(Rom) Papst Franziskus empfing gestern den Apostolischen Nuntius in Rußland in Audienz. Es war die erste persönliche Begegnung seit Ausbruch der russisch-ukrainischen Kampfhandlungen. Die Friedensbemühungen des Kirchenoberhauptes gehen weiter, ebenso die Vorbereitungen für eine zweite Begegnung mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I.
Während manche Politiker im Westen sich im Interesse der Biden-Regierung in den USA in den vergangenen Wochen gegenseitig in Kriegslärm gegen Rußland zu übertreffen versuchten, auffallend lautstark Vertreter der Grünen und der SPD, die selbst den Wehrdienst verweigert haben, es aber kaum erwarten können, andere in den Krieg zu schicken, hält sich der Heilige Stuhl weiterhin zurück. Als ehrlicher Makler könne nur auftreten, wer das dazu notwendige Vertrauen genießt, heißt es in Rom.
Zugleich bemüht sich der Vatikan seit Ende Februar um die Rückkehr der Konfliktparteien an den Verhandlungstisch. Zu diesem Zweck empfing gestern Papst Franziskus den Apostolischen Nuntius in Rußland, Erzbischof Giovanni d’Aniello, in Audienz. Wegen des anhaltenden Drucks auf den Heiligen Stuhl von westlicher Seite, die Neutralität aufzugeben, bemühte sich der Vatikan, die Begegnung herunterzuspielen.
Offiziell ließ das vatikanische Presseamt wissen, daß es sich bei der Begegnung um eine reine Routineaudienz gehandelt habe, zu denen der Papst die Nuntien empfange. Es gebe, so die Botschaft, keinen direkten Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt, wenngleich natürlich auch darüber gesprochen worden sei.
In Wirklichkeit ging es um zwei konkrete Themen, die Ukraine und eine zweite Begegnung mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I.
Papst Franziskus ließ sich von seinem Botschafter in Moskau über die aktuelle Entwicklung in Rußland informieren und erteilte Instruktionen über dessen Wirken gegenüber der russischen Staatsführung und dem Moskauer Patriarchat.
Am Rande wurden auch Fragen der kleinen katholischen Minderheit in Rußland besprochen. Mit einer halben Million Gläubigen machen die Katholiken 0,35 Prozent der Bevölkerung Rußlands aus.
Es war die erste persönliche Begegnung zwischen dem Papst und dem Nuntius seit dem 24. Februar, als die aktuelle Phase der Feindseligkeiten in der Ostukraine begann. Insgesamt dauern die Feindseligkeiten seit 2014 an. Damals wurde der pro-russische Staatspräsident der Ukraine durch einen Putsch gestürzt. Daraufhin proklamierten die Autonome Republik Krim und die beiden Donbass-Oblaste Lugansk und Donezk, alle drei Verwaltungseinheiten werden von einer russischen Bevölkerungsmehrheit bewohnt, ihre Lostrennung von der Ukraine. Die Autonome Republik Krim schloß sich Rußland an, während die beiden Donbass-Oblaste sich als selbständige Republiken konstituierten. Die neue, 2014 an die Macht gelangte ukrainische Staatsführung versuchte seither die beiden Donbass-Oblaste militärisch zurückzuerobern.
Überschattet wurde die Audienz des Nuntius beim Papst, wenn auch nur am Rande, von einem Vorfall: Ein mexikanischer Priester des Opus Dei, Pater Fernando Vera, war einige Tage zuvor aus Rußland ausgewiesen worden. Ihm wurden 24 Stunden gewährt, das Land zu verlassen. Gründe für die Ausweisung wurden offiziell nicht bekannt.
Inoffiziell heißt es, für die Ausweisung dürften Predigten des Priesters verantwortlich sein, in denen er von einem „Krieg“ Rußlands gegen die Ukraine sprach und diesen kritisiert hatte. Moskau spricht offiziell von einer „militärischen Sonderaktion“. Die Sprachregelung hat vor allem mit dem Anspruch Moskaus zu tun, „die ganze Rus“ zu vertreten. Entsprechend ist auch kirchlich vom „Patriarchat von Moskau und der ganzen Rus“ die Rede. Gemeint ist damit die Gesamtheit aller russischen Völker, der Russen (Großrussen), Weißrussen und Kleinrussen (Ukrainer/Ruthenen).
Der Moskauer Patriarch Kyrill I. war auch das zweite große Thema der gestrigen Audienz. Bevor der Apostolische Nuntius nach Rom reiste, hatte Erzbischof d’Aniello in Moskau den Patriarchen getroffen.
Dem nationalkirchlichen Verständnis der Orthodoxie entsprechend steht Patriarch Kyrill I. hinter dem Vorgehen der Moskauer Staatsführung. Das wurde von Papst Franziskus Anfang Mai in einem Interview auffallend heftig kritisiert. Das Moskauer Patriarchat zeigte sich verwundert, hielt sich in seiner Reaktion jedoch sehr zurück.
In dem Interview hatte Franziskus die hinter den Kulissen seit Monaten vorbereitete zweite Begegnung mit dem Patriarchen im Libanon (alternativ in Jerusalem) ad acta gelegt. In Wirklichkeit wurde zugleich sofort nach einem „geeigneteren“ Rahmen für eine Begegnung gesucht. Dafür wird das interreligiöse Treffen der Welt- und Religionsführer im September in der Pyramide von Nur-Sultan in Kasachstan ins Auge gefaßt.
Papst Franziskus hat seinen Kurs im Ukrainekonflikt und gegenüber dem Moskauer Patriarchat demnach nicht geändert. Er arbeitet weiterhin daran, den Dialog zwischen Rom und Moskau trotz der gegenteiligen Position des Westens aufrechtzuerhalten und zu erweitern. Dahinter steht der seit Johannes Paul II. gehegte Wunsch Roms, daß der Papst Rußland besuchen kann. Während seine Vorgänger seit den 80er Jahren vergebens darauf gewartet haben, war noch kein Papst dem Ziel näher als Franziskus, dem sich Rußlands Tore öffnen könnten. Noch ist allerdings nichts fix. Sollte die Begegnung mit Kyrill in Kasachstan zustandekommen, stünde der Papst zumindest schon im russischen Vorhof.
Pater Antonio Spadaro, Schriftleiter der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica und einer der engsten Vertrauten des Papstes, betonte gestern: Laut Franziskus „müssen wir mit allen, wirklich mit allen, in Dialog treten“. Der Jesuit fügte noch hinzu:
„Die vatikanische Diplomatie schaut auf die Gegenwart, aber auch auf die nahe Zukunft. In diesem Sinne ist sie eindeutig in ihrer Verurteilung, aber sie zielt darauf ab, zu weben, nicht zu schneiden.“
Was P. Spadaro nicht sagte: Die vatikanische Diplomatie verfügt auch über das längste Gedächtnis aller Diplomatien. Keine Staatskanzlei ist besser mit der Vergangenheit vertraut als der Vatikan.
In der Zwischenzeit wurde von Franziskus, nach den Kardinälen Konrad Krajewski und Michael Czerny SJ und nach dem vatikanischen Außenminister Richard Gallagher, noch ein weiterer Kardinal nach Kiew entsandt. Offiziell geht es dabei um die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge. In Wirklichkeit drängt der Heilige Stuhl neben Wladimir Putin auch die Staatsführung um Wolodymyr Selenskyj, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Der neue Gesandte des Papstes ist Kardinal Leonardo Sandri, Präfekt der römischen Kongregation für die orientalischen Kirchen und Subdekan des Kardinalskollegiums. Er erreichte heute die rumänisch-ukrainische Grenze, um dort Hilfe zu leisten und den Ukrainern „die Nähe des Papstes zu bezeugen“. Zudem sammelt er aber auch Informationen für Santa Marta und deponiert die Anliegen von Franziskus gegenüber Kiew, so wie Nuntius d’Aniello gestern Instruktionen erhielt, die er gegenüber Moskau zu vertreten hat.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL