
Von Pater Paolo M. Siano*
Der Diener Gottes Mgsr. Hélder Pessoa Câmara (1909–1999), Priester seit 1931, Weihbischof (1952–1955) und Erzbischofkoadjutor (1955–1964) von Rio de Janeiro, dann Erzbischof von Olinda und Recife (1964–1985), einer der Gründer der Brasilianischen Bischofskonferenz und der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, war zweifellos „ein Protagonist der Kirche in Lateinamerika“ (hier).
Bischof Câmara, „ein Vorreiter der Befreiungstheologie“ (zur Befreiungstheologie verweise ich auf einen Artikel von mir), wurde von der Sunday Times als „der einflußreichste Mann in Lateinamerika nach Fidel Castro“ bezeichnet (siehe hier).
Vom 3. Mai 2015 bis zum 19. Dezember 2019 fand die diözesane Phase seines Seligsprechungsverfahrens statt. Ab 2019 begann dann die „römische Phase“ der Causa.

Anfang November 2022 wurde das Archiv des Dieners Gottes von der brasilianischen Regierung des Bundesstaates Pernambuco zum „nationalen Kulturerbe“ erklärt.
1. Ein progressiver Bischof
Um sich ein vollständigeres Bild von der Figur des Dieners Gottes zu machen, empfiehlt es sich, einen Artikel des Gelehrten Massimo Introvigne (2008) zu lesen, der zeigt, daß Bischof Câmara
- in den 1930er Jahren Mitglied und Generalsekretär der Brasilianischen Integralistischen Aktion (AIB) von Plinio Salgado (1895–1975), dem „brasilianischen Pendant zum Faschismus“, war;
- während des Zweiten Vatikanischen Konzils „eine grundlegende Rolle“ gespielt hat, obwohl er auf den Konzilssitzungen nie gesprochen hat. In der Tat spielte er eine wichtige Rolle („magna pars“) im „Opus Angeli“, einer Art sehr geheimen „Vereinigung“, die versuchte, das Konzil „mit ziemlich merkwürdigen Methoden zu beeinflussen: konspirative Treffen, privilegierte Kontakte mit den Medien, Codenamen, weil man nie weiß, wer mitliest oder am Telefon mithört“. Kardinal Suenens, „der wichtigste Sprecher für die Ideen Câmaras in den Konzilsdebatten“, wird fast immer als „Vater Miguel“ bezeichnet. Leiter des Opus Angeli war offenbar der österreichische Theologe Ivan Illich (1926–2002), der zu dieser Zeit in Mexiko, in Cuernavaca, lebte, wo Bischof Sergio Mendez Arceo (1907–1992) amtierte;
- bereits während des Konzils befürwortete er die Empfängnisverhütung und Verhütungsmittel. Bischof Câmara und seine Freunde kritisierten die Weigerung von Papst Paul VI. scharf, das Konzil über das Thema Verhütungsmittel entscheiden zu lassen. Câmara bezeichnete diese Weigerung als einen Fehler, der dazu bestimmt sei, „Bräute zu quälen, den Frieden so vieler Herde zu stören“ und sogar „den Tod des Konzils“ herbeizuführen! Auch Msgr. Câmara lehnte damals, wie viele andere Geistliche, die Enzyklika Humanae vitae ab, die Paul VI. 1968 verkündete (hier).
2. Msgr. Câmara verteidigte die Freimaurer
Auch im Hinblick auf die Urteilskraft des Dieners Gottes ist sein übermäßig nachsichtiges Urteil gegenüber seinen Familienangehörigen, die Mitglieder der Freimaurerei waren, höchst fragwürdig. Er selbst gab in den 1970er Jahren bekannt, daß sein Vater (João) und sein Großvater (João Edoardo), beide Journalisten, Freimaurer waren. In einer Hélder-Câmara-Biographie heißt es: „João Câmara, ein Freimaurer und Katholik, wollte, daß seine Söhne die Sakramente empfangen und aktiv am Leben der katholischen Kirche in der Stadt teilnehmen. Außerdem betete João den ganzen Monat Mai hindurch zur Muttergottes und sang in der Familie religiöse Lieder“ (Anselmo Palini: Hélder Câmara, Editrice Ave-Fondazione Apostolicam Actuositatem, Rom 2002, S. 20f).
Da sein Vater „Freimaurer und Katholik“ war, erklärte Bischof Câmara (um 1979):
„Deshalb habe ich immer an den schweren Anschuldigungen gegen die Freimaurer gezweifelt… Er war es, der mich lehrte, daß man gut sein kann, ohne religiös zu sein. Später verstand ich selbst, daß es möglich ist, ein praktizierender Katholik und gleichzeitig egoistisch zu sein.
Wenn ich an meinen Vater zurückdenke, habe ich den Eindruck, daß er, sein Vater, seine Brüder, seine ganze Familie der Freimaurerei aus einer antiklerikalen Haltung heraus angehörten und nicht aus einer antireligiösen oder gar antichristlichen Haltung heraus. Es war keineswegs eine Haltung gegen ‚echte‘ Priester. Mir scheint, heute wie damals, daß es eher eine Reaktion gegen bestimmte Haltungen der Kirche in diesem oder jenem Bereich und vielleicht gegen bestimmte Priester war“ (ebd., S. 21).
Kurzum: Da sein Vater, ein Freimaurer, in seiner Familie gut und fromm gewesen sei, so der Diener Gottes, würden die Anschuldigungen, die allgemein gegen die Freimaurer erhoben werden, nicht zutreffen… Man könnte sagen, daß Erzbischof Câmara aufgrund seiner familiären Erfahrung (Großvater, Vater und Onkel, allesamt Freimaurer) der Meinung war, daß die Initiation bei den Freimaurern nichts Antireligiöses oder Antichristliches an sich habe, sondern einfach eine Folge oder Reaktion auf den Klerikalismus der Kirche und der Priester sei…
Ich wage zu behaupten, daß diese Unterscheidung des Dieners Gottes verwirrend und falsch ist; daß ein Freimaurer gegenüber katholischen Familienmitgliedern in der Familie Güte, Respekt und Wohlwollen zeigt, ist sicherlich eine gute Sache, aber es reicht nicht aus, um die Mitgliedschaft von Katholiken in der Freimaurerei zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Das Verhalten des einzelnen Freimaurers in seiner Familie ist eine Sache, die Initiations- und Ritualstruktur der Freimaurerei eine andere. Und das ist es, was für eine authentische Einsicht in das Thema der Freimaurerei berücksichtigt werden muß.
Deshalb biete ich an dieser Stelle einige Daten über die brasilianische Freimaurerei der Zeit an, in der der Diener Gottes lebte. Ich vermeide es, mich auf antifreimaurerische Veröffentlichungen wie die von Pater Antonio Miranda: „O segrêdo da Maçonaria“ (Editora O Lutador, Manhumirim, Minas 1947), zu stützen, in der die Freimaurerei als eine vom Teufel inspirierte Vereinigung vieler geheimer Sekten definiert wird, die eine neue Ordnung und eine antichristliche Zivilisation gründen will (vgl. S. 17).
Stattdessen ziehe ich freimaurerische Quellen vor, aus denen die Unvereinbarkeit zwischen Freimaurerei und Kirche unumstößlich hervorgeht.
3. Die brasilianische Freimaurerei von innen gesehen
Zwischen 1974 und 1976 veröffentlichte der Verlag Editora Artenova in Rio de Janeiro (Brasilien) das vierbändige Werk Gran Diccionario Enciclopédico de Maḉonaria y Simbología (GDEMS) des Freimaurers Nicolas Aslan (1906–1980). Der 1906 in Griechenland geborene Italiener, der seit 1929 in Brasilien lebte, war seit 1956 Mitglied der brasilianischen regulären Freimaurerei des Grande Oriente do Brasil (GOB). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des GDEMS erreichte Aslan den 32. Grad des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus (AASR) und erhielt dann auch den 33. und letzten AASR-Grad.
In der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica vom 21. Mai 1977 stellte der Pater Giovanni Caprile (1917–1993), Experte für Freimaurerei, Nicolas Aslan als „seriösen und ehrlichen Gelehrten der freimaurerischen Geschichtsschreibung“ (Jahrgang 128, Bd. II, Heft 3046, S. 411) und sein Werk als „nützliches Werkzeug für eine angemessenere Kenntnis des freimaurerischen Phänomens“ (S. 411) vor, d. h. als ein Werk, das „zur Klarheit, zur Genauigkeit und zum gelassenen Dialog“ (S. 412) beiträgt. Doch abgesehen vom Dialog geht aus Aslans enzyklopädischem Freimaurer-Lexikon auch die Unvereinbarkeit zwischen Freimaurerei und christlichem Glauben hervor.

Unter den von Aslan zitierten Freimaurern finden sich Experten der freimaurerischen Esoterik wie Albert Gallatin Mackey 33°, Albert Pike 33°, Oswald Wirth 33°… Darüber hinaus finden wir typische Konzepte der esoterischen Kultur (jüdische Kabbala, Alchemie, Hermetik…).
Aslan erklärt die kabbalistische Doktrin, laut der die Zweigeschlechtlichkeit oder Androgynität in Gott und dem Ur-Adam oder Adam Kadmon liegt. Außerdem ist die kabbalistische Lehre von Adam Kadmon und den Sefirot im Alten und Angenommenen Schottischen Ritus präsent (vgl. GDEMS, Bd. I, 1974, S. 47).
Die Alchemie als geheime Gnosis, die die Dogmen des Christentums auf hermetische Weise interpretiert (gemäß dem Hermetismus), beeinflußt die freimaurerischen Hochgrade, insbesondere des AASR (vgl. GDEMS, I, S. 74f). Der kabbalistische Einfluß findet sich in der freimaurerischen Liturgie (vgl. GDEMS, I, S. 84).
Aslan 32° schreibt, daß der „Antichrist“ der für jede Manifestation und jeden Fortschritt notwendige negative Pol ist: „È o polo negativo necessario a toda manifestação e a todo progresso“ (GDEMS, I, S. 109).
Aslan erklärt, daß die Ziege „Baphomet“, das Symbol der „Templer, besser, der Neo-Templer“, ein Symbol der Initiation ist (vgl. GDEMS, I, S. 164), ein hermetisches, alchemistisches, magisches und pantheistisches Symbol des Absoluten (vgl. GDEMS, I, S. 150f).
Beim ersten Grad des Freimaurerlehrlings gibt es das Kabinett der Reflexion („Câmara das Reflexões“): ein dunkler kleiner Raum, Symbol des Erdmittelpunkts, mit Leichensymbolen und alchemistischen Symbolen, in dem der Freimaurerkandidat den initiatorischen Tod erlebt, der der Verwesung oder der alchemistischen Transmutation entspricht. Der profane Mensch stirbt und wird als Freimaurer wiedergeboren (vgl. GDEMS, I, S. 198–200).
Die Loge des dritten Grades der Freimaurer wird „Mittlere Kammer“ genannt und ist der Ort, an dem der zweite Initiationstod, die ewige Wiederherstellung, stattfindet (vgl. GDEMS, I, S. 200).
Der Punkt im Kreis ist ein wichtiges Symbol in der angelsächsischen Freimaurerei: Er stellt Gott im Zentrum des Kosmos dar, hat aber auch eine „phallische Bedeutung“, d. h. er steht für „o principio da generação“, das Generationenprinzip, (GDEMS, I, S. 247).
Aslan befürwortet auch die kosmische Dualität (Gott–Teufel, Luzifer, Träger des Lichts und Träger der Finsternis…) und die Vereinigung von Gegensätzen: Alles kommt von dem Einen und alles kehrt zu dem Einen zurück (vgl. GDEMS, I, S. 327). Die Dualität (z. B.: Gut–Böse, Gott–Satan…) kann durch ein drittes Element ergänzt werden (vgl. GDEMS, I, S. 341).
Aslan leugnet die katholische Lehre von der Ewigkeit der „Hölle“: Die Strafe ist, wenn überhaupt, lang, aber begrenzt (vgl. GDEMS, Bd. II, 1974, S. 505).
Aslan weist darauf hin, daß die Freimaurerei ihren „Esoterismo“ (Esoterik), ihre „parte esotérica“ (esoterische Seite), ihren „aspecto esoterico e iniciatico“ (esoterischen und initiatischen Aspekt) hat, aber nicht alle Freimaurer verstehen dies und bleiben so beim sozialen Aspekt der Freimaurerei stehen (vgl. GDEMS, II, S. 385).
Schon 1974 wußte Aslan, daß im neuen Codex des kanonischen Rechts (der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil revidiert wurde) jene Canones (z. B. Canon 2335), die die Freimaurerei offen verurteilten, nicht mehr vorkommen würden (vgl. GDEMS, II, S. 409f).
Aslan bekräftigt die Zweigeschlechtlichkeit der „Höchsten Gottheit“ (vgl. GDEMS, II, S. 525f) und damit von „Jehova“ (vgl. GDEMS, II, S. 535f).
Aslan 32° macht deutlich, daß das in den freimaurerischen Hochgraden vorkommende Feuerprinzip, d. h. die universelle Kraft der Regeneration, auch „Luzifer“ genannt werden kann (GDEMS, II, S. 604).
Der Freimaurermeister erreicht den Zustand des wahren Eingeweihten, wenn er sich bewußt wird, daß er eins ist mit „a Energia de Vida Universal“, „einer universellen Lebensenergie“ (GDEMS, Band III, 1975, S. 686).
Die Amtsträger der Logen können den zehn Sephiroth (göttliche Emanationen) entsprechen, die den kabbalistischen Lebensbaum bilden (vgl. GDEMS, Bd. IV, 1976, S. 1005–1010).
Aslan macht deutlich, daß es in der freimaurerischen Symbolik auch die Schlange gibt, Symbol der universellen Energie, Symbol der Harmonie der Gegensätze, das große magische Mittel (vgl. GDEMS, IV, S. 1020f). Die Uroboros-Schlange der Gnostiker und Alchemisten ist ein Symbol der absoluten Einheit und der Rückkehr von allem zur Einheit (vgl. GDEMS, IV, S. 1144h).
Das „Tao“ entspricht dem kabbalistischen „hebräischen En Soph“ und dem hinduistischen „Parabrahm“ und erscheint in Form von „Yang“ und „Yin“, „rein“ und „unrein“, männlich und weiblich… (vgl. GDEMS, IV, S. 1074).
Wie in den 1970er Jahren gibt es auch heute noch Kleriker und Laien in der Kirche, die sehr aktiv daran arbeiten, die kirchliche Hierarchie dazu zu bewegen, das für rechtmäßig zu erklären, was sie immer abgelehnt hat, wie z. B. Empfängnisverhütung und Verhütungsmittel (die von Msgr. Câmara verteidigt wurden), Freimaurerei (auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil von Bischof Sergio Mendez Arceo, einem Freund von Bischof Câmara, verteidigt), Homosexualität bzw. Gender- und LGBT-Theorien (vom progressiven Klerus verteidigt).
Möge der Heilige Geist auf die Fürsprache Mariens, der heiligsten Mutter der Kirche, den Hirten helfen, diesem teuflischen Treiben zu widerstehen und treu zu bewahren und weiterzugeben, was der heilige Johannes Paul II. „das Glaubensgut“, „das kostbare Gut der christlichen Lehre“ genannt hat (vgl. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Fidei Depositum, 11. Oktober 1992).
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Zuletzt von P. Paolo M. Siano veröffentlicht:
- Esoterik/Gnosis in der englischen Freimaurerei der „Moderns“ (1730–1740) (1. Teil)
- Esoterik/Gnosis in der englischen Freimaurerei der „Moderns“ (1730–1740) (2. und letzter Teil)
Zu Hélder Câmara siehe auch: