Walter Leslie Wilmshurst und die „Esoterische Schule“ (Gnosis) in der englischen Freimaurerei

Gnosis und Esoterik als konstituierendes Element der (regulären) Freimaurerei


Freimaurerei = Gnosis

Von Pater Pao­lo M. Siano*

Anzei­ge

In der regu­lä­ren eng­li­schen Frei­mau­re­rei (ich spre­che von der mehr­heit­lich männ­li­chen, tra­di­tio­nel­len Frei­mau­re­rei, d. h. der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land) gibt es ver­schie­de­ne „Schu­len“ oder For­schungs­rich­tun­gen, die sich mit dem Stu­di­um der Geschich­te, der Sym­bo­lik und des Ritu­als der Frei­mau­re­rei beschäftigen.

Wie ich den­ke, in mei­nen frü­he­ren Stu­di­en gezeigt zu haben, und wie wir hof­fent­lich wie­der sehen wer­den, ist die Eso­te­rik (Gno­sis, Ange­lo­lo­gie, Kab­ba­la, Alche­mie, Her­me­tik…) und ihre Anwen­dung auf die Sym­bo­lik und Ritua­le der Frei­mau­re­rei kei­nes­wegs auf das beschränkt, was der eng­li­sche Frei­mau­rer Ellic Howe (1901–1991) als „Frin­ge Mason­ry“ bezeich­ne­te, d. h. para- oder außer­mau­re­ri­sche Grup­pen, die schein­bar oder offi­zi­ell am Ran­de der regu­lä­ren und der Mehr­heits­frei­mau­re­rei ste­hen. In Wirk­lich­keit ist die gesam­te regu­lä­re und tra­di­tio­nel­le Frei­mau­re­rei, in die­sem Fall die bri­ti­sche oder eng­li­sche Frei­mau­re­rei, von der Eso­te­rik geprägt und durch­drun­gen, mit einer beson­de­ren gei­sti­gen und/​oder ritu­el­len Kon­zen­tra­ti­on in bestimm­ten, dem Lai­en oft unbe­kann­ten, aber in Frei­mau­rer­krei­sen sehr pre­sti­ge­träch­ti­gen oder eli­tä­ren Krei­sen. Die­se Krei­se sind aus­schließ­lich den regu­lä­ren Mei­ster­frei­mau­rern der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land und den Mei­ster­frei­mau­rern der von ihr welt­weit aner­kann­ten Groß­lo­gen vor­be­hal­ten. Es ist inter­es­sant fest­zu­stel­len, daß Br. Ellic Howe (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land; Brü­der nen­nen sich die Frei­mau­rer, wes­halb sie hier auch mit die­ser Anre­de aus­ge­wie­sen wer­den, Anm. d. Übers.) zur Zeit des Zwei­ten Welt­kriegs als Agent des bri­ti­schen Geheim­dien­stes ein Exper­te in Sachen Des­in­for­ma­ti­on war. Die Theo­rie der „Frin­ge Mason­ry“ hat in der Tat den Anschein von Des­in­for­ma­ti­on oder Ablenkung.

1. Die „Schulen“ oder Richtung der freimaurerischen Forschung

Die so genann­te „authen­ti­sche oder wis­sen­schaft­li­che Schu­le“ der frei­mau­re­ri­schen For­schung1 ist die­je­ni­ge, die mit der ange­se­he­nen Loge Qua­tu­or Coro­na­ti Nr. 2076 der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land mit Sitz in Lon­don ver­bun­den ist, die 1884 gegrün­det und 1886 ritu­ell geweiht wur­de. Die Ver­tre­ter der „authen­ti­schen Schu­le“ beschrän­ken sich auf die Unter­su­chung des histo­ri­schen oder doku­men­ta­ri­schen Aspekts der Frei­mau­re­rei und las­sen im all­ge­mei­nen – so scheint es – ihre eso­te­ri­schen Aspek­te aus, miß­ver­ste­hen sie oder unter­schät­zen sie, nicht zuletzt, weil sie zuwei­len befürch­ten, daß die Schrif­ten der eso­te­ri­schen Frei­mau­rer ver­schie­de­ne Kri­tik an der Frei­mau­re­rei bestär­ken könn­ten [vgl. James Dou­glas: Ele­ments of Maso­nic Rese­arch, in: The Dor­mer Maso­nic Stu­dy Cir­cle – Tran­sac­tion No. 179, s. d, Lon­don, S. 4–11 (1–22)]. Doch selbst ein renom­mier­ter Gelehr­ter, Mit­glied der Qua­tu­or Coro­na­ti, Br. John Hamill, gibt zu, daß eso­te­ri­sche und mysti­sche „Schu­len“ (der frei­mau­re­ri­schen For­schung), die die Über­lie­fe­rung eso­te­ri­scher Ideen und Tra­di­tio­nen („eso­te­ric tra­di­ti­ons“) nach­zeich­nen, an sich eine gül­ti­ge For­schungs­rich­tung sind („in its­elf a valid line of rese­arch“, S. 10). In der Tat habe ich selbst fest­ge­stellt, daß auch aus den Pro­to­kol­len der Qua­tu­or Coro­na­ti Lodge No. 2076 her­vor­geht, daß die eso­te­ri­sche oder mysti­sche Dimen­si­on für die regu­lä­re eng­li­sche Frei­mau­re­rei inhä­rent und grund­le­gend ist.

Br. James Dou­glas nennt die fol­gen­den For­schungs­schu­len „non-histo­ri­cal“, d. h. sol­che, die sich aus­schließ­lich mit frei­mau­re­ri­scher Sym­bo­lik, Mystik und Eso­te­rik befas­sen (vgl. S. 11):

a. Die 1921 gegrün­de­te Maso­nic Stu­dy Socie­ty (MSS), zu deren Mit­glie­dern „meh­re­re der tief­sten Den­ker“ der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land gehö­ren, wie Sir John Cockb­urn, Wal­ter Les­lie Wilmshurst, John Seba­sti­an Mar­low Ward („seve­ral of the Craft’s deepest thin­kers: Cockb­urn, Wilmshurst, Ward, to name just a few“). Die MSS exi­stiert noch immer als frei­mau­re­ri­sche Stu­di­en­ge­sell­schaft, die den Mei­ster­frei­mau­rern der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge oder den Groß­lo­gen, die mit ihr in Ver­bin­dung ste­hen, vor­be­hal­ten ist. Die MSS ver­fügt der­zeit nicht über eine eige­ne Website.

b. In den Jah­ren 1926/​27 führ­te die MSS indi­rekt zur Grün­dung der Lodge of the Living Stones No. 4957 in Leeds, der ersten Loge der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land, die sich in beson­de­rer Wei­se der Ver­tie­fung der spi­ri­tu­el­len oder mysti­schen Aspek­te der regu­lä­ren eng­li­schen Frei­mau­re­rei wid­me­te. Der erste Wor­shipful Master die­ser Loge war Wal­ter Les­lie Wilmshurst. Die etwa 49 Schrif­ten („Papers“) der Living Stones No. 4957, von denen vie­le von Wilmshurst ver­faßt wur­den, stel­len klas­si­sche frei­mau­re­ri­sche Lite­ra­tur dar, die die inne­re oder eso­te­ri­sche Bedeu­tung der Frei­mau­re­rei illu­striert („remain clas­sic con­tem­pla­ti­ve accounts of Freemasonry’s inner mea­ning“). Die Loge Living Stones Nr. 4957 besteht noch immer als Loge unter dem Gehor­sam der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge. Der Mar­quess von Nort­hamp­ton hat in sei­ner Zeit als Pro-Groß­mei­ster der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land (2001–2009) die eso­te­ri­schen Leh­ren der Frei­mau­re­rei gerühmt („the eso­te­ric tea­chings of Free­ma­son­ry“.

c. Im Jahr 1938 wur­de der Devereaux Maso­nic Stu­dy Cir­cle gegrün­det, der 1939 sei­nen heu­ti­gen Namen The Dor­mer Maso­nic Stu­dy Cir­cle (DMSC) annahm. Im Jahr 1988 wur­de in Ver­bin­dung mit dem DMSC die Dou­ble Hori­zon Lodge No. 9269 gegrün­det (vgl. S. 11). Bis heu­te ist der Dor­mer Maso­nic Stu­dy Cir­cle den Mei­ster­frei­mau­rern der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land und den Mei­ster­frei­mau­rern aus­län­di­scher Groß­lo­gen, die mit der Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge in Ver­bin­dung ste­hen, vor­be­hal­ten. Sei­ne Sit­zun­gen fin­den in Lon­don in der Free­ma­sons‘ Hall, dem Sitz der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land, statt.

Hin­zu kommt, daß in der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land (gegrün­det 1813) seit der ersten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts zu den Pflich­ten eines neu­en Instal­led Master oder Wor­shipful Master of Lodge, unter Punkt 9 die Ver­brei­tung der Kennt­nis­se der mysti­schen Kunst („the Mystic Art“, s. Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land: Con­sti­tu­ti­ons of the Anti­ent Fra­ter­ni­ty of Free and Accept­ed Masons, Lon­don 1841, S. VIII), ein Aus­druck, der auf die Frei­mau­re­rei oder eine „Wis­sen­schaft“ oder ein „Wis­sen“ hin­weist, das in und von der Frei­mau­re­rei gepflegt wird…

Eine wei­te­re Unter­schei­dung bie­tet der eng­li­sche Frei­mau­rer Charles Web­ster Lead­bea­ter (1854–1934), ein alt­ka­tho­li­scher Bischof, Theo­soph, Mit­be­grün­der der Libe­ra­len Katho­li­schen Kir­che und 33. Grad der gemisch­ten Frei­mau­re­rei (männ­lich und weib­lich), bekannt als Le Droit Humain oder Co-Mason­ry, zu der auch Ver­tre­te­rin­nen der Theo­so­phie von Hele­na Petrov­na Blava­ts­ky gehören.

Lead­bea­ter unterscheidet:

a. Die „anthro­po­lo­gi­cal school“ (die Br. John Hamill als „sym­bo­list school“ bezeich­net), die die frei­mau­re­ri­schen Riten und Sym­bo­le mit den Riten und Sym­bo­len der alten Völ­ker und Myste­ri­en­ge­sell­schaf­ten ver­bin­det. Zu den Frei­mau­rern die­ser Strö­mung gehört John Seba­sti­an Mar­low Ward (1885–1949).

b. Die „mystic school“, die den mysti­schen (und in der Tat magi­schen) Aspekt der Frei­mau­re­rei betont; so zum Bei­spiel die Frei­mau­rer W. L. Wilmshurst und Arthur Edward Wai­te (1857–1942). Über Wai­te habe ich hier geschrieben.

c. Die „occult school“, zu der Lead­bea­ter gehört, die auf die magi­sche und okkul­te Bedeu­tung der frei­mau­re­ri­schen Riten ach­tet (vgl. C. W. Lead­bea­ter: Free­ma­son­ry and its Anci­ent Mystic Rites, Gra­me­r­cy Books, New York 1998, S. 2–6; vgl. John Hamill: The Histo­ry of Eng­lish Free­ma­son­ry, Lewis Maso­nic, Add­le­s­tone 1994, S. 19–29).

2. Freimaurerei und Mystik von Br. W. L. Wilmshurst (1867–1939)

Band 119, Jahr 2006, der Tran­sac­tions der Loge Qua­tu­or Coro­na­ti No. 2076 (Lon­don; Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land) ent­hält eine Stu­die des Frei­mau­rers Antho­ny R. Bak­er über Wal­ter W. L. Wilmshurst (WLW), einen wich­ti­gen Ver­tre­ter der „Eso­te­ri­schen Schu­le“ (Vgl. Br. A. R. Bak­er, „W.L. Wilmshurst: his World of Fal­len but Living Stones“, in: Ars Qua­tu­or Coro­na­torum: Tran­sac­tions of the Qua­tu­or Coro­na­ti Lodge No. 2076, vol. 119 for the year 2006, Coun­cil of the Qua­tu­or Coro­na­ti Cor­re­spon­dence Cir­cle Limi­t­ed, Lon­don 2007, S. 40–105). Br. Bak­er ver­an­schau­licht zunächst das Den­ken von WLW und dann sein frei­mau­re­ri­sches Cur­ri­cu­lum. Ich begin­ne mit letzterem.

2.1 Freimaurerisches Curriculum von Br. Walter Leslie Wilmshurst (WLW)

Im Alter von 22 Jah­ren, im Jahr 1889, wur­de WLW als Frei­mau­rer in die Hud­ders­field Lodge No. 290 auf­ge­nom­men (vgl. S. 61). Nach Anga­ben von Br. Bak­er gehör­te Wilmshurst wahr­schein­lich auch dem Alten und Ange­nom­me­nen Schot­ti­schen Ritus [Hoch­g­rad­frei­mau­re­rei] an. Sicher ist jedoch, daß WLW Mit­glied von Arthur Edward Wai­tes Her­me­tic Order of the Gol­den Dawn (Her­me­ti­scher Orden der Gol­de­nen Mor­gen­rö­te oder ein­fa­cher: Gol­den Dawn) war, nicht aber der Fel­low­ship of the Rosy Cross (Bru­der­schaft des Rosen­kreu­zes) (vgl. S. 63).

Wal­ter Les­lie Wilmshurst, WLW

Im Jahr 1890 wird Br. Wilmshurst Frei­mau­rer­mei­ster. 1891 ist er Mit­glied des Holy Roy­al Arch (Ergän­zung des Drit­ten Gra­des der Frei­mau­rer). Er ist Logen­mei­ster der Loge Harm­o­ny Nr. 275. In den Jah­ren 1924 und 1927 ist er Vor­sit­zen­der der Hud­ders­field & District Instal­led Masters‘ Asso­cia­ti­on (vgl. S. 92). 1913 ist er Pro­vin­cial Grand Regi­ster und 1926 Past Pro­vin­cial Seni­or Grand War­den der Pro­vinz-Groß­lo­ge von York­shireWest Riding (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land). Auf Groß­lo­ge­ne­be­ne (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land) ist WLW 1929 Past Assi­stant Grand Direc­tor of Cere­mo­nies. In den Jah­ren 1924/​25 trat er der Maso­nic Stu­dy Socie­ty bei, deren Prä­si­dent er 1937 wur­de. Er ist Grün­der und Logen­mei­ster der Loge Living Stones No. 4957 (Leeds) von 1927 bis 1930 und 1937/​1938 (vgl. S. 93).

Wilmshurst wird also Mit­glied der Maso­nic Stu­dy Socie­ty von John Seba­sti­an Mar­low Ward (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land). Sei­ne erste Stu­die für die MSS wird am 16. Okto­ber 1925 vor­ge­legt: „The Fun­da­men­tal Phi­lo­so­phic Secrets within Mason­ry („Die grund­le­gen­den phi­lo­so­phi­schen Geheim­nis­se der Frei­mau­re­rei“). Wilmshurst zufol­ge ist die Frei­mau­re­rei ein von den alten Myste­ri­en abstam­men­des Ein­wei­hungs­sy­stem, das den Men­schen zur gei­sti­gen Rege­ne­ra­ti­on und zur Ver­ei­ni­gung mit dem Gött­li­chen, das bereits in ihm ist, füh­ren kann (vgl. S. 65–67).

Am 16. Dezem­ber 1927 wur­de die Lodge of the Living Stones No. 4957 (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land) in Leeds, Eng­land, gegrün­det, wo Wilmshurst als erster Logen­mei­ster ein­ge­setzt wird (vgl. S. 76). Die Loge ver­wen­det ihr eige­nes Ritu­al für die Eröff­nung und den Abschluß der ritu­el­len Arbeit. Bei bestimm­ten Anläs­sen wird eine drei­mi­nü­ti­ge Stil­le abge­hal­ten, damit alle Frei­mau­rer der Loge sich der Gegen­wart des Gro­ßen Bau­mei­sters des Uni­ver­sums (Gre­at Archi­tect of the Uni­ver­se, G.A.O.T.U.) und ihrer Ver­ei­ni­gung mit ihm bewußt wer­den („rea­li­sing“) (vgl. S. 78f).

Im Jahr 1937 wird Wilmshurst auf Vor­schlag von J. S. M. Ward neu­er Vor­sit­zen­der der MSS (vgl. S. 66f). 1939 erhält WLW eine Ein­la­dung, Mit­glied der frei­mau­re­ri­schen Philal­e­thes Socie­ty (USA) zu wer­den, und nimmt die­se an. Er stirbt am 19. Juli 1939 in Lon­don auf dem Weg zur Instal­la­ti­on des neu­en Groß­mei­sters der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land (vgl. S. 93).

2.2 Zusammenfassung der Gedanken von Br. Walter Leslie Wilmshurst

So faßt Br. Bak­er die Bedeu­tung des Wer­kes von Br. Wilmshurst zusam­men: „W.L. Wilmshurst was one of the gre­at expon­ents of the mysti­cal inter­pre­ta­ti­on of Free­ma­son­ry“ („W. L. Wilmshurst war einer der gro­ßen Ver­tre­ter der mysti­schen Inter­pre­ta­ti­on der Frei­mau­re­rei“, S. 40).

Br. Bak­er weist dar­auf hin, daß Wilmshurst jah­re­lang zunächst agno­stisch und mate­ria­li­stisch war, sich dann öst­li­chen Phi­lo­so­phien und Reli­gio­nen zuwand­te und die­se schätz­te. Bak­er zufol­ge war WLW gegen Ende sei­nes Lebens sogar einer der fein­sin­nig­sten christ­li­chen „Mysti­ker“. Wilmshurst schätzt, so Bak­er, die hei­li­gen Tex­te des Hin­du­is­mus eben­so wie das Johan­nes­evan­ge­li­um… Wilmshurst inter­es­siert sich auch für das Okkul­te… Er ist über­zeugt, daß alles, was auf der Erde geschieht, sei­ne Ent­spre­chung in den höhe­ren oder unsicht­ba­ren Ebe­nen der Wirk­lich­keit hat (vgl. S. 49–51).

Wilmshurst ist über­zeugt, daß alle Reli­gio­nen wie Strah­len sind, die von einem ein­zi­gen Zen­trum des Lichts aus­ge­hen, und daß die Reli­gio­nen, wie die alten Myste­ri­en („Anci­ent Myste­ries“, Wahr­hei­ten für die Mas­se des Vol­kes leh­ren, wäh­rend eini­ge gehei­me­re Wahr­hei­ten aus­ge­wähl­ten Krei­sen von Gläu­bi­gen vor­be­hal­ten sind (vgl. S. 52).

Bak­er zitiert eine Pas­sa­ge, in der Wilmshurst zeigt, daß er an die Eucha­ri­stie glaubt, aber in einem eso­te­ri­schen Sinn: Hin­ter den sakra­men­ta­len Schlei­ern befin­det sich alles, was man für sei­ne eige­ne Erfül­lung wis­sen muß… In Wilmshursts eso­te­ri­scher Visi­on ist Platz für alles, sogar für die Eucha­ri­stie und die Mes­se. Kei­nen Platz gibt es hin­ge­gen für die Kir­che von Rom (vgl. S. 54).

Bak­er stellt Wilmshurst als christ­li­chen Mysti­ker dar, obwohl es eigent­lich rich­ti­ger wäre, ihn als Gno­sti­ker zu bezeich­nen. Wilmshurst sucht die Ver­ei­ni­gung sei­ner See­le mit dem uni­ver­sel­len Wesen in Chri­stus… Nach Wilmshurst gibt es in uns das vita­le und unsterb­li­che Prin­zip („vital and immor­tal prin­ci­ple“), den „schim­mern­den Strahl“ („glim­me­ring ray“), der uns mit dem gött­li­chen Zen­trum allen Lebens ver­eint (vgl. S. 55).

Gene­rell lobt Wilmshurst die Wer­ke eines ande­ren „mysti­schen“ Frei­mau­rers, Arthur Edward Wai­te (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land), der unter ande­rem das Werk „Histoire de la Magie“ des fran­zö­si­schen Okkul­ti­sten und Frei­mau­rers Eli­f­as Levi unter dem Titel „Histo­ry of Magic“ ins Eng­li­sche über­setzt hat (vgl. S. 57).

Nach Wilmshurst impli­ziert der drit­te Grad des Mei­sters der „Craft Free­ma­son­ry“ einen mysti­schen Tod („mysti­cal death“: S. 58). WLW glaubt an die Reinkar­na­ti­on, zumin­dest als Stra­fe für die See­le, die die mysti­sche Ver­ei­ni­gung mit Chri­stus nicht erreicht hat, zeigt aber auch Sym­pa­thie für die Reinkar­na­ti­on als Mit­tel, ande­ren zu hel­fen, den Weg der Wie­der­ge­burt zu voll­enden (vgl. S. 58f).

Nach Wilmshurst reprä­sen­tie­ren die Beam­ten („offi­cers“) der Loge der drei grund­le­gen­den Gra­de der Frei­mau­re­rei („Craft Free­ma­son­ry“) die ver­schie­de­nen Bestand­tei­le des Menschen/​Initiaten: Geist (der Stuhl­mei­ster), See­le (der 1. Auf­se­her), Ver­stand (der 2. Auf­se­her) usw. (vgl. S. 64).

Wilmshurst ist über­zeugt, daß die Craft Free­ma­son­ry gött­li­chen Bei­stand genießt, daß der Engel Gabri­el die Tätig­keit der moder­nen Frei­mau­re­rei steu­ert und daß die Frei­mau­re­rei auf der Erde exi­stiert, weil sie in einer höhe­ren Form auch im Him­mel exi­stiert (vgl. S. 65).

2.3 Schriften und Einschätzungen

Wilmshursts wich­tig­ste und bekann­te­ste frei­mau­re­ri­sche Wer­ke sind: „The Mea­ning of Mason­ry“ (1922) und „The Maso­nic Initia­ti­on“ (1924), die bis heu­te zahl­rei­che Nach­drucke erfah­ren haben. Br. Bak­er erklärt, daß die­se Bücher häu­fig von Frei­mau­rer-Gelehr­ten posi­tiv zitiert wer­den, z. B. von Br. Colin Dyer (Ver­ei­nig­te Groß­lo­ge von Eng­land, Qua­tu­or Coro­na­ti), in sei­nem Buch „Sym­bo­lism in Craft Free­ma­son­ry“ (1983). Außer­dem gehö­ren die­se bei­den Bücher von Wilmshurst zu den fünf Lieb­lings­bü­chern von Rev. Joseph Fort New­ton (1876–1950), Bap­ti­sten­pa­stor, berühm­ter ame­ri­ka­ni­scher Schrift­stel­ler und Frei­mau­rer (vgl. S. 68–70).

Bak­er stellt fest, daß Wilmshursts Gedan­ken­gut sowohl von Anti­frei­mau­rern als auch von Frei­mau­rern, die mit Qua­tu­or Coro­na­ti ver­bun­den sind, kri­ti­siert wur­de. Br. Bak­er stellt fest, daß die Kri­tik der Frei­mau­rer­geg­ner (z. B. Rev. Pen­ney Hunt, Rev. Walt­on Han­nah) begrün­det ist, denn Wilmshurst preist Chri­stus in einem Kon­text von Mythen und anti­ken Myste­ri­en… Wilmshursts „Chri­sten­tum“ ist nicht römisch, dog­ma­tisch, son­dern eso­te­risch. Er glaubt, daß die Frei­mau­re­rei mehr als die Reli­gio­nen in der Lage ist, die spi­ri­tu­el­len Bedürf­nis­se des Men­schen zu befrie­di­gen. Nach WLW ist das Gött­li­che im Zen­trum eines jeden Men­schen, jeder Mensch kann Gott in sich selbst fin­den (vgl. S. 71f).

Inner­halb der Loge Qua­tu­or Coro­na­ti Nr. 2076 sind die Haupt­kri­ti­ker der Ideen von WLW und sei­ner mysti­schen Inter­pre­ta­ti­on der Frei­mau­re­rei: Rev. Neville Bar­ker Cry­er, John Hamill, Chri­sto­pher Haff­ner, Robert Gil­bert. Br. Haff­ner hielt Wilmshurst sogar für einen Scha­den für die Frei­mau­re­rei, da sei­ne Inter­pre­ta­tio­nen anti­frei­mau­re­ri­sche Angrif­fe, ins­be­son­de­re von christ­li­cher Sei­te, geför­dert hät­ten (vgl. S. 74–76).

Doch trotz die­ser frei­mau­re­ri­schen und anti­frei­mau­re­ri­schen Kri­tik wur­den und wer­den Wilmshursts Bücher von Frei­mau­rern hohen Ran­ges nach­ge­fragt („by rank and file mason“: vgl. S. 76). Ich möch­te hin­zu­fü­gen, daß auch mei­ner Mei­nung nach die mysti­sche – d. h. gno­sti­sche – Inter­pre­ta­ti­on der frei­mau­re­ri­schen Sym­bo­lik und des Ritu­als gut geeig­net ist, d. h. sie ent­spricht genau dem struk­tu­rel­len Rah­men des Ritus und der Sym­bo­le der Craft Free­ma­son­ry.

Zu den Stu­di­en­bü­chern, die Wilmshurst den Mit­glie­dern sei­ner Loge emp­fiehlt, gehört „The Lost Keys of Free­ma­son­ry or The Secret of Hiram Abi­ff“ (1923) des ame­ri­ka­ni­schen Okkul­ti­sten Man­ly Hall (1901–1990), der zu die­ser Zeit noch kein Frei­mau­rer war. Er soll­te erst eini­ge Jahr­zehn­te spä­ter einer wer­den. Den­noch betrach­te­te Wilmshurst den jun­gen Hall bereits als Ein­ge­weih­ten und Frei­mau­rer im Geiste.

Im Novem­ber 1917 erhielt Wilmshurst von Freun­den einen Ring mit einem gno­sti­schen Zei­chen. WLW glaubt an Reinkar­na­ti­on und ist davon über­zeugt, daß der Ring 1900 Jah­re zuvor ihm gehör­te und nun, in die­sem neu­en Leben, wie­der in sei­nem Besitz ist. Wilmshurst trug die­sen Ring immer am Fin­ger. Er wur­de nach sei­nem Tod von sei­ner Toch­ter an die Loge Living Stones No. 4957 über­ge­ben und wird seit­her vom dienst­ha­ben­den Stuhl­mei­ster am Fin­ger getra­gen (vgl. S. 80f). Auf dem Ring von WLW sind die bei­den Gesich­ter des zwei­ge­sich­ti­gen Got­tes Janus abge­bil­det, die unter ande­rem den gefal­le­nen Adam und den wie­der­ge­bo­re­nen Adam, den pro­fa­nen Men­schen und den ein­ge­weih­ten Men­schen zei­gen. Über den bei­den Gesich­tern befin­det sich der Adler, das Sym­bol für das höhe­re Selbst des Men­schen, den himm­li­schen Geist. Außer­dem ist eine Schlan­ge abge­bil­det, die das böse Prin­zip dar­stellt, das für das Gute not­wen­dig ist und ihm dient, wenn es kon­trol­liert wird („yet the evil prin­ci­ple is neces­sa­ry for, and mini­sters to the good, when it is con­trol­led“, s. hier). Also: Ver­ei­ni­gung der Gegen­sät­ze, Not­wen­dig­keit des Bösen… Kurz gesagt, wie­der Gnosis.

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze gewid­met hat. In sei­ner jüng­sten Ver­öf­fent­li­chung geht es ihm dar­um, den Nach­weis zu erbrin­gen, daß die Frei­mau­re­rei von Anfang an eso­te­ri­sche und gno­sti­sche Ele­men­te ent­hielt, die bis heu­te ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen Glau­bens­leh­re begründen.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​MiL

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Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

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