Esoterik und Gnosis in der englischen Freimaurerei der „Moderns“ (1730) – 1. Teil

Zweideutige Symbolik


Der Kandidat für den Grad des Freimaurermeisters wird symbolisch erschlagen, wie Hiram Abiff erschlagen wurde. Darstellung des 19. Jahrhunderts.
Der Kandidat für den Grad des Freimaurermeisters wird symbolisch erschlagen, wie Hiram Abiff erschlagen wurde. Darstellung des 19. Jahrhunderts.

von Pater Pao­lo M. Sia­no*

Nach mei­nen Arti­keln über Eso­te­rik und Gno­sis in der bri­ti­schen Frei­mau­re­rei vor 1717 und in den Kon­sti­tu­tio­nen der Groß­lo­ge von Eng­land von 1723 unter­su­che ich dies­mal eini­ge 1730 in Lon­don ver­öf­fent­lich­te Tex­te, die sich auf die eng­li­sche Frei­mau­re­rei der „Moderns“ 1 bezie­hen, d. h. auf jene, die sich 1717 offi­zi­ell als Groß­lo­ge von Lon­don oder Groß­lo­ge von Eng­land kon­sti­tu­ier­ten und 1723 ihre neu­en, von dem schot­ti­schen Frei­mau­rer und pres­by­te­ria­ni­schen Pastor James Ander­son ent­wor­fe­nen Kon­sti­tu­tio­nen verkündeten.

Anzei­ge

Wie wir sehen wer­den, tau­chen Spu­ren von Eso­te­rik und Gno­sis aus die­sen Tex­ten von 1730 auch in der eng­li­schen Frei­mau­re­rei der „Moderns“ auf, also bereits in den frü­hen Jah­ren ihrer Ent­ste­hung im 18. Jahr­hun­dert.

Über die sehr enge Ver­bin­dung zwi­schen Eso­te­rik (Erkennt­nis der Wahr­heit und der Rea­li­tät für weni­ge Aus­er­wähl­te) und Gno­sis (Erken­nen sei­ner selbst, coni­unc­tio oppo­si­torum…), und wes­halb die Gno­sis ein zen­tra­les Ele­ment der Eso­te­rik ist, ver­wei­se ich auf die Arbeit des Groß­mei­sters der regu­lä­ren Groß­lo­ge von Ita­li­en, Fabio Ven­zi: „Ernst Jün­ger. Lo sguar­do eso­ter­i­co“ („Ernst Jün­ger. Der eso­te­ri­sche Blick“, Edi­zio­ni Set­ti­mo Sigil­lo, Rom 2021, S. 42f.2

1. „Masonry Dissected“ von Samuel Prichard (London 1730)

Pri­chards Schrift in einer Aus­ga­be von 1749

1730 erschien in Lon­don das Pam­phlet (Flug­blatt, Bro­schü­re) des (ehe­ma­li­gen) Frei­mau­rers Samu­el Pri­chard: „Mason­ry Dis­sec­ted: Being a Uni­ver­sal and Genui­ne Descrip­ti­on of All its Bran­ches, from the Ori­gi­nal to this Pre­sent Time: As it is deli­ver­’d in the Con­sti­tu­ted Regu­lar Lodges, Both in City and Coun­try, Accor­ding of their Regu­lar Pro­ce­e­dings in Initia­ting their News Mem­bers in the who­le Three Degrees of Mason­ry“, in: Knoop, Douglas–Jones, Gwi­lym Peredur–Hamer, Dou­glas: The Ear­ly Maso­nic Cate­chisms, The Second Edi­ti­on („Die frü­hen Frei­mau­rer-Kate­chis­men“), Published for the Qua­tu­or Coro­na­ti Lodge, No. 2076, Lon­don, by Man­che­ster Uni­ver­si­ty Press 1963, S. 157–173).

Pri­chards Text ist für die Kennt­nis der Frei­mau­re­rei sehr wich­tig: Es ist näm­lich der erste Text, der sowohl die drei frei­mau­re­ri­schen Gra­de Lehr­ling, Gesel­le und Mei­ster als auch die Legen­de von Hiram im drit­ten Grad des Frei­mau­rer­mei­sters darstellt.

1. Der angenommene Lehrling

Pri­chard berich­tet, daß beim Turm­bau zu Babel die Kunst und das Geheim­nis der Frei­mau­re­rei zum ersten Mal ein­ge­führt und dann an die Ägyp­ter wei­ter­ge­ge­ben wur­de, von denen der Mathe­ma­ti­ker Euklid sie an den Frei­mau­rer­mei­ster Hiram wei­ter­gab, der beim Bau des Tem­pels von Jeru­sa­lem tätig war (vgl. S. 158). 

Also: Turm­bau zu Babel – Altes Ägyp­ten – Hiram… :

„Die ursprüng­li­che Insti­tu­ti­on der Frei­mau­re­rei beruht auf dem Fun­da­ment der frei­en Kün­ste und Wis­sen­schaf­ten, ins­be­son­de­re aber auf der fünf­ten, näm­lich der Geo­me­trie. Denn beim Turm­bau zu Babel wur­de die Kunst und das Geheim­nis der Frei­mau­re­rei zuerst ein­ge­führt und von da an von Euklid, einem wür­di­gen und aus­ge­zeich­ne­ten Mathe­ma­ti­ker der Ägyp­ter, über­lie­fert, und er über­mit­tel­te sie Hiram, dem Mau­rer­mei­ster, der mit dem Bau von Salo­mos Tem­pel in Jeru­sa­lem beschäf­tigt war […]“ (S. 158).

Pri­chard hat nicht unrecht, wenn er zu den gei­sti­gen Vor­fah­ren der Frei­mau­rer bereits die Erbau­er des Turms zu Babel zählt: Hoch­mü­ti­ge Mau­rer, die sich unab­hän­gig von Gott selbst zu Göt­tern erhe­ben woll­ten. In der Tat wol­len die neu­en Frei­en Mau­rer die Gesell­schaft und den Men­schen ohne Rück­sicht auf reli­giö­se Dog­men und kirch­li­che Auto­ri­tä­ten (wieder)aufbauen.

Sehen wir uns Pri­chards Frei­mau­rer-Kate­chis­mus mit Fra­gen („Q.“) und Ant­wor­ten („A.“) näher an. Beim ersten Grad des Lehr­lings („Enter’d ‚Prentice’s Degree“) lesen wir, daß der Ehr­wür­di­ge Mei­ster der Loge den Kan­di­da­ten zum Frei­mau­rer macht oder erschafft („Q. What did the Master do with you? A. He made me a Mason“, S. 161).

Es besteht also das Bewußt­sein, daß der Initia­ti­ons­ri­tus den Kan­di­da­ten inner­lich umwan­delt, ihn zum Frei­mau­rer macht.

Mit gebeug­tem Knie, mit dem Kör­per inner­halb des Qua­drats, den Zir­kel offen und auf die ent­blöß­te lin­ke Brust gerich­tet, die rech­te Hand auf der Bibel, legt der Kan­di­dat sei­nen Eid ab, „the Obli­ga­ti­on (or Oath) of a Mason“, indem er vor dem all­mäch­ti­gen Gott und der Loge schwört, die Geheim­nis­se der Frei­mau­rer oder der Frei­mau­re­rei, die ihm offen­bart wer­den, geheim­zu­hal­ten und nie­mals preis­zu­ge­ben, es sei denn gegen­über einem wah­ren Frei­mau­rer­bru­der oder in einer rich­ti­gen Frei­mau­rer­lo­ge. Der Kan­di­dat schwört, daß er sol­che Geheim­nis­se weder auf­schrei­ben noch ein­rit­zen noch drucken wird unter Andro­hung, daß man ihm die Keh­le durch­schnei­det, die Zun­ge her­aus­reißt, das Herz aus der Brust reißt, den Kör­per zu Asche ver­wan­delt und die Asche auf dem Ant­litz der Erde aus­streut. Am Ende des Eides beschwört der Kan­di­dat die Hil­fe Got­tes (vgl. S. 161).

Der Kan­di­dat, die Drei Lichter…

Auch in spä­te­ren eng­li­schen Frei­mau­rer-Kate­chis­men oder Ritu­al­tex­ten erwähnt der Eid blu­ti­ge Stra­fen für Mein­ei­di­ge und Ver­rä­ter. Die­ser Frei­mau­rer­eid ist einer der Grün­de, war­um Papst Cle­mens XII. mit der Bul­le „In emi­nen­ti“ die Frei­mau­re­rei 1738 erst­mals verurteilte.

In Pri­chards Frei­mau­rer-Kate­chis­mus heißt es, die Loge habe die Form eines „long Squa­re“, d. h. eines Recht­ecks: lang von Osten nach Westen, breit von Nor­den nach Süden, so hoch wie der Him­mel („as high as the Hea­vens“), tief bis zum Mit­tel­punkt der Erde („Q. How deep? A. To the Cent­re of the Earth“, S. 162).

Der Text führt aus, daß die Loge auf geweih­ter Erde steht, auf dem höch­sten Berg oder in dem tief­sten Tal („Q. Whe­re does the Lodge stand? A. Upon Holy Ground, or the hig­hest Hill, or lowest Vale, or in the Vale of Jeho­sa­phat, or any other secret Place“) und ist von Osten nach Westen aus­ge­rich­tet, weil alle Kir­chen und Kapel­len so ange­ord­net sind („A. Becau­se all Churches and Chapp­les are, or ought to be so“, S. 162). Die Loge wird von drei gro­ßen Säu­len getra­gen („Three gre­at Pil­lars“): Weis­heit, Stär­ke und Schön­heit („Wis­dom, Strength, and Beau­ty“, S. 162).

Die­se sym­bo­li­schen Dimen­sio­nen der Loge fin­den sich in den Ritua­len der Frei­mau­rer bis heute.

Mei­ne Über­le­gun­gen: Die Frei­mau­rer­lo­ge ver­bin­det (wie die Alche­mie und die Her­me­tik) die Gegen­sät­ze: den Him­mel und die Erde, den Him­mel und die Unter­welt, das Hohe und das Nied­ri­ge… Der Boden der Loge ist für die Frei­mau­rer hei­lig… Es kann sich um einen Raum han­deln, der für pro­fa­ne Zwecke genutzt wird, aber sobald die Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nie statt­ge­fun­den hat, wird er für die gesam­te Dau­er des frei­mau­re­ri­schen Ritu­als zur Loge, also zum geweih­ten Boden… Es scheint sich um einen ritu­el­len Vor­gang magi­scher Art zu han­deln, da er sakra­le, fast onto­lo­gi­sche Wir­kun­gen beansprucht.

Keh­ren wir zum Text von Pri­chard zurück. Die Ein­rich­tung („Fur­ni­tu­re“) der Loge besteht aus dem Mosa­ik­fuß­bo­den („Mosaick Pave­ment the Ground Flo­or of the Lodge“), dem flam­men­den Stern („Bla­zing Star the Cent­re“) und dem ein­ge­kerb­ten Rand (vgl. S. 162).

In der Loge gibt es Drei Lich­ter („Lights“), das sind drei Ker­zen auf hohen Leuch­tern („The­se Lights are three lar­ge Cand­les pla­ced on high Cand­le­sticks“), wel­che die Son­ne, den Mond und den Frei­mau­rer­mei­ster reprä­sen­tie­ren („A. Sun, Moon, and Master-Mason“): Die Son­ne regiert den Tag, der Mond die Nacht, der Frei­mau­rer­mei­ster sei­ne Loge („A. Sun to rule the Day, Moon the Night, and Master-Mason his Lodge“, S. 163). Wie die Son­ne im Osten auf­geht und den Tag eröff­net, so sitzt der Logen­mei­ster im Osten, eröff­net die Loge und setzt sei­ne Män­ner an die Arbeit. Um sei­nen Hals trägt der Logen­mei­ster ein Win­kel­maß (vgl. S. 163).

Das Wort des Lehr­lings ist „BOAZ“, die Ant­wort ist „JACHIN“ (vgl. S. 165). Die Frei­mau­rer­lo­ge wird als „Hei­li­ge Loge des hei­li­gen Johan­nes“ bezeich­net („Holy Lodge of St. John’s“, vgl. S. 167).

Mei­ne Über­le­gun­gen: Aus Pri­chards Text folgt logi­scher­wei­se, daß der Mei­ster der Loge und die Loge selbst die Gegen­sät­ze in sich ver­ei­nen: Son­ne und Mond, Tag und Nacht, Licht und Dun­kel­heit… Der Mei­ster der Loge ist wie die Son­ne, Quel­le des Lichts, Trä­ger des Lichts, also ver­gleich­bar mit dem Gott Phoe­bus-Apol­lo, der auf der Titel­sei­te von Ander­sons Kon­sti­tu­tio­nen von 1723 „leuch­tet“. Der Ehr­wür­di­ge Mei­ster trägt ein Juwel in Form eines Win­kel­ma­ßes um den Hals, das in der alche­mi­sti­schen Eso­te­rik das weib­li­che Prin­zip dar­stellt, wie es in der Figur der Rebis oder Andro­gy­ne dar­ge­stellt ist, die in dem Buch „Azoth“ (1613) ver­öf­fent­licht wur­de, das dem Alche­mi­sten und Mönch Basil Valen­ti­ne aus dem 15. Jahr­hun­dert zuge­schrie­ben wird. Aus eso­te­ri­scher, „sub­ti­ler“ Sicht kann man daher sagen, daß der Logen­mei­ster einen andro­gy­nen (Son­ne-Mond-) Cha­rak­ter hat…

2. Der Geselle

Der zwei­te Grad wird als „Fellow-Craft’s Degree“ (Gesel­le) bezeich­net. Aus dem ritu­el­len Fra­ge-und-Ant­wort-Text erfah­ren wir, daß der frei­mau­re­ri­sche Gesel­le sein Gehalt in dem Zwi­schen­raum erhält, den er durch die Vor­hal­le betritt. Wenn er die Vor­hal­le erreicht, sieht er zwei gro­ße Säu­len von 18 Ellen (etwa 8 Meter), die „Jachin und Boaz“ genannt wer­den. Der Frei­mau­rer gelangt in die „midd­le Cham­ber“ durch ein gewun­de­nes Trep­pen­paar („By a win­ding Pair of Stairs“) von 7 oder mehr Stu­fen („Seven or more“), denn 7 oder mehr Frei­mau­rer bil­den eine gerech­te („just“) und voll­kom­me­ne („regu­lar“) Loge (vgl. S. 165f). An der Tür des Zwi­schen­raums ange­kom­men, trifft der Frei­mau­rer-Kan­di­dat des 2. Gra­des auf einen Auf­se­her („War­den“), der ihn nach drei Erken­nungs­zei­chen fragt: Zei­chen („Sign“), Griff („Token“) und Wort („Word“), das „Jachin“ lau­tet.

Der Zwi­schen­raum mit dem G

Ach­ten Sie auf die fol­gen­den Pas­sa­gen. Die Tür des Zwi­schen­raums ist so hoch, daß ein Laie sie nicht errei­chen kann:

„Q. How high was the Door of the midd­le Chamber ?

A. So high that a Cowan could not reach to stick a Pin in.“ (S. 166)

Im Zwi­schen­raum, der ein Vor­be­rei­tungs­zim­mer ist, sieht der Frei­mau­rer den Buch­sta­ben G. Der Mei­ster fragt den neu­en Gesel­len, wofür das G steht, und der Gesel­le ant­wor­tet, daß es für jeman­den steht, der grö­ßer ist als er selbst (d. h. grö­ßer als der Mei­ster). Der Mei­ster fragt, wer grö­ßer ist als er, der er ein Frei­er und Ange­nom­me­ner Mau­rer und Mei­ster einer Loge ist („Q. Who’s grea­ter than I, that am a Free and Accept­ed Mason, the Master of a Lodge“). Die Ant­wort lau­tet: der gro­ße Bau­mei­ster des Uni­ver­sums oder der­je­ni­ge, der auf die Spit­ze der Zin­ne des Tem­pels gebracht wur­de („A. The Grand Archi­tect and Con­tri­ver of the Uni­ver­se, or he that was taken up to the Top of the Pin­na­cle of the Holy Temp­le“, S. 166).

Hat der Frei­mau­rer in der Loge im Zusam­men­hang mit dem 2. Grad wirk­lich einen Zwi­schen­raum mit dem Buch­sta­ben G gese­hen, oder ist es eine „men­ta­le“ Rei­se durch Sym­bo­le und ritu­el­le Dialoge?

Mei­ne Über­le­gun­gen: Nach Pri­chards Text ist die Tür des Zwi­schen­raums so hoch, daß ein Pro­fa­ner (ein Nicht-Mau­rer) sie nicht errei­chen kann… Es scheint gemeint zu sein, daß der All­mäch­ti­ge Bau­mei­ster aller Wel­ten („Gre­at Archi­tect of the Uni­ver­se, abge­kürzt GAU oder SAU), der auf die Spit­ze des Tem­pels erho­ben wur­de, Jesus ist… Es scheint gemeint zu sein, daß er vom Teu­fel dort­hin gebracht wur­de (nach dem Bericht des Evan­ge­li­ums).
Es ist aber mög­lich, GAU von Jesus zu unter­schei­den. Der Logen­mei­ster wird als allen Men­schen über­le­gen dar­ge­stellt und nur dem All­mäch­ti­gen Bau­mei­ster aller Wel­ten unter­le­gen. Man könn­te in gewis­sem Sin­ne den Zwi­schen­raum des Tem­pels mit der Zin­ne gleich­set­zen, auf die der GAU erhöht wur­de. Der Kan­di­dat wird sym­bo­lisch in die Höhe gehoben. 

Spie­len die Frei­mau­re­rei und der Logen­mei­ster die Rol­le des­sen, der den GAU oder Jesus auf die Zin­ne des Tem­pels geho­ben hat? Das ist der Teu­fel, der den Men­schen über­le­gen ist, aber nicht Gott.

3. Der Freimaurermeister

Im drit­ten Grad („The Master’s Degree“) lesen wir, daß der Frei­mau­rer­mei­ster von Osten nach Westen reist auf der Suche nach dem, was ver­lo­ren war und wie­der­ge­fun­den wur­de, näm­lich das Mei­ster­wort („The Master-Mason’s Word“). Das Wort ging durch Drei gro­ße Schlä­ge ver­lo­ren, die Mei­ster Hiram töte­ten („R. By Three gre­at Knocks, or the Death of our Master Hiram“, S. 168). 

So kam es zum Tod Hirams: Beim Bau des Salo­mo­ni­schen Tem­pels war Hiram Mei­ster-Mau­rer. Um 12 Uhr mit­tags, als die Arbei­ter sich zur Ruhe bega­ben, betrat Hiram den Tem­pel, um die Arbeit zu inspi­zie­ren, fand aber drei böse Män­ner vor, viel­leicht Gesel­len („three Ruf­fi­ans, sup­po­sed to be three Fel­low-Crafts“), die an den drei Ein­gän­gen des Tem­pels stan­den. Jeder der drei woll­te von Hiram das Mei­ster­wort („the Master’s Word“) erhal­ten, und als er sich wei­ger­te, schlug ihn jeder von ihnen. Der erste gab Hiram einen Schlag („a Blow“), der zwei­te gab ihm einen grö­ße­ren Schlag („a grea­ter Blow“), und der drit­te schließ­lich gab ihm den töd­li­chen Schlag, die „Ruhe“ („at the third his Quie­tus“, S. 168).

Hiram Abi­ff zwi­schen JACHIN und BOAZ

Um Mit­ter­nacht brach­ten die drei Mör­der den Leich­nam Hirams vor das West­tor des Tem­pels und ver­steck­ten ihn unter Unrat („and hid him under some Rub­bish till high 12 again“). Dann brach­ten sie ihn auf die Spit­ze eines Hügels, wo sie ihm ein wür­di­ges Grab gaben. Er wur­de 15 Tage spä­ter von 15 Frei­mau­rern gefun­den. Die­se kamen aus dem West­tor des Tem­pels, teil­ten sich von rechts nach links auf und kamen über­ein: Wenn sie das Wort nicht in oder bei Hiram fin­den soll­ten, wür­de das erste Wort, das sie spre­chen, das Mei­ster­wort wer­den („and they agreed, that if they did not find the Word in him, or about him, the first Word should be the Master’s Word“, S. 168f). Einer der Frei­mau­rer, die nach Hiram such­ten, war müder als die ande­ren und setz­te sich hin, um sich aus­zu­ru­hen. Er klam­mer­te sich an einen Strauch („a Shrub“), der sich leicht lösen ließ, und bemerk­te, daß der Boden locker war. Er rief die ande­ren, und gemein­sam fan­den sie Hirams Leich­nam in einem ansehn­li­chen Grab 6 Fuß Ost, 6 Fuß West und 6 Fuß tief („a hand­so­me Gra­ve 6 Foot East, 6 West, and 6 Foot per­pen­di­cu­lar“). Die Frei­mau­rer bedeck­ten es, indem sie einen Kas­si­en­zweig auf den Kopf des Gra­bes leg­ten („a Sprig of Cas­sia at the Head of his Gra­ve“). Dann mel­de­ten sie alles dem König Salo­mo, der ihnen befahl, Hirams Leich­nam zu ber­gen und anstän­dig zu begra­ben (vgl. S. 169).

Der Frei­mau­rer-Kate­chis­mus fragt, wie Hiram erhöht wur­de („Ex. How was Hiram rai­s’d?“), die Ant­wort lau­tet: Er wur­de erhöht, wie alle Frei­mau­rer erhöht wer­den, wenn sie das Wort des Mei­sters emp­fan­gen, d. h. durch die fünf Punk­te der Gemein­schaft, d. h. Hand an Hand, Fuß an Fuß, Wan­ge an Wan­ge, Knie an Knie und Hand im Rücken („Hand to Hand, Foot to Foot, Cheek to Cheek, Knee to Knee, and Hand in Back“). Beim Ver­such, Hirams Lei­che an den Fin­gern hoch­zu­he­ben, löste sich die Haut, sodaß der Griff abrutsch­te („When Hiram was taken up, they took him by the Fore-fin­gers, and the Skin came off, which is cal­led the Slip“, S. 169). Der Leich­nam war also bereits verwest.

Im frei­mau­re­ri­schen Kate­chis­mus heißt es, daß der Frei­mau­rer­mei­ster „Cas­sia“ genannt wird („Ex. What’s a Master-Mason nam’d. R. Cas­sia is my Name, and from a Just and Per­fect Lodge I came“) und daß Hiram im Sanc­tum Sanc­torum des Tem­pels bei­gesetzt wur­de („Ex. Wo wur­de Hiram bei­gesetzt? R. Im Sanc­tum Sanc­torum“, S. 170).

Das Mei­ster­wort („the Master’s Word“) wird dem ange­hen­den Mei­ster ins Ohr geflü­stert, wäh­rend der Griff nach dem Kan­di­da­ten gemäß den 5 Punk­ten der Bru­der­schaft erfolgt. Die­ses Wort ist „Mac­be­nah“, was bedeu­tet: Der Bau­mei­ster ist erschla­gen (vgl. S. 170).

Mei­ne Über­le­gun­gen: Im drit­ten Grad ist die Loge der Ort eines sym­bo­li­schen Mor­des, eines sym­bo­li­schen Todes. Der neue Mei­ster wird mit Hiram Abi­ff iden­ti­fi­ziert. Die Loge „tötet“ den Kan­di­da­ten. Spä­te­re eng­li­sche Frei­mau­rer­ri­tua­le und Frei­mau­rer-Kate­chis­men des 18. und 19. Jahr­hun­derts wer­den die Rol­le des Ehren­wer­ten Mei­sters und der bei­den Logen­auf­se­her als sym­bo­li­sche Mör­der von Hiram/​des Kan­di­da­ten detail­liert beschrei­ben. Hirams Leich­nam ver­rot­tet und ist doch im Sanc­tum Sanc­torum begra­ben. Mord und Unrein­heit (Fäul­nis) im hei­li­gen Tem­pel, der die Loge ist…
Es zeigt sich eine ganz bestimm­te Initia­ti­ons­lo­gik, die nach Über­schrei­tung ver­langt, ähn­lich der, die von „hete­ro­do­xen“ Kab­ba­li­sten wie Schab­ba­tai Zwi und Jakob Frank theo­re­ti­siert und prak­ti­ziert wurde. 

Erin­nert die Iden­ti­fi­zie­rung des Frei­mau­rer­mei­sters mit einer Pflan­ze („Cas­sia“) an das Kon­zept der See­len­wan­de­rung oder der Metem­psy­cho­se der Pytha­go­rä­er und Kabbalisten?

Fah­ren wir mit dem Text von Pri­chard fort. Im Kapi­tel „The Author’s Vin­di­ca­ti­on of hims­elf from the pre­ju­di­ced Part of Man­kind“ macht der Autor deut­lich, daß es in der Frei­mau­re­rei sei­ner Zeit eine Kri­se gab, und er erwähnt sogar den Plan eini­ger Frei­mau­rer, ein ande­res Frei­mau­rer-System zu grün­den, weil die alte Bau­hüt­te (also die alte Frei­mau­re­rei) so bau­fäl­lig gewor­den ist, daß sie ohne Repa­ra­tur durch irgend­ein okkul­tes Myste­ri­um aus­ge­löscht wer­de („the forming ano­ther System of Mason­ry, the old Fab­rick being so rui­nous, that, unless repair’d by some occult Mystery, will soon be anni­hi­la­ted“, S. 171).

Der Aus­druck „irgend­ein okkul­tes Geheim­nis“ läßt natür­lich an Eso­te­rik und Okkul­tis­mus den­ken. Der eng­li­sche Frei­mau­rer Har­ry Carr (1900–1983) wies dar­auf hin, daß vie­les von dem, was in den von Samu­el Pri­chard ver­öf­fent­lich­ten Ritua­len ent­hal­ten ist, nach rund 250 Jah­ren immer noch in den moder­nen frei­mau­re­ri­schen Ritua­len zu fin­den ist (vgl. H. Carr: Har­ry Carr’s World of Free­ma­son­ry, Lewis Maso­nic, Shep­per­ton [Eng­land] 1985, S. 105–144).

(Fort­set­zung folgt.)

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze gewid­met hat. In sei­ner jüng­sten Ver­öf­fent­li­chung geht es ihm dar­um, den Nach­weis zu erbrin­gen, daß die Frei­mau­re­rei von Anfang an eso­te­ri­sche und gno­sti­sche Ele­men­te ent­hielt, die bis heu­te ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen Glau­bens­leh­re begründen.

Übersetzung/​Fußnoten: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons


1 „Moderns“ nann­ten sich die Frei­mau­rer, die sich 1717 in der ersten Groß­lo­ge kon­sti­tu­ier­ten. Im Gegen­satz dazu gab es auf dem Gebiet der eng­li­schen Kro­ne noch eine ande­re Frei­mau­re­rei, Logen, die sich von der Groß­lo­ge fern­hiel­ten, bzw. Frei­mau­rer, die die­se wie­der ver­las­sen hat­ten. Die­se „ande­re“ Frei­mau­re­rei behaup­te­te von sich, eine vie­le „älte­re“ Frei­mau­re­rei zu sein, wes­halb sie sich Anci­ents, „die Alten“, nann­ten im Gegen­satz zu den Moderns, „den Moder­nen“.

2 Der Frei­mau­rer­groß­mei­ster Ven­zi behaup­tet in dem Buch, Ernst Jün­ger „eso­te­risch“ zu lesen und eine eso­te­ri­sche Sym­bo­lik in Jün­gers Schrif­ten aufzuspüren.

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