
Von Roberto de Mattei*
Das Moskauer Patriarchat, das 1589 von Iwan IV. eingerichtet und 1721 von Peter dem Großen wieder aufgelöst worden war, wurde 1917 parallel zum Ausbruch der bolschewistischen Revolution wiedererweckt, war aber nur von kurzer Dauer. Nachdem die bolschewistische Partei von Lenin und Trotzki an die Macht gekommen war, machte sie sich daran, die russisch-orthodoxe Kirche und alle anderen religiösen Gemeinschaften zu vernichten. Die Versuche einer Übereinkunft durch Patriarch Tichon blieben erfolglos: Er wurde in der Lubjanka inhaftiert und starb am 7. April 1925 in einer Moskauer Klinik.
Die orthodoxe Kirche blieb ohne Patriarchen. Der Metropolit von Moskau Sergius (Iwan Nikolajevitsch Stragorodski, 1867–1944), der 1926 von der Geheimpolizei verhaftet worden war, kehrte im folgenden Jahr in die Freiheit zurück und veröffentlichte am 29. Juli 1927 eine „Erklärung“, in der er den Sowjetstaat und die vergangenen „politischen Fehler“ des orthodoxen Klerus anerkannte. Als Pius XI. am 9. Februar 1930 die Einberufung eines Gebetstages im Petersdom für die russische Kirche ankündigte, antwortete Sergius mit einem Interview in der Zeitung Iswestija, in dem er erklärte, daß es in der Sowjetunion keine Verfolgung aus religiösen Gründen gebe und daß die Schließung einiger Kirchen „nicht auf Initiative der Behörden, sondern auf Wunsch des Volkes und manchmal der Gläubigen selbst“ erfolge. In der Zwischenzeit hörten die Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen von Bischöfen, Priestern und einfachen Gläubigen nicht auf. Am 5. Dezember 1931 wurde die Christus-Erlöser-Kathedrale gesprengt und die neue Moskauer U‑Bahn mit ihrem Marmor ausgekleidet. Stalins Atheisierungskampagne war gnadenlos. Vor 1917 zählte die russisch-orthodoxe Kirche rund 210.000 Kleriker. In den Jahren des Terrors von 1917 bis 1941 wurden rund 150.000 von ihnen erschossen. Von den 300 russischen Bischöfen wurden mindestens 250 von den Kommunisten ermordet. Die Bedingung für ihr Überleben war, daß sie sich dem Regime als Denunzianten zur Verfügung stellten.
Die Situation änderte sich mit dem deutschen Angriff auf Rußland 1941. Stalin erkannte, daß er zur Schaffung eines Klimas der nationalen Einheit und des kollektiven Widerstands die Unterstützung des überlebenden Klerus brauchte, und beschloß, das Moskauer Patriarchat „neu zu erfinden“. Nach den Schlachten von Stalingrad und Kursk berief der sowjetische Diktator in der Nacht vom 4. auf den 5. September 1943 den Metropoliten Sergius von Moskau, den Metropoliten Alexius von Leningrad und Nowgorod und den Metropoliten Nikolai von Kiew und Galizien in den Kreml, in Anwesenheit von Molotow und den höchsten Stellen der Geheimpolizei (NKGB). Der Historiker Adriano Roccucci bezeichnet dieses Treffen als einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Kirche und der Sowjetmacht.1 Um die russische Kirche in den „Großen Vaterländischen Krieg“ einzubeziehen, erteilte Stalin die Erlaubnis zur Wahl eines neuen Patriarchen. Vier Tage später, am 8. September, fand in Moskau ein Konzil der Bischöfe der russisch-orthodoxen Kirche statt, an dem 19 Bischöfe teilnahmen, von denen einige mit Militärflugzeugen nach Moskau transportiert wurden. Metropolit Sergius wurde zum Patriarchen von Moskau und ganz Rußland gewählt, dem ersten nach dem Tod von Tichon. Außerdem wurde eine sechsköpfige Synode gewählt, zu der auch Alexius von Leningrad (Sergei Wladimirowitsch Simanski, 1877–1960) gehörte, der 1945, nach dem Tod von Sergius, selbst zum Patriarchen ernannt wurde. Alexius I. war für die Liquidierung der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche im Jahr 1946 verantwortlich. Im März desselben Jahres erzwangen die sowjetischen Behörden die Einberufung eines Konzils in Lemberg, das die Union von Brest aus dem Jahr 1596 aufhob und die griechisch-katholische Kirche unter die Jurisdiktion der russisch-orthodoxen Kirche zwang. Bereits im April 1945 war Metropolit Josyp Slipy verhaftet worden und verbrachte 18 Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Gulags. Alle Kirchen der griechischen Katholiken, etwa 3.000, wurden den Orthodoxen übergeben, und fast alle Bischöfe und Priester wurden getötet oder inhaftiert.
Pius XII. setzte sich wiederholt für die Ukrainer und ihren katholischen Metropoliten ein und ermutigte sie zum Widerstand gegen die Verfolgung, doch nach seinem Tod begannen sich die Beziehungen zwischen Rußland und dem Vatikan zu verändern. Als Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil ankündigte, bat er um die Teilnahme von Vertretern des Moskauer Patriarchats, doch die Kreml-Behörden machten das Schweigen des Konzils zum Kommunismus zur Bedingung. Im August 1962 unterzeichneten der Vertreter des Vatikans, Kardinal Eugène Tisserant, und der orthodoxe Metropolit Nikodim (Boris Georgjewitsch Rotow) in der französischen Stadt Metz ein Abkommen, wonach das Moskauer Patriarchat die päpstliche Einladung annehmen würde, während der Papst garantierte, daß das Konzil von einer Verurteilung des Kommunismus absehen würde. Msgr. Jan Willebrands reiste vom 27. September bis zum 2. Oktober 1962 heimlich nach Moskau, und am Nachmittag des 12. Oktober trafen Erzpriester Witali Borowoi und Archimandrit Wladimir Kotljarow, Vertreter des Patriarchen Alexius I., als Beobachter des Konzils in Rom ein, das eröffnet wurde.2
Die russisch-orthodoxe Kirche, die nach Alexius I. von Patriarch Pimen (Sergej Michajlowitsch Iswekow, 1910–1990) geleitet wurde, bekräftigte ihre Loyalität gegenüber dem Sowjetregime und unterstützte die Politik der internationalen Ausbreitung des Kommunismus. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes erhielt Wladimir Putin, der im Jahr 2000 an die Macht kam, entscheidende Unterstützung von den Patriarchen Alexius II. (Alexei Michailowitsch Rüdiger, 1929–2008) und Kyrill (Wladimir Michailowitsch Gundjajew, geb. 1946), seinem ehemaligen Mitstreiter beim KGB.
In den Reden von Präsident Putin und Patriarch Kyrill wurde immer wieder die Staatsidee des Russkij mir, der „russischen Welt“, beschworen und weiterentwickelt, eine Lehre, die besagt, daß es eine transnationale Zivilisation gibt, die alle Völker umfaßt, die der russischen Ethnie oder Sprache angehören oder in die Sowjetunion eingegliedert waren. Sie haben eine gemeinsame Kirche, das Moskauer Patriarchat, und eine gemeinsame politische Einheit, die mit dem Präsidenten der Russischen Föderation identifiziert wird.
Das Moskauer Patriarchat will die Identität des Russkij mir gegen den westlichen Relativismus, aber auch gegen den römischen Katholizismus verteidigen. Heute ist die Orthodoxie in Russland faktisch die einzige „Staatsreligion“. Der Islam, das Judentum, der Buddhismus und neuerdings auch der Schamanismus werden als „traditionelle“ Religionen toleriert, nicht aber die katholische Kirche, der „Proselytismus“ verboten ist.3
Während sich im Westen, ausgehend von der 68er-Revolution, die nihilistische Dimension des Kommunismus in Form des Freudomarxismus ausbreitete, will Putin in Rußland die messianische Dimension des Marxismus zurückgewinnen, innerhalb einer politischen Linie, die von Iwan dem Schrecklichen bis zu Stalin reicht. Der „Weg zur Rettung“, den Putin Europa vorschlägt, besteht darin, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der römischen Kirche abzubrechen und sich dem politischen und religiösen Protektorat Moskaus zu unterwerfen. Auch der Einmarsch in die Ukraine ist in dieser Perspektive zu sehen, die er in seiner Grundsatzrede am 12. Juli 2021 im Waldai-Klub dargelegt hat.4 Wie aus diesem Dokument hervorgeht, ist die Realität, die Putin am stärksten bekämpft, die ukrainische griechisch-katholische Kirche, denn sie ist das lebendige Zeugnis für die Möglichkeit, die authentische religiöse Seele Rußlands wiederzuentdecken, die nicht die des Moskauer Patriarchats, sondern die der Taufe Kiews ist. Das Moskauer Patriarchat, das in seiner 433jährigen Geschichte immer dem Zaren, also dem Staat, untergeordnet war, ist heute geistig erschöpft, und das ewige Rom wartet auf die Rückkehr zum wahren Glauben des russischen Volkes, den die Gottesmutter 1917 in Fatima angekündigt hat.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung/Anmerkungen: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons
- Historische Überlegungen zum Moskauer Patriarchat (Teil 1)
- Historische Überlegungen zum Moskauer Patriarchat (Teil 2)
- Historische Überlegungen zum Moskauer Patriarchat (Teil 3)
1 Adriano Roccucci: Stalin e il patriarca (Stalin und der Patriarch. Orthodoxe Kirche und Sowjetmacht 1917–1958), Einaudi, Turin 2011, S. 173f
2 s. Roberto de Mattei: Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, Edition Kirchliche Umschau, Ruppichteroth 2011, S. 198f
3 Stefano Caprio: Lo Zar di Vetro (Der Zar aus Glas), Jaca Book, Mailand 2020, S. 181
4 Wladimir Putin: Sulla storica unità tra Russi e Ucraini (Über die historische Einheit zwischen Russen und Ukrainern), in: Di fronte alla storia, PGreco, Mailand 2022, S. 273–290
Vielen Dank für diese wertvolle Serie zum Moskauer Patriarchat! Es ist wichtig, diese Hintergründe zu kennen. Auch angesichts des katastrophalen Bergoglio-Pontifikats sind alle Überlegungen, zur „Orthodoxie“ überzutreten bzw. abzufallen, für Katholiken strengstens verboten. Die Kirche ist die Kirche, auch wenn deren menschliches Element gegen den Glauben arbeitet.
Zu den Ausführungen von Prof. de Mattei möchte ich eine Sache ergänzen:
Die ukrainische griechisch-katholische Kirche wurde, wie im Artikel festgehalten, von der Sowjetmacht 1946 für aufgelöst erklärt bzw. in die ROK übergeführt (zumindest war das die Rechtsfiktion).
Die UGKK wurde nach dem Tod von Pius XII. von der vatikanischen Hierarchie praktisch verraten. Bei der Konferenz von Balamand im Libanon (vor knapp 30 Jahren) hat der Vatikan die griechisch-katholischen Christen regelrecht geohrfeigt. Man sagte, die Union sei kein Weg, die Einheit der Christen wiederherzustellen. Damit distanzierte sich der Vatikan praktisch vom Werk der hll. Andreas Bobola und Josaphat Kunzewitsch. Die östlichen Katholiken wurden auf dem Altar des – wenig sinnhaften – Dialogs mit der „Orthodoxie“ schmählich geopfert.
Mittlerweile jedoch entdeckte die westliche Geopolitik die Griechisch-Katholische Kirche und setzt sie für ihren Stellvertreterkrieg gegen Rußland ein. 2014 sind am Maidan in Kiew die Hierarchen der UGKK vor einer riesigen EU-Flagge aufmarschiert und haben ihre Loyalität zur Putschregierung bekundet. Möglicherweise glauben diese Bischöfe, der Westen würde ihnen wohlwollen. Das ist ein gefährlicher Irrtum.
Nach Jahrzehnten der Diskriminierung und Verfolgung scheinen viele griech.-kath. Ukrainer jetzt Morgenluft zu riechen. Aber sie sind nur ein Bauer am Schachfeld der New World Order-Meute. Diese werden sich der Bauern bedienen, solange sie notwendig sind.
Es ist traurig anzusehen, wie die UGKK jetzt die traditionellen Werte praktisch über Bord wirft und zu den Pride Parade-Greueln schweigt (zumindest weiß ich von keinem Widerspruch). Die UGKK sind auch massive Kriegstreiber. Die Subversionspolitik, auf die George Soros so stolz ist, hat in der Ukraine fraglos spektakulären Erfolg gezeitigt. Ich war zweimal dort und kann das aus eigener Anschauung bestätigen.
Die Abhandlung von Prof. de Mattei ist, wie gesagt, sehr wichtig. Sie darf aber nicht zur einseitigen Dämonisierung der Russen mißbraucht werden. Denn im gegenwärtigen Krieg (so es sich nicht um eine Show handeln sollte) der NATO gegen Rußland ist die Lage doch kompliziert.
Chapeau, sehr geehrter Herr Schrems. Stimme vollumfänglich zu und Ihr Beitrag ist eine wichtige und richtige Ergänzung. Kenne die Ukraine auch persönlich und es treibt mich arg um. Möge Gott der Herr diese Prüfung bitte abkürzen!