
von Pater Paolo M. Siano*
Nach meinen Artikeln über Esoterik und Gnosis in der britischen Freimaurerei vor 1717 und in den Konstitutionen der Großloge von England von 1723 untersuche ich diesmal einige 1730 in London veröffentlichte Texte, die sich auf die englische Freimaurerei der „Moderns“ 1
beziehen, d. h. auf jene, die sich 1717 offiziell als Großloge von London oder Großloge von England konstituierten und 1723 ihre neuen, von dem schottischen Freimaurer und presbyterianischen Pastor James Anderson entworfenen Konstitutionen verkündeten.
Wie wir sehen werden, tauchen Spuren von Esoterik und Gnosis aus diesen Texten von 1730 auch in der englischen Freimaurerei der „Moderns“ auf, also bereits in den frühen Jahren ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert.
Über die sehr enge Verbindung zwischen Esoterik (Erkenntnis der Wahrheit und der Realität für wenige Auserwählte) und Gnosis (Erkennen seiner selbst, coniunctio oppositorum…), und weshalb die Gnosis ein zentrales Element der Esoterik ist, verweise ich auf die Arbeit des Großmeisters der regulären Großloge von Italien, Fabio Venzi: „Ernst Jünger. Lo sguardo esoterico“ („Ernst Jünger. Der esoterische Blick“, Edizioni Settimo Sigillo, Rom 2021, S. 42f.2
1. „Masonry Dissected“ von Samuel Prichard (London 1730)
1730 erschien in London das Pamphlet (Flugblatt, Broschüre) des (ehemaligen) Freimaurers Samuel Prichard: „Masonry Dissected: Being a Universal and Genuine Description of All its Branches, from the Original to this Present Time: As it is deliver’d in the Constituted Regular Lodges, Both in City and Country, According of their Regular Proceedings in Initiating their News Members in the whole Three Degrees of Masonry“, in: Knoop, Douglas–Jones, Gwilym Peredur–Hamer, Douglas: The Early Masonic Catechisms, The Second Edition („Die frühen Freimaurer-Katechismen“), Published for the Quatuor Coronati Lodge, No. 2076, London, by Manchester University Press 1963, S. 157–173).
Prichards Text ist für die Kenntnis der Freimaurerei sehr wichtig: Es ist nämlich der erste Text, der sowohl die drei freimaurerischen Grade Lehrling, Geselle und Meister als auch die Legende von Hiram im dritten Grad des Freimaurermeisters darstellt.
1. Der angenommene Lehrling
Prichard berichtet, daß beim Turmbau zu Babel die Kunst und das Geheimnis der Freimaurerei zum ersten Mal eingeführt und dann an die Ägypter weitergegeben wurde, von denen der Mathematiker Euklid sie an den Freimaurermeister Hiram weitergab, der beim Bau des Tempels von Jerusalem tätig war (vgl. S. 158).
Also: Turmbau zu Babel – Altes Ägypten – Hiram… :
„Die ursprüngliche Institution der Freimaurerei beruht auf dem Fundament der freien Künste und Wissenschaften, insbesondere aber auf der fünften, nämlich der Geometrie. Denn beim Turmbau zu Babel wurde die Kunst und das Geheimnis der Freimaurerei zuerst eingeführt und von da an von Euklid, einem würdigen und ausgezeichneten Mathematiker der Ägypter, überliefert, und er übermittelte sie Hiram, dem Maurermeister, der mit dem Bau von Salomos Tempel in Jerusalem beschäftigt war […]“ (S. 158).
Prichard hat nicht unrecht, wenn er zu den geistigen Vorfahren der Freimaurer bereits die Erbauer des Turms zu Babel zählt: Hochmütige Maurer, die sich unabhängig von Gott selbst zu Göttern erheben wollten. In der Tat wollen die neuen Freien Maurer die Gesellschaft und den Menschen ohne Rücksicht auf religiöse Dogmen und kirchliche Autoritäten (wieder)aufbauen.
Sehen wir uns Prichards Freimaurer-Katechismus mit Fragen („Q.“) und Antworten („A.“) näher an. Beim ersten Grad des Lehrlings („Enter’d ‚Prentice’s Degree“) lesen wir, daß der Ehrwürdige Meister der Loge den Kandidaten zum Freimaurer macht oder erschafft („Q. What did the Master do with you? A. He made me a Mason“, S. 161).
Es besteht also das Bewußtsein, daß der Initiationsritus den Kandidaten innerlich umwandelt, ihn zum Freimaurer macht.
Mit gebeugtem Knie, mit dem Körper innerhalb des Quadrats, den Zirkel offen und auf die entblößte linke Brust gerichtet, die rechte Hand auf der Bibel, legt der Kandidat seinen Eid ab, „the Obligation (or Oath) of a Mason“, indem er vor dem allmächtigen Gott und der Loge schwört, die Geheimnisse der Freimaurer oder der Freimaurerei, die ihm offenbart werden, geheimzuhalten und niemals preiszugeben, es sei denn gegenüber einem wahren Freimaurerbruder oder in einer richtigen Freimaurerloge. Der Kandidat schwört, daß er solche Geheimnisse weder aufschreiben noch einritzen noch drucken wird unter Androhung, daß man ihm die Kehle durchschneidet, die Zunge herausreißt, das Herz aus der Brust reißt, den Körper zu Asche verwandelt und die Asche auf dem Antlitz der Erde ausstreut. Am Ende des Eides beschwört der Kandidat die Hilfe Gottes (vgl. S. 161).

Auch in späteren englischen Freimaurer-Katechismen oder Ritualtexten erwähnt der Eid blutige Strafen für Meineidige und Verräter. Dieser Freimaurereid ist einer der Gründe, warum Papst Clemens XII. mit der Bulle „In eminenti“ die Freimaurerei 1738 erstmals verurteilte.
In Prichards Freimaurer-Katechismus heißt es, die Loge habe die Form eines „long Square“, d. h. eines Rechtecks: lang von Osten nach Westen, breit von Norden nach Süden, so hoch wie der Himmel („as high as the Heavens“), tief bis zum Mittelpunkt der Erde („Q. How deep? A. To the Centre of the Earth“, S. 162).
Der Text führt aus, daß die Loge auf geweihter Erde steht, auf dem höchsten Berg oder in dem tiefsten Tal („Q. Where does the Lodge stand? A. Upon Holy Ground, or the highest Hill, or lowest Vale, or in the Vale of Jehosaphat, or any other secret Place“) und ist von Osten nach Westen ausgerichtet, weil alle Kirchen und Kapellen so angeordnet sind („A. Because all Churches and Chapples are, or ought to be so“, S. 162). Die Loge wird von drei großen Säulen getragen („Three great Pillars“): Weisheit, Stärke und Schönheit („Wisdom, Strength, and Beauty“, S. 162).
Diese symbolischen Dimensionen der Loge finden sich in den Ritualen der Freimaurer bis heute.
Meine Überlegungen: Die Freimaurerloge verbindet (wie die Alchemie und die Hermetik) die Gegensätze: den Himmel und die Erde, den Himmel und die Unterwelt, das Hohe und das Niedrige… Der Boden der Loge ist für die Freimaurer heilig… Es kann sich um einen Raum handeln, der für profane Zwecke genutzt wird, aber sobald die Einweihungszeremonie stattgefunden hat, wird er für die gesamte Dauer des freimaurerischen Rituals zur Loge, also zum geweihten Boden… Es scheint sich um einen rituellen Vorgang magischer Art zu handeln, da er sakrale, fast ontologische Wirkungen beansprucht.
Kehren wir zum Text von Prichard zurück. Die Einrichtung („Furniture“) der Loge besteht aus dem Mosaikfußboden („Mosaick Pavement the Ground Floor of the Lodge“), dem flammenden Stern („Blazing Star the Centre“) und dem eingekerbten Rand (vgl. S. 162).
In der Loge gibt es Drei Lichter („Lights“), das sind drei Kerzen auf hohen Leuchtern („These Lights are three large Candles placed on high Candlesticks“), welche die Sonne, den Mond und den Freimaurermeister repräsentieren („A. Sun, Moon, and Master-Mason“): Die Sonne regiert den Tag, der Mond die Nacht, der Freimaurermeister seine Loge („A. Sun to rule the Day, Moon the Night, and Master-Mason his Lodge“, S. 163). Wie die Sonne im Osten aufgeht und den Tag eröffnet, so sitzt der Logenmeister im Osten, eröffnet die Loge und setzt seine Männer an die Arbeit. Um seinen Hals trägt der Logenmeister ein Winkelmaß (vgl. S. 163).
Das Wort des Lehrlings ist „BOAZ“, die Antwort ist „JACHIN“ (vgl. S. 165). Die Freimaurerloge wird als „Heilige Loge des heiligen Johannes“ bezeichnet („Holy Lodge of St. John’s“, vgl. S. 167).
Meine Überlegungen: Aus Prichards Text folgt logischerweise, daß der Meister der Loge und die Loge selbst die Gegensätze in sich vereinen: Sonne und Mond, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit… Der Meister der Loge ist wie die Sonne, Quelle des Lichts, Träger des Lichts, also vergleichbar mit dem Gott Phoebus-Apollo, der auf der Titelseite von Andersons Konstitutionen von 1723 „leuchtet“. Der Ehrwürdige Meister trägt ein Juwel in Form eines Winkelmaßes um den Hals, das in der alchemistischen Esoterik das weibliche Prinzip darstellt, wie es in der Figur der Rebis oder Androgyne dargestellt ist, die in dem Buch „Azoth“ (1613) veröffentlicht wurde, das dem Alchemisten und Mönch Basil Valentine aus dem 15. Jahrhundert zugeschrieben wird. Aus esoterischer, „subtiler“ Sicht kann man daher sagen, daß der Logenmeister einen androgynen (Sonne-Mond-) Charakter hat…
2. Der Geselle
Der zweite Grad wird als „Fellow-Craft’s Degree“ (Geselle) bezeichnet. Aus dem rituellen Frage-und-Antwort-Text erfahren wir, daß der freimaurerische Geselle sein Gehalt in dem Zwischenraum erhält, den er durch die Vorhalle betritt. Wenn er die Vorhalle erreicht, sieht er zwei große Säulen von 18 Ellen (etwa 8 Meter), die „Jachin und Boaz“ genannt werden. Der Freimaurer gelangt in die „middle Chamber“ durch ein gewundenes Treppenpaar („By a winding Pair of Stairs“) von 7 oder mehr Stufen („Seven or more“), denn 7 oder mehr Freimaurer bilden eine gerechte („just“) und vollkommene („regular“) Loge (vgl. S. 165f). An der Tür des Zwischenraums angekommen, trifft der Freimaurer-Kandidat des 2. Grades auf einen Aufseher („Warden“), der ihn nach drei Erkennungszeichen fragt: Zeichen („Sign“), Griff („Token“) und Wort („Word“), das „Jachin“ lautet.

Achten Sie auf die folgenden Passagen. Die Tür des Zwischenraums ist so hoch, daß ein Laie sie nicht erreichen kann:
„Q. How high was the Door of the middle Chamber ?
A. So high that a Cowan could not reach to stick a Pin in.“ (S. 166)
Im Zwischenraum, der ein Vorbereitungszimmer ist, sieht der Freimaurer den Buchstaben G. Der Meister fragt den neuen Gesellen, wofür das G steht, und der Geselle antwortet, daß es für jemanden steht, der größer ist als er selbst (d. h. größer als der Meister). Der Meister fragt, wer größer ist als er, der er ein Freier und Angenommener Maurer und Meister einer Loge ist („Q. Who’s greater than I, that am a Free and Accepted Mason, the Master of a Lodge“). Die Antwort lautet: der große Baumeister des Universums oder derjenige, der auf die Spitze der Zinne des Tempels gebracht wurde („A. The Grand Architect and Contriver of the Universe, or he that was taken up to the Top of the Pinnacle of the Holy Temple“, S. 166).
Hat der Freimaurer in der Loge im Zusammenhang mit dem 2. Grad wirklich einen Zwischenraum mit dem Buchstaben G gesehen, oder ist es eine „mentale“ Reise durch Symbole und rituelle Dialoge?
Meine Überlegungen: Nach Prichards Text ist die Tür des Zwischenraums so hoch, daß ein Profaner (ein Nicht-Maurer) sie nicht erreichen kann… Es scheint gemeint zu sein, daß der Allmächtige Baumeister aller Welten („Great Architect of the Universe, abgekürzt GAU oder SAU), der auf die Spitze des Tempels erhoben wurde, Jesus ist… Es scheint gemeint zu sein, daß er vom Teufel dorthin gebracht wurde (nach dem Bericht des Evangeliums).
Es ist aber möglich, GAU von Jesus zu unterscheiden. Der Logenmeister wird als allen Menschen überlegen dargestellt und nur dem Allmächtigen Baumeister aller Welten unterlegen. Man könnte in gewissem Sinne den Zwischenraum des Tempels mit der Zinne gleichsetzen, auf die der GAU erhöht wurde. Der Kandidat wird symbolisch in die Höhe gehoben.
Spielen die Freimaurerei und der Logenmeister die Rolle dessen, der den GAU oder Jesus auf die Zinne des Tempels gehoben hat? Das ist der Teufel, der den Menschen überlegen ist, aber nicht Gott.
3. Der Freimaurermeister
Im dritten Grad („The Master’s Degree“) lesen wir, daß der Freimaurermeister von Osten nach Westen reist auf der Suche nach dem, was verloren war und wiedergefunden wurde, nämlich das Meisterwort („The Master-Mason’s Word“). Das Wort ging durch Drei große Schläge verloren, die Meister Hiram töteten („R. By Three great Knocks, or the Death of our Master Hiram“, S. 168).
So kam es zum Tod Hirams: Beim Bau des Salomonischen Tempels war Hiram Meister-Maurer. Um 12 Uhr mittags, als die Arbeiter sich zur Ruhe begaben, betrat Hiram den Tempel, um die Arbeit zu inspizieren, fand aber drei böse Männer vor, vielleicht Gesellen („three Ruffians, supposed to be three Fellow-Crafts“), die an den drei Eingängen des Tempels standen. Jeder der drei wollte von Hiram das Meisterwort („the Master’s Word“) erhalten, und als er sich weigerte, schlug ihn jeder von ihnen. Der erste gab Hiram einen Schlag („a Blow“), der zweite gab ihm einen größeren Schlag („a greater Blow“), und der dritte schließlich gab ihm den tödlichen Schlag, die „Ruhe“ („at the third his Quietus“, S. 168).
Um Mitternacht brachten die drei Mörder den Leichnam Hirams vor das Westtor des Tempels und versteckten ihn unter Unrat („and hid him under some Rubbish till high 12 again“). Dann brachten sie ihn auf die Spitze eines Hügels, wo sie ihm ein würdiges Grab gaben. Er wurde 15 Tage später von 15 Freimaurern gefunden. Diese kamen aus dem Westtor des Tempels, teilten sich von rechts nach links auf und kamen überein: Wenn sie das Wort nicht in oder bei Hiram finden sollten, würde das erste Wort, das sie sprechen, das Meisterwort werden („and they agreed, that if they did not find the Word in him, or about him, the first Word should be the Master’s Word“, S. 168f). Einer der Freimaurer, die nach Hiram suchten, war müder als die anderen und setzte sich hin, um sich auszuruhen. Er klammerte sich an einen Strauch („a Shrub“), der sich leicht lösen ließ, und bemerkte, daß der Boden locker war. Er rief die anderen, und gemeinsam fanden sie Hirams Leichnam in einem ansehnlichen Grab 6 Fuß Ost, 6 Fuß West und 6 Fuß tief („a handsome Grave 6 Foot East, 6 West, and 6 Foot perpendicular“). Die Freimaurer bedeckten es, indem sie einen Kassienzweig auf den Kopf des Grabes legten („a Sprig of Cassia at the Head of his Grave“). Dann meldeten sie alles dem König Salomo, der ihnen befahl, Hirams Leichnam zu bergen und anständig zu begraben (vgl. S. 169).
Der Freimaurer-Katechismus fragt, wie Hiram erhöht wurde („Ex. How was Hiram rais’d?“), die Antwort lautet: Er wurde erhöht, wie alle Freimaurer erhöht werden, wenn sie das Wort des Meisters empfangen, d. h. durch die fünf Punkte der Gemeinschaft, d. h. Hand an Hand, Fuß an Fuß, Wange an Wange, Knie an Knie und Hand im Rücken („Hand to Hand, Foot to Foot, Cheek to Cheek, Knee to Knee, and Hand in Back“). Beim Versuch, Hirams Leiche an den Fingern hochzuheben, löste sich die Haut, sodaß der Griff abrutschte („When Hiram was taken up, they took him by the Fore-fingers, and the Skin came off, which is called the Slip“, S. 169). Der Leichnam war also bereits verwest.
Im freimaurerischen Katechismus heißt es, daß der Freimaurermeister „Cassia“ genannt wird („Ex. What’s a Master-Mason nam’d. R. Cassia is my Name, and from a Just and Perfect Lodge I came“) und daß Hiram im Sanctum Sanctorum des Tempels beigesetzt wurde („Ex. Wo wurde Hiram beigesetzt? R. Im Sanctum Sanctorum“, S. 170).
Das Meisterwort („the Master’s Word“) wird dem angehenden Meister ins Ohr geflüstert, während der Griff nach dem Kandidaten gemäß den 5 Punkten der Bruderschaft erfolgt. Dieses Wort ist „Macbenah“, was bedeutet: Der Baumeister ist erschlagen (vgl. S. 170).
Meine Überlegungen: Im dritten Grad ist die Loge der Ort eines symbolischen Mordes, eines symbolischen Todes. Der neue Meister wird mit Hiram Abiff identifiziert. Die Loge „tötet“ den Kandidaten. Spätere englische Freimaurerrituale und Freimaurer-Katechismen des 18. und 19. Jahrhunderts werden die Rolle des Ehrenwerten Meisters und der beiden Logenaufseher als symbolische Mörder von Hiram/des Kandidaten detailliert beschreiben. Hirams Leichnam verrottet und ist doch im Sanctum Sanctorum begraben. Mord und Unreinheit (Fäulnis) im heiligen Tempel, der die Loge ist…
Es zeigt sich eine ganz bestimmte Initiationslogik, die nach Überschreitung verlangt, ähnlich der, die von „heterodoxen“ Kabbalisten wie Schabbatai Zwi und Jakob Frank theoretisiert und praktiziert wurde.
Erinnert die Identifizierung des Freimaurermeisters mit einer Pflanze („Cassia“) an das Konzept der Seelenwanderung oder der Metempsychose der Pythagoräer und Kabbalisten?
Fahren wir mit dem Text von Prichard fort. Im Kapitel „The Author’s Vindication of himself from the prejudiced Part of Mankind“ macht der Autor deutlich, daß es in der Freimaurerei seiner Zeit eine Krise gab, und er erwähnt sogar den Plan einiger Freimaurer, ein anderes Freimaurer-System zu gründen, weil die alte Bauhütte (also die alte Freimaurerei) so baufällig geworden ist, daß sie ohne Reparatur durch irgendein okkultes Mysterium ausgelöscht werde („the forming another System of Masonry, the old Fabrick being so ruinous, that, unless repair’d by some occult Mystery, will soon be annihilated“, S. 171).
Der Ausdruck „irgendein okkultes Geheimnis“ läßt natürlich an Esoterik und Okkultismus denken. Der englische Freimaurer Harry Carr (1900–1983) wies darauf hin, daß vieles von dem, was in den von Samuel Prichard veröffentlichten Ritualen enthalten ist, nach rund 250 Jahren immer noch in den modernen freimaurerischen Ritualen zu finden ist (vgl. H. Carr: Harry Carr’s World of Freemasonry, Lewis Masonic, Shepperton [England] 1985, S. 105–144).
(Fortsetzung folgt.)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons
1 „Moderns“ nannten sich die Freimaurer, die sich 1717 in der ersten Großloge konstituierten. Im Gegensatz dazu gab es auf dem Gebiet der englischen Krone noch eine andere Freimaurerei, Logen, die sich von der Großloge fernhielten, bzw. Freimaurer, die diese wieder verlassen hatten. Diese „andere“ Freimaurerei behauptete von sich, eine viele „ältere“ Freimaurerei zu sein, weshalb sie sich Ancients, „die Alten“, nannten im Gegensatz zu den Moderns, „den Modernen“.
2 Der Freimaurergroßmeister Venzi behauptet in dem Buch, Ernst Jünger „esoterisch“ zu lesen und eine esoterische Symbolik in Jüngers Schriften aufzuspüren.