Zu den seltsamen Verhältnissen von Papst Franziskus gehört jenes zu Enzo Bianchi, dem Gründer der Gemeinschaft von Bose, der 2020 aus seiner Gründung unfreiwillig entfernt wurde.
Die monastische Gemeinschaft des „falschen Propheten“
Bianchi hatte 1965 mit der (Basis-)Gemeinschaft von Bose eine ökumenische, monastische Laiengemeinschaft beiderlei Geschlechts gegründet, die kirchenrechtlich nicht existierte, als deren „Prior“ er sich aber bezeichnete. Jahrelang wurde das „Projekt“ von der Italienischen Bischofskonferenz gefördert. Auch Papst Franziskus zeigte seit Beginn seines Pontifikats eine besondere Sympathie für dieses progressive Vorzeigeprojekt und ernannte Bianchi zum Consultor. Bianchi ließ kein Feld aus, um durch Provokation aufzufallen. Seit dem Amtsantritt von Franziskus tat er dies noch verstärkt.
Er erklärte, daß es „keine natürliche Familie“ gebe, weil die Familienform ein Produkt der Gesellschaft sei, daß Jesus nichts zur Homosexualität gesagt habe, weshalb auch die Kirche dazu schweigen solle, daß Fatima ein „Schwindel“ sei, weil dort „kein glaubwürdiger Gott“ präsentiert werde, daß Maria „kein geeignetes Vorbild für Frauen“ sei, da damit „unrealistische“ Forderungen verknüpft seien, und nach der Veröffentlichung der Öko-Enzyklika von Franziskus erklärte Bianchi, daß es gewissermaßen ein neues Elftes Gebot gebe, nämlich „Liebe die Erde wie dich selbst“. In Bose wurde auch schon über die faktische Abschaffung des Papsttums sinniert.
2017 gab der damals auf seinen 75. Geburtstag zustrebende Bianchi die Leitung der Gemeinschaft von Bose ab und setzte mit Luciano Manicardi einen neuen „Prior“ ein. Allerdings hatte sich Bianchi diesen Wechsel offenbar so vorgestellt, daß er dennoch weiterhin das alleinige Sagen habe. So kam es schnell zu internen Konflikten und zur Bildung gegensätzlicher Lager. Sein Nachfolger wollte die Gemeinschaft kirchenrechtlich anerkennen lassen und damit in eine geregelte Form bringen. Genau das hatte Bianchi aber immer abgelehnt und versuchte es auch weiterhin zu verhindern. Er schätze die „Narrenfreiheit“, wie es ein römischer Kanonist formulierte.
Um Bianchi, den falschen Mönch, falschen Prior und falschen Propheten umzustimmen, wurde sein „Projekt“ von Bose in alle Himmel gelobt und der Vorschlag in den Raum gestellt, ihn zum Kardinal zu erheben. Er sollte der erste Laie in der Geschichte des Kardinalskollegiums werden. Kardinäle waren ursprünglich Diakone, Priester oder Bischöfe, wie es sich bis heute in den drei Klassen des Kirchensenats ausdrückt, aber nie Laien. Heute sind alle Bischöfe.
Alternativ wurde für Bianchi von Bischöfen die Möglichkeit ins Gespräch gebracht, ihn zum Priester zu weihen. Da sich Bianchi allen Schmeicheleien verweigerte, kam es zur Zerreißprobe, die ohne „Vatermord“ nicht mehr zu lösen schien. Es folgten schwerwiegende gegenseitige Vorwürfe und Unterstellungen. Es ging um Urkundenfälschung und noch Schwerwiegenderes. Alle Streitigkeiten kreisten um Fragen der äußeren Form, blieben also an der Oberfläche. Es ging nie um inhaltliche Fragen der Glaubenslehre und der heterodoxen Ansichten Bianchis. Warum nicht? Weil sich darin offensichtlich alle einig waren, einschließlich Rom.
Die römische Intervention
Um das fortschrittliche Glanzstück in dem Streit nicht untergehen zu lassen, sondern noch rechtzeitig zu retten, intervenierte der Heilige Stuhl und ordnete Bianchi an, die Gemeinschaft verlassen zu müssen.
War das die überfällige Absage an den „falschen Propheten“ aus Bose? Keineswegs. Ein Jahr lang geschah trotz der Aufforderung gar nichts. Erst 2021 wurde der Abgang Bianchis vollzogen. Am 8. Februar erließ der von Franziskus für die monastische Gemeinschaft eingesetzte Päpstliche Delegat ad nutum Sanctae Sedis, der Canossianer Amedeo Cencini, ein Dekret, das er bewußt auch öffentlich bekanntmachen ließ, um den Druck auf Bianchi zu erhöhen. Der „ehemalige Prior“, wie es darin heißt, habe Bose innerhalb einer Woche zu verlassen und sich in das ehemalige Kloster der Cellole von San Gimignano zurückzuziehen. Der Papst, dem das Dekret von Staatssekretär Pietro Parolin in der Sakristei des Petersdoms vorgelegt wurde, genehmigte es, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, mit den Worten: „Ja, ja, ich genehmige“.
Pater Cencini, das nur nebenbei, rühmt sich, als „Henker“ des Papstes, sprich Kommissar oder Delegat, schon mehr Gemeinschaften dichtgemacht als offengehalten zu haben. In der Lombardei wird er hinzugezogen, wenn bei Seminaristen der Verdacht der Homosexualität auftritt, was homophile Kirchenkreise natürlich per se empört. Über seine Vorgehensweise und Entscheidungen in der Sache liegen keine Darstellungen vor.
Janusköpfiges Vorgehen?
Franziskus hatte also nebenbei das Dekret zu Bianchis Entfernung ausdrücklich gebilligt, verfolgte parallel aber eigene „flankierende Maßnahmen“. Noch am 9. Februar schrieb der Papst dem „falschen Propheten“ einen Brief, der diesen somit faktisch zeitgleich mit dem Dekret erreichte. Darin erklärte Franziskus überschwenglich ein „geistlicher Sohn“ des Gründers der Gemeinschaft von Bose zu sein. Es war der 2020 verstorbene ehemalige Dekan der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Lateranuniversität Msgr. Antonio Livi, der Herausgeber der gesammelten Werke von Kardinal Giuseppe Siri, der Bianchi als „falschen Propheten“ kritisiert hatte. Franziskus ist ein „geistlicher Sohn“ des „falschen Propheten“?
Das päpstliche Schreiben sollte Bianchi den Abgang erleichtern. Franziskus verglich Bianchis Situation pathetisch mit jener des Herrn am Kreuz. In dieser Situation herrsche nur „Dunkelheit“, man habe nur mehr „drei, vier Freunde“, die einen „nicht retten“ könnten. Es bleibe nur „der Gehorsam, wie der von Jesus“.
Franziskus hatte seinen Delegaten vorgeschickt, Bianchi „ans Kreuz“ zu nageln, um bei dem vom Papst verwendeten Bild zu bleiben, zugleich aber Bianchi seiner persönlichen Nähe und Freundschaft versichert. Es war, als würde ihm Franziskus sagen, da sind im Vatikan unentrinnbar dunkle Mächte am Werk, aber ich werde dir heimlich helfen. Ein dialektisches Glanz- oder Schurkenstück?
Findet sich im Schreiben eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Bianchis „Lehren“? Nicht im geringsten.
Seither sind fast drei Jahre vergangen. Im Vatikan scheint man wenig konkrete Vorstellungen gehabt zu haben, was mit Bianchi und den vier Getreuen, die mit ihm Bose verlassen mußten, geschehen sollte. Franziskus und Bianchi unterhielten in dieser Zeit jedoch einen regen Briefkontakt. Dabei erkundigte sich Franziskus mehrfach über den Gesundheitszustand des inzwischen 80jährigen Bianchi, der sich im vergangenen Jahr zwei Herzoperationen unterziehen mußte. Dabei äußerte Franziskus auch den Wunsch, Bianchi wieder persönlich zu treffen.
Am vergangenen Samstag, dem 16. Dezember, war es so weit. Bianchi kam nach Santa Marta und wurde von Franziskus gesegnet. Den päpstlichen Segen erteilte er auch dem Madia-Haus, dem neuen Projekt Bianchis. Auch das dialektische Spiel von Anfang 2021 setzte Franziskus fort, indem er sich überrascht zeigte von den Maßnahmen des Staatssekretariats.
Franziskus scheint übrigens die Wunden nicht zu sehen oder schnell zu vergessen, die er selbst schlägt.
Mit dem Madia-Haus entsteht ein zweites Bose
Nach mehreren Stationen, jeweils vom Staatssekretariat angewiesen, gelangte Enzo Bianchi mit seinen vier Gefährten im Frühjahr nach Albiano d’Ivrea, einer kleinen Gemeinde am Fuß der Alpen, rund 50 Kilometer nördlich von Turin. In einem landwirtschaftliche Gebäude gründete er dort ein „zweites Bose“, wiederum als monastische Gemeinschaft, aber ohne kirchenrechtliche Anerkennung. Der Tageszeitung La Stampa erklärte er:
„Ich gründe keine kanonisch anerkannte Gemeinschaft, will aber als coenobitischer Mönch und nicht als Eremit leben.“
Durch die Zwistigkeiten und Bianchis Entfernung sind die Mitgliederzahlen in Bose dramatisch eingebrochen. Ohne den „Guru“ war für etliche die Gemeinschaft nicht mehr dieselbe. Stattdessen baut Bianchi mit dem Madia-Haus ein neues „Bose“ auf. Die Gebäude wurden weitgehend hergerichtet, sodaß er dazu einladen kann, sich ihm anzuschließen, wer in einer Gemeinschaft leben will.
Madia, gesprochen Màdia, von lateinisch magida, bedeutet im Italienischen Backtrog. Madia-Haus läßt sich also übersetzen als Haus, wo Brot zubereitet wird.
Durch den am Samstag erfolgten Empfang durch Papst Franziskus wurde Enzo Bianchi von seinem „geistlichen Sohn“ rehabilitiert, nicht formal, aber faktisch, so wie es Franziskus gefällt. Der Papst ermutigte Bianchi sein „zweites Bose“ aufzubauen. Damit dürfte auch der weitere Zulauf von „Brüdern“ und „Schwestern“ gesichert sein.
Bianchi kann seine letzte Lebenszeit in „brüderlicher Gemeinschaft“ verleben. Soweit zum Lebensstil. Es darf allerdings bezweifelt werden, daß Bianchi von Franziskus angehalten wurde, nicht mehr als „falscher Prophet“ aufzutreten.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Facebook/Youtube/VaticanMedia