„Das Bild der Römischen Inquisition als Reich der Folter und des Bösen führt heute ein Eigenleben und ähnelt den Fake News, über die heute viel gesprochen wird.“ Diese Aussage der jüdischen Historikerin Anna Foa, Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität La Sapienza in Rom, stammt aus dem Jahr 2018. Sie verdient in Erinnerung gerufen zu werden, angesichts der ziemlich unglaublichen Situation, daß der neuernannte Präfekt der Glaubenskongregation Víctor Manuel Fernández, Kardinal in spe, für seine bevorstehende Amtsübernahme ausgerechnet mit einem Wiederaufwärmen dieser Fake News kokettiert – unterstützt von Papst Franziskus.
Zur Einordnung: Franziskus und Erzbischof Fernández schlagen die Heilige Inquisition vergangener Jahrhunderte, meinen jedoch die Glaubenskongregation, die sich auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bemühte, die Glaubenswahrheit gegen heterodoxe Meinungen zu verteidigen. Modernistischen Kreisen ist die bloße Existenz einer solchen Institution unerträglich. Zu berücksichtigen ist auch der PR-Effekt mittels einer altbekannten Methode, sich selbst in ein angenehmeres Licht zu stellen, indem man sich von anderen distanziert und dafür ein Feindbild wählt, von dem man genau weiß, daß Medien und Öffentlichkeit in festgefügten Klischees gefangen sind und reflexartig „anbeißen“. Lassen wir die Frage jedoch beiseite, daß es solche Methoden in der Kirche eigentlich nicht geben sollte.
Kehren wir zurück zur Historikerin Anna Foa und der gescholtenen Heiligen Inquisition, konkret der Römischen Inquisition, die für den Kirchenstaat und die damaligen italienischen Staaten zuständig war. Foa trat 2018 als ausgewiesene Kennerin der Materie gegen die Schwarze Legende auf, die seit Jahrhunderten die Heilige Inquisition umrankt, und zertrümmerte eine ungerechte, da falsche antikatholische Vulgata, die in ihrer heutigen Form im 18. Jahrhundert von den Protestanten, besonders der Generalstaaten und Englands übernommen und von der Aufklärung ausgeschmückt und verbreitet wurde. (Die Generalstaaten waren jene nördlichen Provinzen der habsburgischen Niederlande, die von einer reformierten Oberschicht regiert waren.)
Die heutigen Mainstream-Medien, so Foa 2018, gingen fälschlicherweise davon aus, daß die katholische Kirche mit der Öffnung des Zentralarchivs des ehemaligen Heiligen Offiziums im Jahr 1998 den angeblich abscheulichen und blutigen Charakter der Inquisition endlich anerkennen und eingestehen würde, die in der kollektiven Vorstellung immer noch als „bewaffneter Arm der Kirche gegen Ketzerei, freies Denken und Gewissensfreiheit“ gilt. „In den Augen der Medien und der sogenannten historiographischen Vernunft war die Inquisition der Feind des modernen Denkens schlechthin“, so Foa.
Nichts von alledem trifft jedoch zu, so die Historikerin. Das ist natürlich eine große Enttäuschung für Journalisten und Antiklerikale, aber sicher nicht für Fachleute. Nicht zuletzt deshalb, so die jüdische Historikerin, „weil es in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten bereits eine umfassende historiographische Aufarbeitung in diesem Bereich gegeben hat“. Öffentlich ging die Entwicklung aber mehr in Richtung einer Bitte um Vergebung (man denke an Johannes Paul II. im Jahr 2000) als in Richtung einer angebrachten Revision der Schwarzen Legende. Die Opferzahlen und vor allem die Rolle der Inquisition insgesamt wurden von der Forschung stark in Frage gestellt und massiv nach unten revidiert.
In den vergangenen 25 Jahren wurde von Historikern eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die eine faktische Verteidigung der Inquisition sind, die von den großen Medien (mit wenigen Ausnahmen) aber völlig ignoriert wurden. Beispielhaft zu nennen wären „The Italian Inquisition“ (2015, italienische Ausgabe bereits 2013) von Christopher F. Black, inzwischen emeritierter Professor der Geschichte an der Universität Glasgow; „Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori e missionari „ (“Gewissenstribunal. Inquisitoren, Beichtväter und Missionare”) von Adriano Prosperi von der Scuola Normale in Pisa; “Caccia alle streghe” (“Hexenjagd”) von Marina Montesano von der Universität Genua; “L’Inquisizione in Italia” (“Die Inquisition in Italien”), von Andrea Del Col von der Universität Triest; “L’inquisizione” (“Die Inquisition. Tagungsband” jenes berühmten internationalen Symposiums, das nach der Öffnung des Archivs des ehemaligen Heiligen Offiziums stattfand), herausgegeben von Agostino Graf Borromeo d‘Adda, Professor der Geschichte der Neuzeit an der Universität La Sapienza.
Leider, so bedauerte Anna Foa, hat weder die Öffnung der Archive noch der Beitrag dieser Historiker dazu beigetragen, die Wahrheit ins „Allgemeinwissen“ zu bringen. Die Popularisierungsaktivitäten der Medien zielten mehr auf Sensationslust als auf die „Wahrheit“ ab, so die Historikerin. Im salopp formulierten Klartext: Man will sich von liebgewonnenen Klischees von der bösen Inquisition und überhaupt von der bösen Kirche nicht trennen. Dazu tragen negativ konnotierte Redewendungen bei, die Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben.
Die Historikerin der Sapienza zeigte daher schon 2018 wenig Hoffnung, daß sich an diesem kollektiven Irrtum etwas ändern könnte: Jeder glaubt zu wissen, was die Inquisition war. Gemeint sind damit Folter, Grausamkeiten aller Art und eine Unzahl von Hexenverbrennungen. Laufend begegnet man Menschen, die dieses Urteil, das eine Verurteilung ist, im Brustton innigster Überzeugung und Empörung vortragen. Doch dieses Urteil ist durch und durch falsch. Wen kümmert’s?
„Es wird noch immer geschrieben und behauptet, daß die Inquisition im Zuge der Hexenverfolgung Millionen von Toten verursacht hätte.“
Die Hoffnungen, der Zugang zu den Archiven und die Zunahme der wissenschaftlichen Forschung würden durch die Fakten überzeugen, erwies sich als voreilig.
Warum hätte es auch so sein sollen? Die vergangenen 25 Jahre, die seit der Öffnung der Archive vergangen sind, sind Jahre, in denen die Mythenfabrik in der Gesellschaft insgesamt nicht zurückgegangen, sondern gewachsen ist, indem die Schranken zwischen wahr und falsch, zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Realität und Fiktion zunehmend abgetragen wurden und verschwimmen. Vorurteile, Leidenschaften und vor allem interessengeleitete Propaganda haben zunehmend Vorrang vor Wissen und Erkenntnis. Wer lauter schreit, hat recht, könnte man sagen. Allerdings ist das nicht wörtlich zu nehmen. Übersetzt in die heutige Zeit bedeutet das: Wer die wichtigeren Medien kontrolliert, bestimmt die Meinung. Die Dokumente der Vergangenheit, noch so akribisch aufgearbeitet, sind nicht imstande, ein eingeprägtes Vorurteil allgemein zu überwinden, wenn die heute maßgeblichen Meinungsmacher nicht mitmachen. Im Endeffekt hat sich wenig geändert, denn auf die gleiche Weise – durch die Meinungsmacher vergangener Zeiten – war die Schwarze Legende zur Heiligen Inquisition erst entstanden.
Allerdings haben jene, die es wirklich wissen wollen und sich wirklich interessieren, heute viel mehr Möglichkeiten, sich Zugang zu Informationen zu verschaffen, um zu erfahren, was die Fachwelt schon lange weiß. Das unterscheidet unsere Zeit dann doch von früheren und ist ein Ansporn für jene, die der Wahrheit verpflichtet sind, diese allen anderen zur Verfügung zu stellen. Das ist in jedem Fall ein Zeichen der Hoffnung.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL