
von Pater Paolo M. Siano*
Im ersten Teil, in dem ich den Text „Masonry Dissected“ (London, 1730) untersuchte, habe ich das Vorhandensein von Elementen der Esoterik und der Gnosis im symbolischen und rituellen Erbe der neuen englischen Freimaurerei, der sogenannten „Moderns“ oder Großloge von England1, bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung (1717) und ihren neuen Konstitutionen (1723) nachgewiesen.
Ich fahre mit zwei anderen freimaurerischen Texten fort, die 1730 in London veröffentlicht wurden.
2. „A Defence of Masonry“ (London, 1730)
Am 15. Dezember 1730 kündigte die Londoner Zeitung Daily Post den Verkauf des anonymen Textes („Pamphlet“) „A Defence of Masonry“ (Eine Verteidigung der Freimaurerei) an, der die Jahreszahl 1731 trägt und eine Antwort auf Samuel Prichards „Masonry Dissected“ darstellt, den ich im ersten Teil untersucht habe.
Der Text „A Defence of Masonry“ ist auch in James Andersons Masonic Constitutions von 1738 abgedruckt, wo als Druckdatum 1730 genannt ist. Die Antwort auf Prichard erfolgte also noch im selben Jahr. Der Freimaurer George Oliver (1782–1867) schrieb „A Defence of Masonry“ James Anderson zu, dem Verfasser der Konstitutionen der Großloge von England von 1723 und 1738. Der Freimaurerhistoriker Robert Freke Gould (1836–1915) schrieb ihn stattdessen zunächst William Warburton, anglikanischer Bischof von Gloucester, und später endgültig dem Freimaurer Martin Clare zu [vgl. D. Knoop/G.P. Jones/D. Hamer: The Early Masonic Catechisms, zweite Ausgabe, herausgegeben für die Quatuor Coronati Lodge, Nr. 2076, London, von Manchester University Press 1963, S. 210 (210–225)].
Im 2. Kapitel von „A Defence of Masonry“ geht der anonyme Autor auf den Freimaurereid ein, der schreckliche Strafen vorsieht, wie sie von Prichard aufgedeckt wurden. Der anonyme Autor verteidigt die Rechtmäßigkeit der Freimaurerei und des Freimaurereids: „An Oath upon the Subject of Masonry is at least justifiable and lawful“ („Ein Eid auf die Freimaurerei ist zumindest vertretbar und rechtmäßig“, vgl. S. 213). Was den Schrecken dieser Strafe („the Terror of the Penalty“) betrifft, so ist der Anonymus irreführend: Er erklärt nämlich, daß die Feierlichkeit des Eides nichts zu der darin enthaltenen Verpflichtung beiträgt und daß ein Eid auch ohne jede Strafe verbindlich ist (vgl. S. 213).

Im dritten Kapitel bringt der Anonymus die Freimaurer mit alten initiatischen Gesellschaften oder Gruppen in Verbindung: mit den alten Ägyptern, mit Pythagoras, mit den Pythagoräern, mit den Essenern, mit den jüdischen Kabbalisten, mit den Druiden (vgl. S. 215–219). Gehen wir der Reihe nach vor.
Der anonyme Freimaurer ist der Überzeugung, daß die Freimaurerei zwar von ihrer ursprünglichen Reinheit abgewichen ist, daß ihre Fundamente aber intakt sind, daß die wesentlichen Säulen ihres Gebäudes wiederentdeckt werden können und daß die Freimaurerei daher mit Offenheit und Wertschätzung angenommen und wegen ihres Alters verehrt werden sollte (vgl. S. 215f).
Zum Alter der Freimaurerei erklärt der anonyme Autor von „A Defence of Masonry“, daß die alten Ägypter ihre religiösen Geheimnisse unter Zeichen und Symbolen, den „Hieroglyphen“, verbargen. Sie verehrten Harpokrates, den Gott der Stille, und Isis, ihre große Göttin. Pythagoras wurde in die altägyptischen Mysterien eingeweiht, und die Freimaurerei ist mit der alten pythagoreischen Disziplin verbunden (vgl. S. 216).
Das sind die Berührungspunkte, die der Anonymus zwischen Pythagoräern und Freimaurern sieht: Der Kandidat für die pythagoreischen Mysterien schwört feierlich („a solemn Oath“), daß er die Mysterien nicht dem Profanen offenbaren wird. Die pythagoreischen Lehren („the Mysteries of the Gods“) wurden mündlich, auswendig, und niemals schriftlich weitergegeben. Die Adepten („the Initiated“) kommunizierten durch Zeichen und einige besondere Worte („Signs“, „Words“, „Watch-Words“).
Der anonyme Autor von „A Defence of Masonry“ führt einen weiteren Fall an, der die Freimaurer der alten pythagoreischen Disziplin näherbringe… Ein schlechter Bruder („false Brother“) der Pythagoreer brach seinen Eid und schrieb die Geheimnisse der pythagoreischen Gesellschaft nieder, um die pythagoreische Lehre der öffentlichen Verachtung preiszugeben. Er wurde sofort aus der Vereinigung ausgeschlossen, von seinen „Brüdern“ als anrüchige Person im Stich gelassen, ja, er galt bereits als tot („one dead“) und man hatte ihm bereits ein Grabmal errichtet („the Pythagoreans, according to their Custom, made a Tomb for him as if he had been actually dead“). Dann wurde dieser Mann wegen der Schande und Schmach, in die er geraten war, wahnsinnig und verzweifelt und tötete sich mit seinen eigenen Händen, indem er sich die Kehle durchschnitt („he cut his Throat“). Und nach dem Tod wurde sein Andenken verabscheut, und sein Leichnam, der am Strand ausgesetzt wurde („his Body lay upon the Shore“), fand kein anderes Begräbnis als im Sand des Meeres („had no other Burial than in the Sands of the Sea“, vgl. S. 217). Der Anonymus gibt deutlich zu verstehen, daß er die Episode des pythagoreischen Verräters bewußt mit der Strafe des Freimaurereides, die für Meineidige und Verräter vorgesehen ist (Durchschneiden der Kehle, Leiche im Sand), in Verbindung bringen will, und damit mit Samuel Prichard…
Der Anonymus definiert die Essener als jüdische Pythagoreer („The Essenes among the Jews were a sort of Pythagoreans“), die die Brüderlichkeit hochhielten, zwei Einweihungsgrade hatten, sich weiß kleideten, zur Verschwiegenheit verpflichtet waren und ihre Mysterien vor den Profanen verbargen (vgl. S. 217f).
Dann erwähnt die anonyme Autor die Kabbalisten und beschreibt sie als eine Sekte, die sich mit verborgenen und geheimnisvollen Zeremonien beschäftigt. Der Anonymus schreibt, daß die Juden diese Wissenschaft [ich nehme an, es handelt sich um die Kabbala] sehr schätzten und sie teilten in eine spekulative und eine operative:
„† The Cabalists, another Sect, dealt in hidden and mysterious Ceremonies. The Jews had a great regard for this Science, and thought they made uncommon Discoveries by means of it. They divided their Knowledge into Speculative and Operative. David and Solomon, they say, were exquisitely skilled in it, and no body at first presumed to commit it to Writing; but, what seems most to the present Purpose, the Perfection of their Skill consisted in what the Dissector calls Lettering of it, or by ordering the Letters of a Word in a particular manner» (p. 218, nota a pié pagina; in quella nota a pié pagina, l’anonimo autore cita due fonti sulla Cabala ebraica: «Collier’s Dictionary on the Word Cabale. Basnage’s History of the Jews, Chap. On the Cabala»).
Dann erwähnt der Autor von „A Defence of Masonry“ die Druiden als alte Priester Britanniens: Sie gaben ihre Wissenschaft aus dem Gedächtnis weiter, schrieben nichts über ihre Mysterien auf und verhängten schreckliche Strafen über jene, die sie Nicht-Eingeweihten verrieten (vgl. S. 218).
In Kapitel 4 zeigt der anonyme Freimaurer weitere Ähnlichkeiten zwischen den freimaurerischen Riten und Grundsätzen und den Bräuchen der Antike auf. Demnach wurde beispielsweise die Zahl 3, die in „Masonry Dissected“ viel erwähnt wird, bereits von den alten Griechen und Lateinern verehrt (vgl. S. 219). Die Zahl 3 habe auch auf die Kräfte der Götter („the Gods“) hingewiesen, die in drei Klassen eingeteilt waren: „Celestial, Terrestrial and Infernal“, auch „Three Fatal Sisters, Three Furies, Three Names and Appearances of Diana“ (vgl. S. 220).

Zu dem vom „Dissector“ (d. h. Prichard von „Masonry Dissected“) berichteten Freimaurereid bemerkt der Autor von „A Defence of Masonry“, daß dieser Eid einer Form ähnelt, die von einem antiken Schriftsteller dargelegt wurde, in der es heißt, daß der Kandidat auf den Knien liegend ein Schwert auf seine Kehle gerichtet hat („a naked Sword pointed to his Throat“, cf. S. 220). Außerdem galt die Zahl 7, die der „Dissector“ ebenfalls erwähnt, bei den alten Ägyptern („old Egyptians“) als heilige Zahl („Sacred“), ebenso bei den alten Griechen und Lateinern (vgl. S. 222).
Dann verbindet der anonyme Autor von „A Defence of Masonry“ die Entdeckung von Hirams Leiche (beschrieben in „Masonry Dissected“) mit einer Passage aus Vergils sechstem Buch: Aeneas will seinen verstorbenen Vater Anchises treffen, also wendet er sich an die kumäische Sybille („the Cumæan Sybil“), die ihn ermutigt, in die Unterwelt hinabzusteigen („to descent into the Shades below“), um mit Anchises zu sprechen. Die Sybille empfiehlt Aeneas, einen goldenen Zweig oder Strauch mitzunehmen, der ihm die Richtung weisen wird, um Anchises zu finden (vgl. S. 222).
Der Anonymus zitiert eine Passage aus Vergil, in der er vom Abstieg in den dunklen Ort der Unterwelt, das Reich der „Proserpina“, spricht (vgl. S. 222f), und bemerkt, daß Aeneas in die Unterwelt hinabstieg („Æneas’s Descent into the Shades“), um mit seinem Vater Anchises zu sprechen (der den Namen Trojas bewahrte: „the great Preserver of the Trojan Name“), so machten sich die Freimaurerbrüder („the Brethren“) eifrig auf die Suche nach Hiram, um von ihm das Geheimwort der Freimaurerei zu erhalten („to receive from him the secret Word of Masonry“: vgl. S. 223).
Der anonyme Freimaurer erklärt, daß das Anbringen des „Cassia“-Zweigs durch die Freimaurer auf Hirams Grab in Höhe des Kopfes („a Sprig of Cassia was placed at the Head of Hiram’s Grave“) an den alten orientalischen Brauch erinnert, Leichen mit „Cassia“ einzubalsamieren, insbesondere um den Kopf vorzubereiten („drying up the Brain“), wie Herodot erklärt. Der Dichter Ovid, der den Tod des Phönix schildert („the Death of the Phœnix“), schreibt, daß die „Cassia“ (Akazie) auch vom Phönix benutzt wurde, um seinen duftenden Scheiterhaufen zu bereiten, auf dem er sich niederlegte und sein eigenes duftendes Opfer im Feuer verzehrte (vgl. S. 224f).
So beendet der anonyme Autor „A Defence of Masonry“, indem er den Tod von Hiram mit dem Tod des Phönix in Verbindung bringt…
3. „The Perjur’d Free Mason Detected“ (London 1730)
Ebenfalls 1730 wurde in London ein 32seitiges „Pamphlet“ veröffentlicht, dessen anonymer Verfasser sich einfach mit „Ein Freimaurer“ („A Free Mason“) unterzeichnete. Der Text trägt den Titel „The Perjur’d Free Mason Detected“ („Der meineidige Freimaurer wurde aufgespürt“) und ist eine freimaurerische Antwort („a rejoinder“) auf Prichards Pamphlet „Masonry Dissected“. Der Text zielt darauf ab, die Ehre und das Alter der „Gesellschaft der Freimaurer“ („the Society of Free Masons“) zu verteidigen, und enthält auch einen freimaurerischen Frage-Antwort-Katechismus. Schauen wir uns einige interessante Elemente an.
Der anonyme Freimaurer eröffnet den Text mit einem historischen Teil und präzisiert, daß ihm dies erlaubt ist, und er dadurch keinen Eid verletzt, während alles, was die Leitung der freimaurerischen Gesellschaft und die Schritte betrifft, durch die sie erhalten wurde, ein Geheimnis ist, das in der Brust der treuen Freimaurer verborgen ist („is a Secret hid in the Breast of the faithful“), das trotz der Bemühungen einiger Verräter nicht enthüllt wird [vgl. „The Perjur’d Free Mason Detected, 1730″, in „The Early Masonic Catechisms“, op. cit, 1963, S. 187 (187–209)].
Nach dem Anonymus von „The Perjur’d Free Mason Detected“ hatte der zweite Sohn Noahs, „Ham or Cham“, ein Genie für Architektur und übte es in der vor-sintflutlichen Welt aus, dann teilte er sein Wissen („the Knowledge“) der großen Versammlung in der Ebene von Shinaar mit, wo vorgeschlagen wurde, „einen Turm bis zum Himmel zu bauen“ („to build a Tower up to Heaven“). Nur ein Meister der Wissenschaft der Maurerei konnte ein solches Projekt konzipieren („nothing but a complete Master of the Science of Masonry“), und so wurde er Baumeister… Aber das Werk wurde nicht verwirklicht… Durch die Nachkommen von „Cham“ verbreitete sich die Maurerkunst in Phönizien, Ägypten, Griechenland… Auch Hiram Abiff war Phönizier (vgl. S. 187f).
Ich schließe eine Klammer: Wie auch der Freimaurer B. E. Jones feststellt, wird Cham in der magischen Literatur zumindest seit dem 16. Jahrhundert mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht (vgl. B. E. Jones: Freemasons‘ Guide and Compendium, London 1950, S. 314).
Kehren wir zu dem Text „The Perjur’d Free Mason Detected“ zurück. Der anonyme Freimaurer stellt sich eine Art Dialog zwischen einem Freimaurermeister und einem labilen jungen Freimaurer vor (wahrscheinlich Prichard, Autor von „Masonry Dissected“). Es wird wiederholt, daß der erste Freimaurermeister der Welt („the first Master Mason in the world“) der Erbauer des Turms zu Babel war („He that built the Tower of Babel“: S. 191). In bezug auf den schrecklichen Freimaurereid („horrid Oaths for Secrecy“) sagt der junge Freimaurer, daß er ihm keinen Wert beimißt (vgl. S. 193). Dann wirft ihm der Freimaurermeister vor, daß er die Eide nicht schätzt und deshalb weder Gott noch den Teufel („Mast. Not value the Oaths! Mr. Free Mason, say you so! What, are you arriv’d to such a Pitch that you value neither God nor Devil!). Der junge Freimaurer antwortet, daß weder Gott noch der Teufel etwas mit dem Eid zu tun haben und daß er beabsichtigt, den Profanen alles, was er über die Freimaurerei weiß, mitzuteilen und damit Geld zu verdienen. (vgl. S. 193f)
Der anonyme Autor von „The Perjur’d Free Mason Detected“ antwortet, indem er jene Freimaurer als Feinde der Freimaurerei tadelt, die ihren freimaurerischen Eid brechen, weil sie ihn als nicht bindend für ihr Gewissen betrachten, weil er nicht nach dem Gesetz oder vor einem Richter geleistet wird (vgl. S. 194).
Im zweiten Teil stellt sich der anonyme Freimaurer einen weiteren Dialog zwischen einem „wahren Freimaurer“ („a True Mason“) und „Mr. Samuel Prichard“ vor. Der „wahre Freimaurer“ (gekennzeichnet durch den Buchstaben „Q.“) versucht zu zeigen, daß Prichard („A.“) ein Meineidiger ist, der Gott untreu ist (vgl. S. 201), aber daß Prichard alles in allem nichts über die Freimaurerei weiß und daß er nichts von Bedeutung enthüllt hat… Dennoch stimmt der „wahre Freimaurer“ Prichard zu, da er dieselbe Formel des Freimaurereids veröffentlicht, die Prichard bereits in „Masonry Dissected“ enthüllt hat: Der Freimaurer schwört, die Geheimnisse der Freimaurerei, die ihm offenbart werden, nicht preiszugeben; er schwört, sie nicht aufzuschreiben, einzuritzen oder zu drucken; er schwört all dies unter Androhung der Strafe, daß ihm (im Falle des Verrats oder der Verletzung des Eides) die Kehle durchgeschnitten, die Zunge und das Herz herausgerissen, der Körper zu Asche verwandelt und die Asche auf der Erde verstreut wird (vgl. S. 197f).
Der „wahre Freimaurer“ gibt deutlich zu verstehen, daß die von Prichard veröffentlichte Eidesformel authentisch ist (vgl. S. 198) ist und beschuldigt „Mr. Prichard“, vor Gott und den Menschen einen Meineid geleistet zu haben („II tell thee to thy Face thou art forsworn in the Sight of God and Man“), da der Freimaurereid in der Gegenwart Gottes abgelegt wurde („in the Presence of Almighty God“, S. 201).
Interessanterweise setzt der anonyme Freimaurer Samuel Prichard mit dem Teufel („D– ‑l“, „the Devil“) gleich, da Prichard (nach Ansicht des anonymen Autors) meineidig ist und gegen Gott und die Menschen lügt (vgl. S. 203–204). Doch durch die Veröffentlichung des Freimaurereids wird selbst der anonyme Freimaurer „The Perjur’d Free Mason Detected“ zum Meineidleistenden. Kurz gesagt, es scheint, daß im freimaurerischen Geist Gott und der Teufel immer miteinander verwoben sind…
Schlußfolgerung
Das Pamphlet „Masonry Dissected“ wurde zwar von einem ehemaligen Freimaurer verfaßt, doch berichtet es, wie wir nun wissen, im wesentlichen korrekt über die Rituale der englischen Freimaurerei der „Moderns“ der 20er und 30er Jahre des 18. Jahrhunderts. Es kann als ein freimaurerischer Text betrachtet werden und ist es auch. Die angesehene Forschungsloge Quatuor Coronati Nr. 2076 in London hat Prichards Werk in eine Sammlung alter freimaurerischer Katechismen aufgenommen.
Der Text „Masonry Dissected“ deutet das Thema des symbolischen Todes des Freimaurermeisters an. Das Pamphlet „A Defence of Masonry“ (das eindeutig freimaurerisch ist, da es als Anhang zu Andersons neuen Konstitutionen von 1738 veröffentlicht wurde) verbindet die Freimaurerei mit den alten Mysterien (Ägypter, Essener, Pythagoreer, Kabbalisten, Druiden) und den dritten Grad des Meisters der Freimaurerei mit dem Abstieg in die Unterwelt und der Tod-Wiedergeburt des Phoenix
Schon die freimaurerischen Rituale jener Zeit, vom 1. bis zum 3. Grad, weisen auf eine magische Funktionsweise hin. Jenseits von Dogmen, Kirche und Religionen beansprucht die Freimaurerei nämlich, durch ihre Riten und Grade sakrale Wirkungen zu aktivieren: die Umgebung/Loggia sakralisieren, das (göttliche) Licht geben/zeigen, den symbolischen Tod im/am Meisterkandidaten aktivieren…
Vielleicht wider Willen läßt sogar der berühmte englische Gelehrte und Freimaurer Harry Carr (Loge Quatuor Coronati Nr. 2076) den magischen Charakter der freimaurerischen Ritualarbeit deutlich durchschimmern, wenn er in seinem Buch „The Freemason at Work“ [Lewis Masonic, Runnymede 19927 (19761)] über die Logeneröffnung und einige Freimaurerrituale des 18. Jahrhunderts schreibt, daß die Positionierung der Lehrlingstafel des ersten Grades und des Buchs des Heiligen Gesetzes in der Loge den Raum (einen profanen Ort) in einen freimaurerischen Tempel (und damit für die Freimaurer einen heiligen Ort) verwandelte:
„It seems doubtful if there was any symbolism attaching to the Opening ceremony itself, until the Tracing Board was drawn or displayed and the V.S.L. was opened. Those were the items which transformed the room into a Temple, but although the V.S.L., Square and Compasses, and most of the emblems on the 1st T.B. were known and in use in c. 1730, symbolical explanations were still at a very rudimentary stage“ (S. 318, Hervorhebung im Original).
1950 veröffentlichte der englische Freimaurer Bernard Edward Jones (1879–1965, Past Assistant Grand Director of Ceremonies – United Grand Lodge of England – UGLE) die erste Ausgabe seines Buches „Freemasons‘ Guide and Compendium“ (George G. Harrap & Co. Ltd., London 1950) mit einem Vorwort des damaligen Bibliothekars und Kurators des UGLE-Museums, John Heron Lepper (1878–1952, Mitglied der Quatuor Coronati Lodge Nr. 2076 in London).
Jones verbindet den nekromantischen Kern der Legende von Hiram (die Erlangung des geheimen Wortes des Meisters von einer Leiche) mit der freimaurerischen Noah-Legende aus dem Graham-Manuskript, das auf 1672 oder 1726 datiert wird. Obwohl er der „Authentic School“ folgt, räumt Jones die Möglichkeit ein, daß Hirams Legende des dritten Freimaurergrades des Meisters nekromantische und rosenkreuzerische Wurzeln hat (vgl. S. 314–318). Wie George William Speth (1847–1901), ehemaliger Sekretär der Quatuor Coronati Lodge Nr. 2076, räumt auch Jones ein, daß die Legende von Hiram und der symbolische Tod des Meisters mit alten maurerischen Menschenopfern in Verbindung gebracht werden können, die für die Gründung oder Stabilität neuer Gebäude durchgeführt wurden (vgl. S. 320–327).
Neben dem überkonfessionellen Geist und den blutigen Eiden der Freimaurerei in den 1720er bis 1730er Jahren gibt es also noch weitere tiefgreifende Gründe für die Unvereinbarkeit zwischen der Freimaurerei jener Zeit und der Kirche: magische Rituale, alte Mysterien, symbolischer oder initiatischer Tod… Elemente, die in der Freimaurerei und den Freimaurereien noch heute vorhanden sind.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons/Archive.org (Screenshot)
- „Moderns“ nannten sich die Freimaurer, die sich 1717 in der ersten Großloge konstituierten. Im Gegensatz dazu gab es auf dem Gebiet der englischen Krone noch eine andere Freimaurerei, Logen, die sich von der Großloge fernhielten, bzw. Freimaurer, die diese wieder verlassen hatten. Diese „andere“ Freimaurerei behauptete von sich, eine viele „ältere“ Freimaurerei zu sein, weshalb sie sich Ancients, „die Alten“, nannten im Gegensatz zu den Moderns, „den Modernen“.↑