Historische Überlegungen zum Moskauer Patriarchat (Teil 3)

Der Cäsaropapismus und die Abhängigkeit der Nationalkirche vom Staat


Christus-Erlöserkathedrale in Moskau
Christus-Erlöserkathedrale in Moskau

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Die Reli­gi­ons­ge­schich­te Ruß­lands ist die Geschich­te eines Vol­kes, des­sen Füh­rer sich von dem Tauf­ver­spre­chen, das der hei­li­ge Wla­di­mir in Kiew gege­ben hat­te, abwand­ten, um eine natio­na­le Reli­gi­on zu schaf­fen, die funk­tio­nal für den neu­en Staat mit dem Zen­trum Mos­kau war.

Der erste Patri­arch von Mos­kau, der 1589 von Zar Fjo­dor I. ernannt wur­de, war Jov (Hiob). Ihm folg­ten Her­mo­gen und Phila­ret (Fjo­dor Niki­titsch Roma­now, 1553–1633), dem es gelangt, obwohl er selbst sich in Gefan­gen­schaft in Polen befand, 1613 sei­nen noch nicht sieb­zehn­jäh­ri­gen Sohn Micha­el Roma­now auf den Zaren­thron zu set­zen. Die­ser ernann­te 1619 den Vater zum Patri­ar­chen von Mos­kau und der gan­zen Rus. Damit ent­stand in Ruß­land die ein­zig­ar­ti­ge Situa­ti­on, daß der Zar der Sohn des Patri­ar­chen war, der in Wirk­lich­keit der eigent­li­che Herr­scher des Rei­ches war. Von 1613 bis 1917 regier­ten zwan­zig Herr­scher der Roma­now-Dyna­stie1, die eine im christ­li­chen Abend­land unbe­kann­te des­po­ti­sche Kom­bi­na­ti­on aus poli­ti­scher und reli­giö­ser Macht verkörperte.

Zar Peter I. der Gro­ße (1672–1725), ein Uren­kel des Patri­ar­chen Phila­ret, lei­te­te eine Säku­la­ri­sie­rung Ruß­lands ein, die am 25. Janu­ar 1721 in einem Mani­fest gip­fel­te, in dem die Abschaf­fung des Mos­kau­er Patri­ar­chats ange­kün­digt wurde.

„Die­ses aus­schließ­lich von der Staats­macht und aus rein poli­ti­schen Grün­den errich­te­te Patri­ar­chat schlug im Lau­fe eines Jahr­hun­derts kei­ne festen Wur­zeln auf rus­si­schem Boden, hat­te kei­ne leben­di­ge und orga­ni­sche Ver­bin­dung mit dem Volk, wur­de aus einer Lau­ne der staat­li­chen Macht gebo­ren und hör­te aus einer Lau­ne der letz­te­ren her­aus auf zu leben.“ 2

Anstel­le des Mos­kau­er Patri­ar­chats setz­te Peter der Gro­ße den „Hei­li­gen Syn­od“ ein, eine kol­le­gia­le Kir­chen­re­gie­rung, die sich aus Bischö­fen zusam­men­setz­te, die alle vom Zaren ernannt wur­den und an deren Spit­ze ein Gene­ral­pro­ku­ra­tor stand, der eben­falls vom Zaren ernannt wur­de. Im Jahr 1723 wur­de der Hei­li­ge Syn­od offi­zi­ell vom Patri­ar­chen von Kon­stan­ti­no­pel aner­kannt, der alle Rech­te des Mos­kau­er Patri­ar­chats auf das neue Gre­mi­um über­trug. Von da an ver­misch­te sich das Leben der rus­si­schen Kir­che völ­lig mit dem des Staa­tes und nahm den Cha­rak­ter einer büro­kra­ti­schen Insti­tu­ti­on an.

„Fast zwei Jahr­hun­der­te lang wird die rus­si­sche Kir­che kei­ne Geschich­te haben, denn ihre Geschich­te ist die des Staa­tes selbst.“ 3

Peter der Gro­ße ver­leg­te die Haupt­stadt von Mos­kau nach St. Peters­burg, stärk­te den zen­tra­li­sti­schen und auto­kra­ti­schen Staat und war der erste, der den Titel „Zar von ganz Ruß­land“ führ­te. Der mon­go­li­sche Abso­lu­tis­mus, der byzan­ti­ni­sche Cäsar­opa­pis­mus und die Mos­kau­er Ideo­lo­gie des Drit­ten Roms ver­schmol­zen in die­sem Titel.4 Der Basi­leus, d. h. der Zar und Kai­ser, prä­sen­tier­te sich als ein­zi­ger Ver­tre­ter Got­tes auf Erden.

Nach Peter dem Gro­ßen, der die ortho­do­xe Kir­che dem Staat unter­warf, woll­te Zarin Katha­ri­na II. (1762–1796) auch die grie­chisch-katho­li­sche Kir­che dem Staat unter­wer­fen und ver­füg­te 1793 die Auf­he­bung der latei­ni­schen Diö­ze­se Kiew. Im Jahr 1839 schaff­te Zar Niko­laus I. die grie­chisch-katho­li­sche Kir­che in den Gebie­ten der heu­ti­gen Ukrai­ne, von Weiß­ruß­land, Litau­en und eini­gen Regio­nen Polens ab, die im 16. und 17. Jahr­hun­dert in die Ein­heit mit Rom zurück­ge­kehrt waren.

Papst Pius IX. brach­te sei­ne Besorg­nis über die Poli­tik des Zaren zur Zer­stö­rung der öst­li­chen Katho­li­zi­tät in sei­nen Enzy­kli­ken Aman­tis­si­mo huma­ni vom 8. April 1862, Ubi urba­nia­no vom 30. Juli 1864, Leva­te vom 17. Okto­ber 1867 und Omnem solli­ci­tu­di­nem vom 12. Mai 1874 zum Aus­druck. In der Enzy­kli­ka Leva­te schreibt er:

„In der Tat wer­den katho­li­sche Bischö­fe, Geist­li­che und Lai­en ins Exil getrie­ben, inhaf­tiert, auf jede Wei­se gequält, ihres Besit­zes beraubt, von den schwer­sten Stra­fen geplagt und unter­drückt; die Cano­nes und Geset­ze der Kir­che wer­den völ­lig mit Füßen getre­ten. Die rus­si­sche Regie­rung begnügt sich nicht damit, son­dern fährt gemäß ihrer frü­he­ren Absicht fort, die Kir­chen­zucht zu ver­let­zen, die Ban­de der Ver­ei­ni­gung und der Gemein­schaft der Gläu­bi­gen mit Uns und mit die­sem Hei­li­gen Stuhl zu zer­rei­ßen und jedes Mit­tel und jede Anstren­gung zu gebrau­chen, um in jenen Staa­ten die katho­li­sche Reli­gi­on aus ihren Grund­fe­sten zu stür­zen, die Gläu­bi­gen dem Schoß der Kir­che zu ent­rei­ßen und sie in das ver­häng­nis­voll­ste Schis­ma zu ziehen.“

Wie die byzan­ti­ni­schen Kai­ser sahen auch die rus­si­schen Auto­kra­ten in der Kir­che und der Reli­gi­on ein Mit­tel zur Siche­rung und Erwei­te­rung der poli­ti­schen Ein­heit. Ein gro­ßer rus­si­scher Kon­ver­tit, Pater Iwan Gaga­rin (1814–1882) von der Gesell­schaft Jesu, schrieb, daß es, um die Ortho­do­xen zur Ein­heit der Kir­che zurück­zu­füh­ren, vor allem not­wen­dig sei, ihr poli­tisch-reli­giö­ses Kon­zept zu bekämp­fen, das sich auf drei Säu­len stütz­te: die ortho­do­xe Reli­gi­on, die Auto­kra­tie und das Prin­zip der Natio­na­li­tät, unter des­sen Ban­ner die Ideen Hegels und der deut­schen Phi­lo­so­phen nach Ruß­land ein­ge­drun­gen waren.5

Das rus­si­sche reli­giö­se Leben erfuhr eine zuneh­men­de Deka­denz, wur­de rein for­mal und äußer­lich, wäh­rend sich neben der insti­tu­tio­nel­len Reli­gio­si­tät die indi­vi­du­el­le und cha­ris­ma­ti­sche der Star­zen ent­wickel­te, Mön­che, die wegen ihrer thau­ma­tur­gi­schen Qua­li­tä­ten als Hei­li­ge ver­ehrt wur­den. Der von ihnen prak­ti­zier­te soge­nann­te „Hesy­chas­mus“ (nach dem hei­li­gen Hesy­chi­us, einem Aske­ten aus dem 8. Jahr­hun­dert), das „Her­zens­ge­bet“, ent­stellt in Wirk­lich­keit die alte spi­ri­tu­el­le Tra­di­ti­on der Mön­che des Ber­ges Athos. Der Grün­der des Klo­sters Megi­sti Lawra auf dem Athos, der hei­li­ge Atha­na­si­os, erlaub­te die mysti­sche Pra­xis des Her­zens­ge­bets nur fünf der 120 voll­kom­men­sten Mön­che. Gre­gor Pala­mos (1296–1359) demo­kra­ti­sier­te die­se Pra­xis und führ­te damit schwe­re Lehr­feh­ler ein, die die katho­li­sche Kir­che in zahl­rei­chen Doku­men­ten ver­ur­teilt hat.6 Die Sta­rez wur­den zu Wan­der­mön­chen, die in die Fuß­stap­fen alter spi­ri­ti­sti­scher Sek­ten mit manch­mal aus­schwei­fen­den Sit­ten tra­ten. Dies war sicher­lich der Fall bei dem Sta­rez Gri­go­ri Jefi­mo­witsch Ras­pu­tin (1869–1916), der einen ruch­lo­sen Ein­fluß auf den Hof von Kai­ser Niko­laus II. aus­üb­te. Die Bewah­rung der Lit­ur­gie, der ein­zi­gen Kate­che­se für die Gläu­bi­gen, ging ein­her mit der Kor­rup­ti­on und Unmo­ral des ortho­do­xen Kle­rus. Das Welt­prie­ster­tum wur­de zu einem Beruf, der vom Vater an den Sohn wei­ter­ge­ge­ben wur­de, mit einem Man­gel an Bil­dung, der mit einem schlech­ten Sün­den­ver­ständ­nis und der Vor­stel­lung ein­her­ging, daß nur durch die Erfah­rung der Sün­de eine gei­sti­ge Wie­der­ge­burt mög­lich ist.

Der gro­ße Ori­en­ta­list Aure­lio Pal­mie­ri (1870–1926) pran­ger­te die Übel an, unter denen die rus­si­sche Kir­che litt: Unbe­weg­lich­keit, büro­kra­ti­scher For­ma­lis­mus, poli­ti­sche Unter­wür­fig­keit. 1908 schrieb er:

„Die rus­si­sche Kir­che hat seit der Zeit Peters des Gro­ßen nicht mehr exi­stiert: Sie ist tot, sie hat ihre Füh­rung ver­lo­ren, sie hat kein Ober­haupt mehr. Sie ist zu einer Abtei­lung des Kul­tus­mi­ni­ste­ri­ums gewor­den, das durch büro­kra­ti­sche Doku­men­te die rus­si­sche Ortho­do­xie regiert.“ 7

Der Zusam­men­bruch des Zaren­reichs stand unmit­tel­bar bevor. Die Zeit des Cha­os, die 1917 auf die Febru­ar­re­vo­lu­ti­on von Ker­en­ski und die Okto­ber­re­vo­lu­ti­on von Lenin folg­te, schien dem Hei­li­gen Syn­od die Mög­lich­keit zu bie­ten, sei­ne Unab­hän­gig­keit wie­der­zu­er­lan­gen, indem er das Amt des Patri­ar­chen wie­der­ein­führ­te. Zwi­schen August und Novem­ber 1917 fand in Mos­kau ein Kon­zil statt, das am 28. Okto­ber (10. Novem­ber) nach fast zwei Jahr­hun­der­ten die Wie­der­errich­tung des Mos­kau­er Patri­ar­chats bil­lig­te. Tichon (Was­si­li Iwa­no­witsch Bellawin,1865–1925) wur­de zum Patri­ar­chen von Mos­kau und ganz Ruß­land gewählt.

Die Illu­si­on der Eman­zi­pa­ti­on von der poli­ti­schen Macht war jedoch nur von kur­zer Dau­er. Das bol­sche­wi­sti­sche Regime begann eine syste­ma­ti­sche Ver­fol­gung jeg­li­cher Art von Reli­gi­on. Patri­arch Tichon wur­de, obwohl er die Sowjet­re­gie­rung aner­kannt hat­te, inhaf­tiert und starb am 7. April 1925 mit den Worten:

„Die Nacht wird sehr lang und dun­kel sein.“

Die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che blieb bis zum Zwei­ten Welt­krieg ohne Patriarchen.

(Fort­set­zung folgt)

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Übersetzung/​Anmerkungen: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons


1 Im enge­ren Sinn von 1613 bis 1762, dann bis 1917 als Haus Romanow-Holstein-Gottorp.

2 Aure­lio Pal­mie­ri O.S.A.: La chie­sa rus­sa. Le sue odier­ne con­di­zio­ni e il suo rif­or­mis­mo dottri­na­le (Die rus­si­sche Kir­che. Ihre heu­ti­gen Bedin­gun­gen und ihre Lehr­re­for­men), Florenz1908, S. 64f

3 Juli­ja Niko­la­jew­na Dan­sas: La cosci­en­za reli­gio­sa rus­sa (Das rus­si­sche reli­giö­se Bewußt­sein), Bre­scia 1946, S. 63

4 Karl Bosl: Euro­pa im Mit­tel­al­ter. Welt­ge­schich­te eines Jahr­tau­sends, Wien-Hei­del­berg 1970, hier zitiert nach der ital. Aus­ga­be: L’Europa nel Medioevo, Mai­land 1975, S. 330.

5 Iwan Gaga­rin SJ: La Rus­sie sera-t-elle catho­li­que, Paris 1856, S. 74

6 Mar­tin Jugie: Dic­tion­n­aire de Théo­lo­gie Catho­li­que, Bd. XI, Sp 1735–76

7 op. cit, S. 304.

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