Papst Franziskus hatte in der „Flut von Interviews“, die sein zehnjähriges Thronjubiläum begleitete, so der Vatikanist Sandro Magister, „wie schon tausendmal zuvor“, den „Proselytismus“ gegeißelt. So zum Beispiel im Interview mit seinem ehemaligen Pressesprecher Guilliermo Marcó. Magister beleuchtet daher die Proselytismus-Kritik von Franziskus und stellt sie anhand von Berichten der Jesuitenmissionare im China des 17. Jahrhunderts auf den Prüfstand.
In seinen jüngsten Interviews beruft sich der Papst auf eine Ansprache von Benedikt XVI. in Aparecida aus dem Jahr 2007 („Die Kirche betreibt keinen Proselytismus. Sie entwickelt sich vielmehr durch ‚Anziehung‘“) und auf das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi von Paul VI. von 1975. In beiden Fällen sind die Zitate aus dem Kontext gerissen und geben nicht wieder, was diese beiden Päpste zum Ausdruck brachten. Für Franziskus bedeutet Evangelisieren einfach „Zeugnis geben“. Paul VI. schreibt jedoch genau in dem von seinem Nachfolger zitierten Dokument weiter:
„Doch ist dieses Zeugnis niemals ausreichend, denn auch das schönste Zeugnis erweist sich auf die Dauer als unwirksam, wenn es nicht erklärt, begründet – das, was Petrus ‚Rechenschaft gegenüber seiner Hoffnung‘ nennt – und durch eine klare und eindeutige Verkündigung des Herrn Jesus Christus entfaltet wird. Die Frohbotschaft, die durch das Zeugnis des Lebens verkündet wird, wird also früher oder später durch das Wort des Lebens verkündet werden müssen. Es gibt keine wirkliche Evangelisierung, wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus von Nazaret, dem Sohne Gottes, verkündet werden.“
Magister erinnert an jene Anekdote, die Franziskus 2019 auf seiner Reise nach Mosambik den Journalisten anvertraute, wie er beim Weltjugendtag eine junge Frau getadelt habe, als ihm diese einen Hindu und eine Anglikanerin vorstellte, die sich zum katholischen Glauben bekehrt hatten. Diese Anekdote wiederholte Franziskus auch in einem seiner Interviews zu seinem Thronjubiläum. Er habe sich nämlich in dem Moment „unwohl“ gefühlt und die Frau energisch ermahnt: „Madame, Evangelisierung ja, Proselytismus nein“.
Im Video vom Papst vom März 2020 forderte Franziskus die verfolgten chinesischen Katholiken sogar auf, „nicht zu missionieren“, als wäre das ihr größtes Laster, so Magister.
An dieser Stelle unternimmt der Vatikanist den Brückenschlag zu einem „großartigen Aufsatz“ des ehemaligen Vatikansprechers Pater Federico Lombardi SJ in der jüngsten Ausgabe der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica. Pater Lombardi erzählt darin, wie Jesuitenmissionare im 17. Jahrhundert den christlichen Glauben unter den Frauen Chinas verbreiteten.
Die China-Mission der Jesuiten
Nach zeitgenössischen Quellen hatten die Jesuiten 1627 insgesamt 13.000 Menschen in China getauft und in die Kirche aufgenommen, 1636 waren es 40.000, 1640 60.000 und 1651 bereits über 150.000.
Die beiden ersten Jesuiten, Pater Matteo Ricci und Pater Michele Ruggieri, gelangten 1583 nach China, wo sie in Zhaoqing in Südchina das erste Haus ihres Ordens errichteten. Zu den ersten Chinesen, die sich taufen ließen, gehörten 1589 „einige ehrenwerte Matronen“, Ehefrauen oder Mütter von gebildeten Männern, die von Pater Ricci evangelisiert wurden. Der wirkliche „Wendepunkt“ ereignete sich jedoch 1601 mit der Ankunft von Pater Nicolò Longobardo in Shaozhou, wo sein erster Katechumene, ein Mandarin, ein hoher kaiserlicher Beamter, den Frauen seiner Verwandtschaft das beizubringen begann, was er allmählich vom Missionar lernte, bis auch sie sich taufen ließen und ihrerseits wiederum, wie es in einem Bericht heißt, „gerne mit anderen Frauen von geringerem sozialen Status, sogar Bäuerinnen, die ebenfalls Christen geworden waren, zusammenkamen und sie wie Schwestern behandelten, was ein Anlaß zu großem Staunen war“. Der christliche Glauben durchbrach die strengen Standeskonventionen des chinesischen Kaiserreichs.
Die Berichte, die von den Jesuiten an das Generalhaus des Ordens in Rom geschickt wurden, schildern, wie die Frauen getauft wurden:
„Nachdem die Unterweisung durch ein Familienmitglied abgeschlossen war, wurde in einem der Haupträume eines ihrer Häuser ein Altar errichtet, auf dem das Bild des Erlösers mit Kerzen und Weihrauch aufgestellt wurde. Verwandte und Bekannte strömten herbei. Dann kam der Missionar und befragte die Frauen vor ihren Ehemännern und Verwandten über die christliche Lehre, die sie von Grund auf kennen mußten, und über die wichtigsten Geheimnisse des Christentums. Die Frauen antworteten von dem für sie reservierten Wohntrakt aus, ohne sich zu wundern, von Fremden gesehen und befragt zu werden, ein ganz neues Ereignis in der chinesischen Frauenwelt.“
Auch die Praxis der persönlichen Sündenbeichte verbreitete sich unter ihnen, auch wenn es „wirklich neu und sehr gewagt“ war, daß eine Frau vertraulich mit einem Mann oder gar mit einem Ausländer sprach:
„Zur Beichte wurden die Patres in einen durch einen Vorhang abgetrennten Raum geführt, durch den sie mit der Frau sprachen, ohne sie zu sehen, während an anderer Stelle im Raum, weit genug entfernt, um nichts hören zu können, eine andere Person anwesend war.“
In den Dörfern und bei den einfachen Leuten waren die Beschränkungen für Frauen weniger streng. Im Jahr 1607 berichtete Pater Caspar Ferreira, der in der Umgebung von Peking missionierte, von einer jungen Christin, die bei einer Bekannten untergebracht war, die jeden Abend zu Hause mit ihrer Familie vor einem Götzen betete. Die junge Frau erklärte, eine solche Andacht nicht mitmachen zu können. Vielmehr begann sie mit solcher Überzeugung und Wirksamkeit von ihrem christlichen Glauben zu sprechen, „daß neun ganze Familien versprachen, zu kommen, um unsere Predigten zu hören und sich taufen zu lassen“.
Der deutsche Jesuit Adam Schall von Bell
Aber „in der Missionsstrategie der Jesuiten jener Zeit“, schreibt Pater Lombardi, bestand das Ziel darin, das Evangelium nicht nur unter den gebildeten Schichten und hochrangigen Regierungsbeamten zu verkünden, sondern auch „den Kaiser zu erreichen, sein Wohlwollen und seine Genehmigung für die christliche Verkündigung zu erhalten und sogar seine Bekehrung zu erreichen“. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Pater Adam Schall von Bell, ein Deutscher aus Lüftelberg im Erzbistum Köln, der 1619 Macau und 1623 Peking erreichte. Der gelehrte Mathematiker und Astronom wurde, so Pater Lombardi, „vom großen katholischen Beamten Xu Guangqi in das wichtige Kalenderreformprogramm einbezogen“.
Im kaiserlichen Palast in Peking lebten Tausende von Eunuchen und viele Frauen, darunter auch solche im persönlichen Dienst des Kaisers, mit denen nur die Eunuchen sprechen durften.
1635 gelang es Pater Schall von Bell, „einen Eunuchen von seltener Weisheit und Tugend namens Wang“ zum Christentum zu bekehren. Durch diesen verbreitete sich der christliche Glauben auch unter den Hofdamen, von denen er mehrere Dutzend taufte, die „ihren Glauben nicht verbargen“ und deren tugendhaftes Verhalten, „von Respekt, Nächstenliebe und Bescheidenheit beseelt, vom Kaiser geschätzt wurde“.
Doch 1644 kam es zum Zusammenbruch des Ming-Reiches. Aus dem von den Mandschuren besetzten Peking mußte ein Zweig der Dynastie in den Süden fliehen, wo sich am Hof ihres letzten Gegenkaisers namens Yongli zahlreiche Adelige taufen ließen. Auch Yonglis neugeborener Sohn wurde getauft, der „als Wunsch für einen künftigen christlichen Kaiser den Namen Konstantin erhielt“. Bis die Mandschus der neuen Qing-Dynastie ganz China eroberten und alle männlichen Mitglieder der kaiserlichen Familie töteten und die adligen Frauen zu einer langen Gefangenschaft verurteilten. Durch „einen wahren Glauben und aufrichtige christliche Frömmigkeit“ wurden die Christen unter ihnen getröstet, wie die Jesuiten berichteten.
Das Leben und Wirken der Candida Xu
Pater Lombardi erwähnt in seinem Artikel die Geschichte von Candida Xu, einer „wahren Säule“ der Kirche in China zu jener Zeit, einer „dynamischen und blühenden Kirche“, so der ehemalige Vatikansprecher, deren Ruhm in Europa dank eines Buches ihres geistlichen Vaters, des Jesuiten Pater Philippe Couplet, bekannt wurde.
Candida (1607–1680) war die Enkelin von Xu Guangqi, „dem berühmtesten und einflußreichsten Schüler und Freund von Pater Matteo Ricci“, der 1603 Christ geworden war. Candida, Mutter von acht Kindern und im Alter von 30 Jahren verwitwet, lebte weitere 40 Jahre in der größeren Freiheit, die ihr die Witwenschaft erlaubte. Sie war eine Meisterin der Seidenstickerei, dank derer sie nicht geringe Summen sammelt, „die sie nach dem Rat des Evangeliums heimlich verwendet, um den Missionaren, den Armen, dem Bau von Kirchen und Kapellen und allem, was für die frommen Übungen der neuen Christen notwendig ist, zu helfen“.
Candida widmete sich insbesondere „dem Apostolat mit den Frauen“. Für sie läßt sie Frömmigkeitsbücher in chinesischer Sprache verfassen und drucken. Sie erwirkt, was mit den strengen Konventionen der oberen chinesischen Schichten zusammenhing, daß es Kirchen gibt, „die speziell den Frauen gewidmet sind, wo sie zu bestimmten Zeiten gemeinsam der Eucharistiefeier beiwohnen können, ohne daß ein Mann außer dem Priester und einem Meßdiener anwesend ist“. Sie unterwies die christlichen Hebammen darin, „wie man Säuglinge in Todesgefahr tauft“. Für verwaiste und verlassene Kinder „überredet sie ihren Sohn Basilius, der reich und erfolgreich ist, ein großes Haus zur Verfügung zu stellen, um eine große Anzahl von ihnen aufzunehmen“, mit „vielen Ammen, um sie zu stillen, und dann dem Nötigen, um sie zu erziehen und zu bilden“.
Und nicht nur das. Sie kümmerte sich auch um die Blinden, die auf den belebten Straßen umherstreiften und ihren Lebensunterhalt als Wahrsager und „Glücksbringer“ verdienten. Sie missionierte unter ihnen, unterwies sie im Glauben, brachte sie von ihren heidnischen Praktiken weg, sodaß sie stattdessen auf den Straßen „die in Verse gefaßten Glaubensartikel rezitieren“ und „die Grundsätze des Glaubens die Leute lehren, die kommen, um sie zu hören“.
Als Pater Couplet nach Europa zurückkehrte, vertraute Candida ihm eine große Anzahl von Büchern für den Papst an, die von den Missionaren in chinesischer Sprache verfaßt worden waren und von denen heute 300 in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrt werden, um Rom davon zu überzeugen, daß die Kirche in China lebensfähig und „reif dafür ist, auch einen chinesischen Klerus zu haben“. Magister schreibt dazu:
„Der Ruhm dieser großartigen Frau erreichte den neuen Hof von Peking, wo sie den offiziellen Titel ‚Tugendhafte Frau‘ erhielt und vom Kaiser ‚ein sehr reiches, mit Stickereien und Silberplatten verziertes Kleid, kombiniert mit einem prächtigen Haarschmuck, reich an Perlen und Edelsteinen geschenkt bekam‘.“
Das ist das Bild, das man noch heute mit ihr verbindet. Jene, die sie kannten, schreibt Pater Lombardi, sehen in diesem außergewöhnlichen Kleid „das beredte Zeichen der Wertschätzung, die sie durch ihre Tugenden und ihre fleißige Nächstenliebe nicht nur in der christlichen Gemeinschaft, sondern in der chinesischen Gesellschaft erworben hatte“. Candida „bewies, daß der christliche Glaube das Engagement und die Verantwortung einer chinesischen Frau so weit beflügeln konnte, daß sie als Vorbild und Inspiration für alle ihre Landsleute dienen konnte“.
Darin erinnert die chinesische Christin Candida ganz an ihre Standesgenossen der ersten Christengenerationen im antiken Rom.
Alle Einwohner von Sungkiang, ihrer Heimatstadt, „betrachteten diese Frau als eine Heilige“, schloß Pater Couplet die Biographie von Candida. Und Pater Lombardi fügt in seinem Aufsatz hinzu: „Das tun wir auch“.
„Eine Heilige“, so Magister, „der es gelang, viele Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen, wie es das Evangelium gebietet.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: La Civiltà Cattolica/MiL