Die­ser Ritus beschäf­tigt sich auch mit der Kab­ba­la, der Magie und der Alche­mie (vgl. S. 30).
  2. Der Orden der Gold- und Rosen­kreu­zer ist ein frei­mau­re­risch-rosen­kreu­ze­ri­sches Hoch­grad­sy­stem, das um 1780 von Deutsch­land nach Ruß­land ver­pflanzt wur­de. Die­ser Orden ent­stand in Deutsch­land um 1755/​56 [wahr­schein­lich erst 1757]. Zu sei­nen Grün­dern gehö­ren: Bern­hard Joseph Schleiß von Löwen­feld (1731–1800), Johann Georg Schre­p­fer (1738–1774), Hein­rich-Jacob von Schrö­der und Johann Chri­stoph von Wöll­ner (1732–1800) (vgl. S. 30f).

Die Haupt­leh­ren die­ses Rosen­kreu­zer­or­dens ent­stam­men der Kab­ba­la: der Baum der zehn Sephi­r­ot (Emana­tio­nen Got­tes), die mysti­sche Num­e­ro­lo­gie, Adam Kad­mon (Urmensch, von Gott ema­niert) usw. (vgl. S. 31f). Die kab­ba­li­sti­schen Leh­ren des Ordens vom Gol­de­nen Rosen­kreuz wer­den von den rus­si­schen Frei­mau­rern auf­ge­grif­fen. Das End­ziel die­ses Rosen­kreu­zer­or­dens ist: die okkul­ten Kräf­te der Natur zu erwecken, das natür­li­che Licht zu befrei­en, das nach der Ver­ur­tei­lung tief in den Abfäl­len ver­gra­ben ist, in jedem Bru­der eine Fackel zu ent­zün­den, die ihm hilft, den ver­bor­ge­nen Gott zu sehen und sich so mit der Urquel­le des Lichts zu ver­ei­nen (vgl. S. 32). Kurz­um: Magie und Gnosis.

Von Wöll­ner, dann Johann Chri­stoph Anton The­den (1714–1797), der Leib­arzt von Fried­rich dem Gro­ßen, und ihr Gesand­ter in Mos­kau, Baron Hein­rich-Jacob von Schrö­der, sind die Füh­rer der Mos­kau­er „Brü­der“ und Haupt­quel­le für frei­mau­re­ri­sche Infor­ma­tio­nen und mysti­sche Lite­ra­tur. Johann Schwarz (1751–1784), einer der füh­ren­den Frei­mau­rer in Ruß­land, traf 1782 in Deutsch­land mit Wöll­ner und The­den zusam­men und erhielt von ihnen:

  • a) die Ernen­nung zum allei­ni­gen und ober­sten Lei­ter des Ordens vom Gol­de­nen Rosen­kreuz im Rus­si­schen Reich;
  • b) die Akten des „Theo­re­ti­schen Gra­des“ („acts of the “Theo­re­tic Degree“);
  • c) die Erlaub­nis, die Arbeit des Ordens in Ruß­land auf­zu­neh­men (vgl. S. 33f).

Die rus­si­schen Rosen­kreu­zer von Schwarz und Niko­lai Nowi­kow (1744–1818) haben ihr Zen­trum in Mos­kau, sind stark an der Kab­ba­la („Jewish Kab­ba­lah“) und auch an der Alche­mie, den christ­li­chen Kab­ba­li­sten, den Ideen von Lou­is-Clau­de de Saint-Mar­tin oder dem Mar­ti­nis­mus inter­es­siert (vgl. S. 34).

2.3 Kabbalisten unter den russischen Freimaurern: wenige? Aber sicherlich einflußreich

Burmistrow/​Endel sind der Mei­nung, daß es nur weni­ge rus­si­sche Frei­mau­rer gibt, die sich inten­siv mit dem Stu­di­um der Mystik, der Alche­mie, der Kab­ba­la befas­sen… Es han­delt sich haupt­säch­lich um Rosen­kreu­zer und Frei­mau­rer, die den Grad eines „Theo­re­ti­kers“ des Gol­de­nen Rosen­kreu­zes errei­chen (vgl. S. 34f). Doch auch wenn es nur weni­ge waren, hat­ten sie eine beacht­li­che Auto­ri­tät und einen gro­ßen Ein­fluß („a gre­at aut­ho­ri­ty and influence“, S. 35).

Die Struk­tur der rus­si­schen Frei­mau­re­rei die­ser Zeit ist fle­xi­bel: Eini­ge Logen oder Logen­ver­bän­de ste­hen sich feind­lich gegen­über, wäh­rend ande­re sich zusam­men­schlie­ßen, wie in den 1770er Jah­ren das eng­li­sche Jelagin-System und Rei­chels Ber­li­ner Logen des Schwe­di­schen Ritus („Reichel’s Swe­dish-Ber­lin lodges“). Es gibt auch Frei­mau­rer, die gleich­zei­tig meh­re­ren Riten ange­hö­ren, in denen sie Füh­rungs­auf­ga­ben wahr­neh­men (vgl. S. 35).

Einer der enthu­sia­stisch­sten rus­si­schen Frei­mau­rer in Sachen „Kab­ba­la“ ist Jelagin, das Ober­haupt der eng­li­schen Frei­mau­re­rei in Ruß­land (vgl. S. 35).

2.4 Rosenkreuzer-Freimaurer zwischen Kabbala-Gnosis, russischer Orthodoxie und Sozialreformismus

Die über­wie­gen­de Mehr­heit der rus­si­schen Rosenkreuzer/​Martinisten (alle Frei­mau­rer) und der rus­si­schen Frei­mau­rer mit dem Grad eines Theo­re­ti­kers sind ortho­do­xe Chri­sten und mit der Leh­re und Spi­ri­tua­li­tät der Patri­stik ver­traut (vgl. S. 35). Unter den Mos­kau­er Rosen­kreu­zer-Frei­mau­rern ist der Ver­le­ger, Zei­tungs­her­aus­ge­ber und Biblio­the­kar Niko­lai Iwa­no­witsch Nowi­kow pro­mi­nent ver­tre­ten. Die rus­si­schen Frei­mau­rer des spä­ten 18. Jahr­hun­derts, von denen vie­le hohe gesell­schaft­li­che Posi­tio­nen inne­hat­ten, ver­ban­den in ihrem Leben: ortho­do­xen Glau­ben und Fröm­mig­keit, Alche­mie, Kab­ba­la und Enga­ge­ment in den Berei­chen Erzie­hung, Wohl­fahrt, aka­de­mi­sche Leh­re, Medi­zin, Thea­ter, Mili­tär, Poli­tik… (vgl. S. 36f). Hin­ter die­ser sozia­len Tätig­keit steht ein Welt- und Men­schen­bild der Mos­kau­er Rosen­kreu­zer, das „eine im Gno­sti­zis­mus ver­wur­zel­te frei­mau­re­ri­sche Ver­si­on des bibli­schen Mythos vom Sün­den­fall wider­spie­gelt“ („a con­cept of the world and the human race, reflec­ting a maso­nic ver­si­on, roo­ted in gno­sti­cism, of the bibli­cal myth of the fall of man“, S. 37), und sie über­neh­men kab­ba­li­sti­sche Ideen wie die der uni­ver­sel­len Wie­der­her­stel­lung, Tik­kun-ha-olam, typisch für die Kab­ba­la von Isaac Luria, d. h. die Leh­re von der uni­ver­sel­len Wie­der­ein­glie­de­rung in die Ord­nung oder Har­mo­nie, die durch die als „Zer­bre­chen der Gefä­ße“ bekann­te Urka­ta­stro­phe zer­stört wur­de… Nach die­ser kab­ba­li­sti­schen Dok­trin muß der Mensch in die unte­ren Regio­nen des Uni­ver­sums ein­drin­gen, um die dort gefan­ge­nen Licht­fun­ken zu befrei­en (vgl. S. 37, Text und Fuß­no­te 41).

2.5 Die Kabbala in der russischen Freimaurertradition

Im Abschnitt „Maso­nic tra­di­ti­on and Kab­ba­lah“ schrei­ben Burmistrow/​Endel, daß die Kab­ba­la die Grund­la­ge der Theo­so­phie, Kosmo­go­nie und Her­me­neu­tik der rus­si­schen Frei­mau­rer ist, und unter­schei­den drei kab­ba­li­sti­sche Ebe­nen: 1) Stre­ben nach Voll­kom­men­heit; 2) Kennt­nis der Sephi­r­ot und der vier Wel­ten; 3) Ver­ständ­nis der spi­ri­tu­el­len Sprache.

„Die Kab­ba­la liegt der Theo­so­phie, der Kosmo­go­nie und der Her­me­neu­tik zugrun­de und beglei­tet den Ein­ge­weih­ten auf allen drei Stu­fen sei­nes Auf­stiegs zur Wahr­heit. Auf der ersten Stu­fe lehrt sie ihn, das Licht des immer­wäh­ren­den, himm­li­schen Wesens Adam Kad­mon zu besit­zen, und er soll­te nach sei­ner Voll­kom­men­heit stre­ben. Auf der zwei­ten Stu­fe bie­tet sie ihm das inte­grier­te Bild der kab­ba­li­sti­schen Welt der zehn Sephi­r­ot und vier Ola­mot. Das ist beson­ders wich­tig auf der drit­ten Stu­fe, wenn die Kab­ba­la not­wen­dig wird, um die ‚spi­ri­tu­el­le Spra­che‘ der Hei­li­gen Schrift zu ver­ste­hen, und zwar mit Hil­fe der kab­ba­li­sti­schen Her­me­neu­tik. Es ist nicht ver­wun­der­lich, daß gera­de die Regeln und Metho­den der kab­ba­li­sti­schen Her­me­neu­tik für die rus­si­schen Frei­mau­rer so wich­tig waren; wir kön­nen ihre Beschrei­bung in fast allen frei­mau­re­ri­schen Manu­skrip­ten fin­den, die sich mit kab­ba­li­sti­schen Ange­le­gen­hei­ten beschäf­ti­gen“ (S. 38).

Wir wer­den sehen, daß die­se drei kab­ba­li­sti­schen Stu­fen den Zie­len der drei Gra­de der eng­li­schen Frei­mau­rer ähn­lich sind.

Trotz ver­schie­de­ner Unter­schie­de haben die oben genann­ten frei­mau­re­ri­schen Syste­me oder Riten eini­ge grund­le­gen­de, kab­ba­li­sti­sche Kon­zep­te gemein­sam: der Urmensch oder Adam Kad­mon, sein Sün­den­fall und die anschlie­ßen­de Reinte­gra­ti­on, der sich der Frei­mau­rer anschließt… Der Adam/​Freimaurer besaß ursprüng­lich Tugend und wah­res Wis­sen… Das des Uradams/​Freimaurers ist ein syn­kre­ti­sti­sches („high­ly syn­cre­tic“) Ele­ment, das sich aus meh­re­ren Quel­len speist: der Bibel, den Apo­kry­phen, dem Her­me­tis­mus, dem Gno­sti­zis­mus, der Kab­ba­la (vgl. S. 38). Nach der Leh­re des Mar­ti­nis­mus ist der Ur-Adam oder der erste Adam der immer­wäh­ren­de Jesus-Mes­si­as, wäh­rend der zwei­te Adam oder der inkar­nier­te Jesus die Mani­fe­sta­ti­on des ersten Adams ist… Obwohl sie ortho­do­xe Chri­sten sind, über­neh­men die rus­si­schen Frei­mau­rer die jüdisch-kab­ba­li­sti­sche Leh­re von Adam Kad­mon (vgl. S. 38f).

Burmistrow/​Endel sagen nicht, daß der Adam Kad­mon das Männ­li­che und das Weib­li­che in sich trägt, also andro­gyn ist.

Die Kab­ba­la treibt den Adep­ten zur Selbst- und Natur­er­kennt­nis, also zur Got­tes­er­kennt­nis, denn Makro­kos­mos und Mikro­kos­mos sind mit­ein­an­der ver­floch­ten, der eine ist ein Spie­gel des ande­ren… Sie ist „eine Wie­der­be­le­bung der neu­pla­to­ni­schen und gno­sti­schen Leh­ren“ („a revi­val of Neo­pla­to­nic and Gno­stic doc­tri­nes“). Im Sün­den­fall wird ein Fun­ke des Lichts von der Fin­ster­nis ein­ge­fan­gen (vgl. S. 39f). Der frei­mau­re­ri­sche Weg ermög­licht dem Adep­ten Erkennt­nis, Erleuch­tung, Ver­gött­li­chung: „Frei­mau­re­ri­sche mysti­sche Erkennt­nis, mysti­sche Erleuch­tung, bis hin zur Ver­ei­ni­gung mit der Gott­heit“ („Maso­nic mysti­cal know­ledge, mysti­cal illu­mi­na­ti­on, up to the uni­on with the God­head“, S. 40).

Im wei­te­ren Ver­lauf ver­glei­chen die bei­den rus­si­schen Gelehr­ten die drei kab­ba­li­sti­schen Stu­fen mit den drei frei­mau­re­ri­schen Gra­den des eng­li­schen Systems:

„Die frei­mau­re­ri­sche Erkennt­nis­theo­rie ver­langt daher, daß der Ein­ge­weih­te drei Stu­fen durch­läuft. In der ersten Stu­fe ist er mit der mora­li­schen Selbst­kor­rek­tur und der Erkennt­nis der dem Men­schen inne­woh­nen­den Geheim­nis­se beschäf­tigt. In der zwei­ten Stu­fe muß er die Natur ken­nen­ler­nen. In der drit­ten Stu­fe wer­den die Geheim­nis­se der Natur und Got­tes auf einer höhe­ren Ebe­ne mit Hil­fe der ‚gei­sti­gen Spra­che‘ der Hei­li­gen Schrift ver­stan­den. Die­ser drei­stu­fi­ge Weg gilt als die Rück­kehr zu jener Zeit, als ‚das Buch der Natur für das mensch­li­che Ver­ständ­nis geöff­net wur­de und der Mensch alle ihre Geheim­nis­se mit sei­nem Ver­stand begrei­fen konn­te‘“ (S. 41).

Im Abschnitt: „The true Kab­ba­lah“, „Die wah­re Kab­ba­la“, lesen wir: „Die rus­si­schen Frei­mau­rer betrach­te­ten die ‚wah­re Kab­ba­la‘ als einen wesent­li­chen Teil der ursprüng­li­chen Weis­heit, die für den gefal­le­nen Men­schen erfor­der­lich ist, um nach ‚Eden‘ zurück­zu­keh­ren“ (S. 42).

Der bereits erwähn­te Iwan Jelagin, Pro­vinz­groß­mei­ster von Ruß­land, der mit der eng­li­schen Groß­lo­ge der „Moderns“ ver­bun­den ist, ist der Ansicht, daß die Kab­ba­la eine Leh­re von den gött­li­chen Geheim­nis­sen ist, die von Gott offen­bart wur­den und für die Erkennt­nis Got­tes wesent­lich und nütz­lich sind… Sie ist die wah­re Kennt­nis der Alle­go­rien, Sym­bo­le und Hie­ro­gly­phen der gött­li­chen Wor­te… Salo­mo kann­te die Kab­ba­la (vgl. S. 42).

Laut dem bereits erwähn­ten Johann Schwarz, Füh­rer der Mos­kau­er Rosen­kreu­zer (1782–1784), war die Frei­mau­re­rei eine Geheim­wis­sen­schaft, deren erste Adep­ten jüdi­sche Sek­tie­rer waren („mason­ry was a secret sci­ence who­se first adepts were Jewish sec­ta­ri­ans“, S. 42). Nach der Leh­re der rus­si­schen Rosen­kreu­zer wur­de ein Licht­fun­ke von Adept zu Adept durch die Über­lie­fe­rungs­ket­te wei­ter­ge­ge­ben. Die­ses Geheim­nis wur­de an die Esse­ner und schließ­lich an den Rosen­kreu­zer­or­den wei­ter­ge­ge­ben, die die­sen Licht­fun­ken mit den Tugen­den ihrer Vor­fah­ren emp­fin­gen. Hier liegt für die rus­si­schen Rosen­kreu­zer (d. h. Frei­mau­rer des Gol­de­nen Kreu­zes) die frei­mau­re­ri­sche Tra­di­ti­on (vgl. S. 42f).

2.5.1 Kabbala in der freimaurerischen „Arbeit“ (von der Alchemie/​Magie zum Sozialen…)

In dem Abschnitt „Tik­kun ha-olam: the aims of maso­nic acti­vi­ty and Kab­ba­lah“, „Tik­kun ha-olam: Zie­le der frei­mau­re­ri­schen Arbeit und der Kab­ba­la“, lesen wir, daß die frei­mau­re­ri­sche Tätig­keit nicht nur in der Selbst­er­kennt­nis, dem Wis­sen über die Natur und Gott besteht, son­dern vor allem in der alche­mi­sti­schen und kab­ba­li­sti­schen (“kab­ba­li­stic and alche­mical“) Pra­xis der Ver­bes­se­rung und Ret­tung oder Wie­der­her­stel­lung (“tik­kun“) der gefal­le­nen Welt mit Adam… Wie die Schöp­fung ein alche­mi­sti­sches Werk ist, so ist es auch die Wiederherstellung/​Wiedereingliederung… Alche­mi­stisch und kab­ba­li­stisch muß man Metall in Sil­ber und Gold umwan­deln, die sephi­ra Din (Urteil) in sephi­ra Hesed (Näch­sten­lie­be)… Rei­ni­gung des Men­schen und der Sphä­ren des Uni­ver­sums (vgl. S. 43f). Des­halb wid­men sich die Frei­mau­rer der Phil­an­thro­pie, den sozia­len Anlie­gen und gleich­zei­tig der eso­te­ri­schen Alche­mie (vgl. S. 44). In einem Brief (des­sen Datum Burmistrow/​Endel nicht ange­ben) erklärt der Rosen­kreu­zer Fürst Niko­lai Trou­bez­koi (1744–1821) dem Frei­mau­rer Ale­xej A. Rzhew­ski (1737–1804) die Bedeu­tung der Kab­ba­la für die frei­mau­re­ri­sche Arbeit (vgl. S. 44).

Burmistrow/​Endel schrei­ben: „Wenn man die frei­mau­re­ri­sche Tra­di­ti­on als Gan­zes betrach­tet, kann man zu dem Schluß kom­men, daß die rus­si­schen Frei­mau­rer die Kab­ba­la erstens als Grund­la­ge für ihr kosmo­go­ni­sches System benutz­ten, das den hier­ar­chi­schen Auf­bau der himm­li­schen Welt erklärt, und für die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit die­ser Welt. Zwei­tens lie­fer­te die Kab­ba­la die Schlüs­sel zur Aus­le­gung der Hei­li­gen Schrift und zur Ent­deckung der tief­sten und geheim­sten Schich­ten des bibli­schen Tex­tes. Außer­dem kann man hin­ter der frei­mau­re­ri­schen Sote­rio­lo­gie eini­ge adap­tier­te kab­ba­li­sti­sche Kon­zep­te erken­nen, allen vor­an das Kon­zept des Tik­kun ha-olam. Für die Frei­mau­rer ent­hält die Kab­ba­la das wah­re Wis­sen über Gott, die Welt und den Men­schen und ermög­licht nicht nur eine uni­ver­sel­le Ände­rung, son­dern bestimmt auch ihre Wege und Pfa­de“ (S. 45).

In der Fuß­no­te 70 schrei­ben die bei­den rus­si­schen For­scher, daß das Kon­zept des Tik­kun ha-olam in der kab­ba­li­sti­schen Leh­re von Mar­ti­nez de Pas­qual­ly und sei­nem Schü­ler Lou­is-Clau­de de Saint-Mar­tin zu fin­den ist; die Schrif­ten und Ideen bei­der, des Mei­sters und des Schü­lers, waren bei den rus­si­schen Frei­mau­rern im spä­ten 18. Jahr­hun­derts weit verbreitet.

2.6 Kabbalistische Texte der russischen Freimaurer

Burmistrow/​Endel schrei­ben, im Mos­kau­er Staats­ar­chiv eine beträcht­li­che Anzahl frei­mau­re­ri­scher Manu­skrip­te ent­deckt zu haben, die auf ein gro­ßes Inter­es­se und Wis­sen der rus­si­schen Frei­mau­rer an der jüdi­schen Mystik hin­wei­sen (vgl. S. 45). Es las­sen sich drei Grup­pen von kab­ba­li­sti­schen Tex­ten unterscheiden:

  1. Über­set­zun­gen von kab­ba­li­sti­schen Ori­gi­nal­tex­ten oder zumin­dest Frag­men­ten davon. Die rus­si­schen Frei­mau­rer des 18. Jahr­hun­derts kann­ten wich­ti­ge kab­ba­li­sti­sche Tex­te wie das Sepher Yezi­rah (ein wich­ti­ger kosmo­go­ni­scher Text aus dem 6. Jahr­hun­dert n. Chr.) und das Sepher ha-Zoh­ar (13. Jahr­hun­dert) (vgl. S. 46f).
  2. Über­set­zun­gen aus dem Deut­schen und Latei­ni­schen ins Rus­si­sche von Wer­ken euro­päi­scher kab­ba­li­sti­scher Chri­sten und Kab­ba­la-Gelehr­ter. In die­sen Tex­ten wer­den die fol­gen­den kab­ba­li­sti­schen The­men detail­liert beschrie­ben: Sephi­r­ot, Namen Got­tes, hebräi­sche Buch­sta­ben, exege­ti­sche Metho­den (Gema­tria, Nota­ri­kon, Temurah)…
  3. Schrif­ten rus­si­scher Frei­mau­rer zu The­men der Kab­ba­la. Dies ist die inter­es­san­te­ste Grup­pe, weil sie einen Ein­blick in die frei­mau­re­ri­schen Ideen zur Kab­ba­la gibt (vgl. S. 47).

2.7 Großmeister Jelagin und seine Kabbala-Meister

Jelagin ist einer der bedeu­tend­sten rus­si­schen Frei­mau­rer zur Zeit Katha­ri­nas II. Er ist Sena­tor, Staats­mann, Schrift­stel­ler, Lei­ter der Staats­kanz­lei. In den 1750er Jah­ren trat Iwan Jelagin der Frei­mau­re­rei bei. Im Jahr 1770 wur­de er unter der Schirm­herr­schaft der Groß­lo­ge „Roy­al York“ in Ber­lin zum Groß­mei­ster der Pro­vinz­groß­lo­ge von Ruß­land gewählt, und am 26. Febru­ar 1772 erhielt er vom Groß­mei­ster der Groß­lo­ge von Eng­land („Moderns“) die Lizenz zum Pro­vinz­groß­mei­ster für das Rus­si­sche Reich. In einer unver­öf­fent­lich­ten Schrift schil­dert Jelagin sei­nen frei­mau­re­ri­schen Wer­de­gang: In sei­ner Jugend wur­de er in die Frei­mau­re­rei ein­ge­weiht, zog sich dann aber zurück, da er sie unat­trak­tiv fand. Nach einer kur­zen Pha­se der Begei­ste­rung für die Ideen von Vol­taire und Hel­ve­ti­us kehr­te Jelagin zu den Frei­mau­rern zurück und such­te nach Erkennt­nis­sen über die gött­li­chen Myste­ri­en (vgl. S. 48). Gegen Ende der 1770er Jah­re, her­aus­ge­for­dert durch sei­ne eige­ne anglo­phi­le rus­si­sche Frei­mau­re­rei, ver­tieft sich Jelagin in das Stu­di­um der Bibel, der Kir­chen­vä­ter, des Grie­chi­schen und Hebräi­schen (vgl. S. 49). Baron Johan­nes Georg von Reu­chel (1729–1791), ab 1771 in Ruß­land Lei­ter der Logen, die den Schwe­di­schen Ritus von Ber­lin, den Zin­nen­dorf-Ritus, prak­ti­zie­ren (vgl. S. 49), spielt dabei eine wich­ti­ge Rol­le. Dr. Johan­nes Wil­helm Kell­ner von Zin­nen­dorf (1731–1782), der ab 1765 Gene­ral­feld­stabs­me­di­kus der preu­ßi­schen Armee war. Der Frei­mau­rer Zin­nen­dorf pro­pa­gier­te den Schwe­di­schen Ritus in Deutsch­land und grün­de­te die Natio­na­le Groß­lo­ge von Deutsch­land (vgl. S. 49, Text und Fuß­no­te 88).

Reu­chel wird von der Natio­na­len Groß­lo­ge von Deutsch­land, die den Schwe­di­schen Ritus prak­ti­ziert, nach Ruß­land ent­sandt. Reu­chels rus­si­sche Mis­si­on besteht dar­in, die eng­li­sche Vor­herr­schaft in Frei­mau­rer­krei­sen zu bre­chen (vgl. S. 49, Fuß­no­te 87). Reu­chel und Jelagin ste­hen an der Spit­ze zwei­er riva­li­sie­ren­der Frei­mau­rer­sy­ste­me, die sich jedoch 1776 ver­ei­ni­gen. Dar­über hin­aus wird Reu­chel zu Jelag­ins Men­tor auf sei­nem spi­ri­tu­el­len Weg… Reu­chel, der von Jelagin als „wah­rer Frei­mau­rer“ bezeich­net wird, lei­tet Jelagin in sei­nem Wis­sen über die Kab­ba­la und den Tal­mud an (vgl. S. 49). Es ist Reu­chel, der Jelagin mit Manu­skrip­ten über die okkul­ten Wis­sen­schaf­ten und die Kab­ba­la ver­sorgt (vgl. S. 49).

Gegen Ende der 1770er Jah­re kommt Jelagin in Kon­takt mit einem ande­ren Exper­ten für die hebräi­sche Spra­che und die Kab­ba­la: Sta­nis­las Pines Eli (oder Ely), ein gebür­ti­ger Böh­me und Arzt in St. Peters­burg. Eli schreibt ein frei­mau­re­ri­sches Buch („Fra­ter­nal Admo­ni­ti­ons to Some Bre­th­ren Free Masons“), das bei den Mos­kau­er Rosen­kreu­zern sehr beliebt ist. Eli lehrt das Stu­di­um der Hei­li­gen Schrif­ten in einem kab­ba­li­sti­schen Sin­ne (vgl. S. 50). Laut Nowi­kow gehör­te Eli der Frei­mau­re­rei von Jelagin an (vgl. S. 51). Jelagin stu­dier­te natür­lich auch die Sephi­r­ot, Adam Kad­mon, Gema­tria, Nota­ri­kon, Tem­u­rah… Obwohl er der ortho­do­xen christ­li­chen Reli­gi­on ange­hört, lie­fert Jelagin eine kab­ba­li­sti­sche und nicht-christ­li­che Inter­pre­ta­ti­on des Neu­en Testa­ments: Jesus Chri­stus wäre der Adam Kad­mon, wäh­rend Jesus von Naza­reth ein Frei­mau­rer und eine der ‚Hie­ro­gly­phen‘ oder Bil­der von Jesus-Adam-Kad­mon wäre (vgl. S. 52). Burmistrow/​Endel bemer­ken dazu:

„Jelagin ist ein her­aus­ra­gen­des Phä­no­men, das uns zeigt, wie stark das Inter­es­se an der Kab­ba­la unter gebil­de­ten Rus­sen im spä­ten 18. Jahr­hun­dert war“ (S. 52).

2.8 Freimaurer-Rosenkreuzer, oder der Orden des Goldenen Kreuzes

Burmistrow/​Endel fah­ren mit dem Abschnitt „The Mos­cow Order of Rosi­cru­ci­ans“ fort, wo sie schrei­ben, daß die Kab­ba­la für die Frei­mau­rer des Ordens vom Gol­de­nen Rosen­kreuz sehr wich­tig ist (vgl. S. 53). Zu den wich­tig­sten Mit­glie­dern die­ses Ordens in Ruß­land im spä­ten 18. und frü­hen 19. Jahr­hun­dert gehör­ten Johann Schwarz, Niko­lai Nowi­kow, Semi­on Gam­a­le­ja (1743–1822), Niko­lai Trou­bez­koi, Joseph A. Poz­de­jev (1743–1822), Ruf S. Ste­panow (1745–1828). Die­se Per­sön­lich­kei­ten besa­ßen Hoch­gra­de, die als „Theo­re­ti­scher Grad der Salo­mo­ni­schen Wis­sen­schaf­ten und Rosen­kreu­zer­gra­de“ bezeich­net wur­den („the Theo­re­ti­cal Degree of the Solo­mon Sci­en­ces and Rosi­cru­ci­an degrees“, vgl. S. 53).

Michail Cher­as­kow

Zu den rus­si­schen Rosen­kreu­zern gehör­ten wich­ti­ge sozia­le Akti­vi­sten und hoch­ran­gi­ge Per­sön­lich­kei­ten wie der Kura­tor der Mos­kau­er Uni­ver­si­tät, der Dich­ter Michail Cher­as­kow (1733–1807), und Sena­tor Ivan Lopuch­in (1756–1816). Ihre Akti­vi­tä­ten kon­zen­trier­ten sich auf die Mos­kau­er Uni­ver­si­tät, die größ­ten Ver­lags­häu­ser und Drucke­rei­en Mos­kaus sowie auf Zei­tun­gen. Es waren unter­schied­li­che Per­sön­lich­kei­ten, aber ver­eint durch den rosen­kreu­ze­ri­schen Initia­ti­ons­ri­tus (vgl. S. 54)… Der Orden vom Gol­de­nen Rosen­kreuz hat­te neun Gra­de. Der 1. Grad, eine Art „Junior“-Grad, unmit­tel­bar gefolgt vom 4. Grad der regu­lä­ren schot­ti­schen Frei­mau­re­rei, d. h. dem „Schot­ti­schen Mei­ster“. Dann der 2. Grad des „Theo­re­ti­cus“ („Theo­re­ti­scher Grad der Salo­mo­ni­schen Wis­sen­schaf­ten“), der zum Rosen­kreu­zer mach­te. Die ande­ren sie­ben Gra­de wur­den „Hoch­gra­de“ genannt. In Ruß­land besa­ßen sie nur etwa zwei Dut­zend Ein­ge­weih­te, von denen die fort­ge­schrit­ten­sten J. Schwarz, G. Schrö­der, N. Nowi­kow und N. Trou­bez­koi waren (vgl. S. 54). Burmistrow/​Endel füh­ren aus, daß jeder Grad das Stu­di­um der okkul­ten Wis­sen­schaf­ten und eini­ge prak­ti­sche Tätig­kei­ten auf dem Gebiet der Magie, Theur­gie, Alche­mie usw. beinhal­tet. Im 7. Grad wird man mit der Kab­ba­la und der Natur­ma­gie ver­traut… Im 9. und letz­ten Grad („Magus“) weiß der Gol­de­ne Rosen­kreu­zer alles, beherrscht alles, hat die Macht von Moses, Aaron und Her­mes (vgl. S. 54)… Die Brü­der des Gol­de­nen Rosen­kreu­zes unter­zo­gen sich wei­te­ren Selek­tio­nen. Nur die der Hoch­gra­de waren in Theo­rie und Pra­xis tie­fer in die okkul­ten Wis­sen­schaf­ten ein­ge­drun­gen: die Suche nach eksta­ti­schen oder über­mensch­li­chen Erfah­run­gen, das Spre­chen mit „Gott“, das Anru­fen der Gei­ster und ihnen befeh­len, die Kennt­nis aller Geheim­nis­se der Natur (vgl. S. 55)…

Trotz des anti­frei­mau­re­ri­schen Dekrets von 1794 setz­ten die Logen ihre Akti­vi­tä­ten im gehei­men fort, und 1798 wur­de in Mos­kau sogar die Loge „Nep­tun“ gegrün­det, deren Mit­glie­der die rosen­kreu­ze­ri­schen Akti­vi­tä­ten fort­setz­ten. Noch im frü­hen 19. Jahr­hun­dert setz­ten die „Theo­re­ti­schen“ Frei­mau­rer des Gol­de­nen Kreu­zes ihre kab­ba­li­sti­schen Stu­di­en fort (vgl. S. 57). Trotz eines wei­te­ren staat­li­chen Ver­bots im Jahr 1822 dau­er­te die frei­mau­re­ri­sche Tätig­keit im Theo­re­ti­schen Grad etwa ein Jahr­hun­dert lang an. Einer der ange­se­hen­sten und rang­höch­sten rus­si­schen Frei­mau­rer, Ruf Ste­panow, lehr­te in gehei­men Frei­mau­rer­tref­fen, in „inter­nen“ Logen, obwohl die Logen nach außen hin geschlos­sen waren. Es gab etwa 80 Frei­mau­rer, die sich heim­lich an die­ser Tätig­keit betei­lig­ten. Dar­über hin­aus gehör­ten eini­ge Frei­mau­rer des „theo­re­ti­schen“ Gra­des auch dem Inne­ren Orden vom Gol­de­nen Rosen­kreuz an (vgl. S. 58f). Sie stu­dier­ten und über­setz­ten wei­ter­hin Wer­ke über Mystik, Alche­mie und Kab­ba­la (vgl. S. 59).

2.8.1 Russische Rosenkreuzer im Verborgenen zwischen Politik, Kultur, Reformismus und Klerus

Ste­fan D. Netschajew

1822 konn­ten die rus­si­schen rosen­kreu­ze­ri­schen „theo­re­ti­schen“ Frei­mau­rer ihre Akti­vi­tä­ten wie­der auf­neh­men, ein­schließ­lich öffent­li­cher und sozia­ler Akti­vi­tä­ten. Gegen Mit­te des 19. Jahr­hun­derts sind ihre Stütz­punk­te die Uni­ver­si­tät von Mos­kau, die Kanz­lei des Gene­ral­gou­ver­neurs von Mos­kau, die „Tula-Klubs“ des Adels, der Mos­kau­er Senat… Der frei­mau­re­ri­sche Ein­fluß auf die ortho­do­xe Kir­che und die kirch­li­che Zen­sur ist eben­falls sehr stark (S. 59). In den Jah­ren 1840–1850 ist einer der gei­sti­gen Füh­rer der Frei­mau­rer des „Theo­re­ti­schen“ Gra­des Pater Sime­on I. Soko­low (1772–1860), der Ein­fluß auf den „theo­re­ti­schen“ Ste­fan D. Net­scha­jew (Gene­ral­an­walt der Hei­li­gen Syn­ode der rus­si­schen Kir­che) und Pater Fjo­dor A. Golu­bin­sky, Phi­lo­soph und Dozent an der Mos­kau­er Geist­li­chen Aka­de­mie, aus­üb­te. Eine Rei­he („a num­ber of“) Prie­ster und Äbte waren eben­falls „theo­re­ti­sche“ Brü­der. Die rus­si­schen Frei­mau­rer unter­hiel­ten Bezie­hun­gen zum Klo­ster der Drei­fal­tig­keit und des Hei­li­gen Ser­gi­us in Ser­gi­jew Pos­sad und zu eini­gen Mos­kau­er Klö­stern (vgl. S. 59, Fuß­no­te 134).

Ein wei­te­res Zen­trum frei­mau­re­ri­scher Tätig­keit war die Kai­ser­li­che Mos­kau­er Gesell­schaft für Land­wirt­schaft, der Frei­mau­rer des „theo­re­ti­schen“ Gra­des ange­hör­ten; Vor­sit­zen­der war der Rosen­kreu­zer S. P. Gaga­rin, stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der war der Frei­mau­rer S. P. Schipow. Die­se Gesell­schaft war eine Hoch­burg der rus­si­schen Frei­mau­rer und libe­ra­len Adli­gen, die sich für Sozi­al­re­for­men ein­setz­ten. Ihnen kam es zu, daß 1861 die Leib­ei­gen­schaft abge­schafft wur­de. Einer der Haupt­be­für­wor­ter die­ser Reform war Ser­gej S. Lans­koi (1787–1862), einer der Anfüh­rer der rus­si­schen Frei­mau­re­rei und Innen­mi­ni­ster des Zaren­rei­ches, der enge Bezie­hun­gen zu den Frei­mau­rern unter­hielt, die Mit­glie­der die­ser kai­ser­li­chen Gesell­schaft für Land­wirt­schaft waren, deren Sekre­tär S. A. Maslow (1793–1879) war, einer der Ideo­lo­gen der Frei­mau­re­rei des „theo­re­ti­schen“ Gra­des, Rosen­kreu­zer höhe­rer Ein­wei­hung und Grün­der einer Land­wirt­schafts­zeit­schrift (vgl. S. 59f). 1861 über­setz­te Maslow das Buch „Phi­lo­so­phie der Geschich­te oder über die Tra­di­ti­on“ des Deut­schen Franz Joseph Molitor (1779–1861), eines christ­li­chen Kab­ba­li­sten, Histo­rio­gra­phen des Ordens der Brü­der von Asi­en, eines ande­ren frei­mau­re­risch-kab­ba­li­sti­schen Ordens, der eben­falls von den Ideen Jakob Franks beein­flußt war, ins Rus­si­sche (vgl. S. 60f).

Regel­mä­ßi­ge Tref­fen der Frei­mau­rer des „theo­re­ti­schen“ Gra­des fin­den bis in die 1870er Jah­re statt, und die letz­te Ein­wei­hung soll in den ersten Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts statt­ge­fun­den haben, als V. S. Arse­niew (1829–1915), „der ober­ste Füh­rer des Ordens und Bewah­rer des frei­mau­re­ri­schen Erbes“, sei­nen Sohn und sei­nen Enkel in den frei­mau­re­risch-rosen­kreu­ze­ri­schen Orden ein­weiht. Der letz­te Ver­tre­ter die­ser frei­mau­re­ri­schen Tra­di­ti­on ist Pater Johann Arsen­jew (vgl. S. 61), über den Burmistrow/​Endel jedoch kei­ne wei­te­ren bio­gra­phi­schen Anga­ben machen.

2.9 Die Schlußfolgerungen von Burmistrow/​Endel (2004)

Der asch­ke­na­si­sche Kab­ba­list Jacob Frank

Die bei­den Wis­sen­schaft­ler bekräf­ti­gen das tie­fe Inter­es­se der rus­si­schen Frei­mau­rer an der Kab­ba­la als einer Tra­di­ti­on, die die ursprüng­li­che Weis­heit und das wah­re Wis­sen bewahrt habe. Dar­über hin­aus sind die Kab­ba­la, die Magie und die Alche­mie ein inte­gra­ler Bestand­teil der rus­si­schen frei­mau­re­ri­schen Dok­trin jener Zeit („In addi­ti­on, Kab­ba­lah, pari pas­su with Magic and Alche­my, was an inte­gral part of the maso­nic doc­tri­ne“) und die kab­ba­li­sti­schen Leh­ren von Adam Kad­mon und Tik­kun sind die Grund­la­ge und der Impuls (initia­to­risch-eso­te­risch) für das Enga­ge­ment der rus­si­schen Frei­mau­rer für sozia­le, poli­ti­sche, mora­li­sche und reli­giö­se Refor­men (vgl. S. 61). Die frei­mau­re­ri­sche Leh­re und ins­be­son­de­re ihre kab­ba­li­sti­schen Ele­men­te („the maso­nic tea­ching, in gene­ral, and its kab­ba­li­stic ele­ments, in par­ti­cu­lar“) haben in der rus­si­schen Lite­ra­tur eine bedeu­ten­de Rol­le („a signi­fi­cant role“) gespielt, zum Bei­spiel bei Schrift­stel­lern wie Michail Cher­as­kow, Ser­gej Bro­bow, Wla­di­mir Odo­jew­ski, Niko­lai Gogol, Alex­an­der Ste­pa­nov, Dmit­ri. Begi­chew, etc. (vgl. S. 61) und noch wich­ti­ger („Even more important“) war der frei­mau­re­risch-rosen­kreu­ze­ri­sche (kab­ba­li­sti­sche) Ein­fluß auf das rus­si­sche öffent­li­che Bewußt­sein („on the Rus­si­an public con­sci­ence“, S. 62). Im spä­ten 18. und frü­hen 19. Jahr­hun­dert bil­de­ten die reli­giö­sen, sozia­len und poli­ti­schen Ideen der Rosen­kreu­zer eine Grund­la­ge für den rus­si­schen Kon­ser­va­tis­mus und begün­stig­ten dann in der ersten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts die Ent­wick­lung der rus­si­schen Roman­tik und des Sozi­al­re­for­mis­mus bzw. Uto­pis­mus (vgl. S. 62). Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr­hun­derts behiel­ten die Ideen der frei­mau­re­ri­schen und rosen­kreu­ze­ri­schen Mystik ihre Bedeu­tung in der reli­giö­sen Phi­lo­so­phie rus­si­scher Schrift­stel­ler wie „W. Solo­wjow, S. Bul­ga­kow, P. Flo­ren­ski, N. Berdja­jew“. Burmistrow/​Endel schreiben:

„Als Bestand­teil der frei­mau­re­ri­schen Welt­an­schau­ung ist die Kab­ba­la zu einem wich­ti­gen Fak­tor in der rus­si­schen Geschich­te und Kul­tur gewor­den“ (S. 62).

2.10 Kabbala & Kirche: Coniunctio oppositorum für russische Freimaurer

In dem Auf­satz „Kab­ba­lah and Secret Socie­ties in Rus­sia (Eigh­te­enth to Twen­tieth Cen­tu­ries)“ (in B. Huss – M. Pasi – K. von Stuck­rad: Kab­ba­lah and Moder­ni­ty. Inter­pre­ta­ti­ons, Trans­for­ma­ti­ons, Adap­t­ati­ons, Brill, Lei­den-Bos­ton 2010, S. 79–105), schreibt Kon­stan­tin Bur­mo­strow, daß die kab­ba­li­sti­schen Schrif­ten des Groß­mei­sters Iwan Jelagin (z. B. in sei­nem Werk „Leh­re von der anti­ken Phi­lo­so­phie und dem gött­li­chen Wis­sen, oder Das Wis­sen der Frei­mau­rer“) wahr­schein­lich die am wei­te­sten ent­wickel­te kab­ba­li­sti­sche Inter­pre­ta­ti­on der christ­li­chen Dog­men in der rus­si­schen frei­mau­re­ri­schen Lite­ra­tur dar­stel­len („pro­ba­b­ly the most deve­lo­ped kab­ba­li­stic inter­pre­ta­ti­on of Chri­sti­an dog­mas in Rus­si­an maso­nic lite­ra­tu­re“, S. 82). Jelagin ist mit den kab­ba­li­sti­schen Leh­ren gut ver­traut: die zehn Sephi­r­ot, die vier Wel­ten (Atzi­luth, Beriah, Yet­zi­rah, Assi­yah), die See­len­wan­de­rung, die kab­ba­li­sti­sche Pra­xis der gött­li­chen Namen, die her­me­ti­sche und kab­ba­li­sti­sche Magie (vgl. S. 82f)… Bur­mi­strow wie­der­holt, daß die rus­si­schen Frei­mau­rer des 18. bis 19. Jahr­hun­derts die Kab­ba­la als „eine wich­ti­ge eso­te­ri­sche Leh­re“ betrach­te­ten (S. 83).

Rus­si­sche Frei­mau­rer des „theo­re­ti­schen“ Gra­des („theo­re­ti­sche Frei­mau­rer“) sehen kei­nen Wider­spruch zwi­schen dem Studium/​der Pra­xis der okkul­ten Wis­sen­schaf­ten („to stu­dy the occult sci­en­ces and to ‚prac­ti­ce‘ them“) und der Zuge­hö­ri­ge­kit zur ortho­do­xen Kir­che. Sie betrach­ten die okkul­ten Wis­sen­schaf­ten und die Kab­ba­la („the occult sci­en­ces and kab­ba­lah“) als eine unschätz­ba­re Fund­gru­be alter Weis­hei­ten und lesen daher die Bibel und die Kir­chen­vä­ter im Licht der „Kab­ba­la“, genau wie Pico del­la Miran­do­la und die christ­li­chen Kab­ba­li­sten. So auch der oben erwähn­te Frei­mau­rer Iwan Jelagin (vgl. S. 83f).

Zu den Kab­ba­li­sten, für die sich die gelehr­te­ren rus­si­schen Frei­mau­rer inter­es­sie­ren, gehört Isaac Luria (1534–1572), ins­be­son­de­re sei­ne Kon­zep­te von Adam Kad­mon und Tik­kun ha-olam (vgl. S. 81, 86f). In der luria­ni­schen Kab­ba­la gibt es auch das Kon­zept der See­len­wan­de­rung: Die See­len böser Men­schen kom­men nicht in die Höl­le, son­dern kön­nen in Stei­ne, Pflan­zen, Tie­re oder Men­schen reinkar­niert wer­den (vgl. Jody Myers: Mar­ria­ge and sexu­al beha­viour in the tea­chings of the Kab­ba­lah Cent­re, in Kab­ba­lah and Moder­ni­ty, in: Boaz Huss: Kabal­lah and Moder­ni­ty, Aries Buch­rei­he Bd. 10, 2010, S. 272). Dar­über hin­aus ist nach der luria­ni­schen Kab­ba­la das Böse der Schöp­fung, dem Men­schen und Gott imma­nent… Das Böse ist in Gott (vgl. G. Scholem: The Mysti­cal Figu­re of the God­head. Stu­di­en zu den grund­le­gen­den Kon­zep­ten der Kab­ba­la, Adel­phi Edi­zio­ni, Mai­land 2010, S. 67–72).

(Fort­set­zung Teil 3)

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze gewid­met hat. Durch sei­ne Ver­öf­fent­li­chun­gen bringt er den Nach­weis, daß die Frei­mau­re­rei von Anfang an und bis heu­te eso­te­ri­sche und gno­sti­sche Ele­men­te ent­hielt, die ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen Glau­bens­leh­re begründen.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wikicommons/​MiL (Screen­shots)

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