Von Antonio Socci*
Was passiert in der katholischen Kirche? Stehen wir am Vorabend eines Erdbebens? Viele Zeichen lassen uns das denken. Was aus den Kolumnen von La Repubblica kam, aus der Feder von Alberto Melloni, ist wirklich sensationell, weil es die harte Trennung bestimmter katho-progressiver Kreise von Papst Bergoglio zeigt, die ihn zuvor mit Begeisterung unterstützt hatten.
Melloni, die Symbolgestalt der „Schule von Bologna“ und des „progressiven“ Flügels der Kirche, beginnt seine Anklage mit der Betonung, daß der deutsche Kardinal Marx in seinem jüngst vorgelegten Rücktrittsschreiben „faktisch den Rücktritt des Papstes gefordert hat“.
Marx ist der Anführer des mächtigen und reichen deutschen Episkopats, der mit seiner Synode eine Revolution durchführen zu wollen scheint. Die deutschen Bischöfe sind Bergoglios historische Unterstützer schlechthin, aber ihre Flucht nach vorne findet nicht seine Unterstützung, und nun sind sie offensichtlich enttäuscht.
Melloni zitiert dann andere Episoden der jüngsten Zeit, wie den päpstlichen Erlaß, der „das Mandat der Vorsitzenden und der Gremien kirchlicher Bewegungen auf zehn Jahre begrenzt“. Eine Regel, die – so Melloni – „die Rechte der Gläubigen einschränkt“ und „die Liquidierung der im Amt befindlichen Leitungsverantwortlichen im Namen eines ideologisch definierten Wohls“ bedeutet.
Davon abgesehen sind diese Anführer der Bewegungen alle ganz angepaßt auf der Linie des Bergoglio-Pontifikats und die neuen kirchlichen Gemeinschaften in diesen Jahren praktisch verwelkt: Ihre Vitalität ist nicht mehr zu sehen, und auch nicht mehr ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit (das Dekret hat, meiner Meinung nach, auch etwas Gutes).
Dann kritisiert Melloni die „Exilierung von Enzo Bianchi aus seiner Gemeinschaft“, die er sogar als „eine Schädigung der ökumenischen Glaubwürdigkeit der Kirche“ betrachtet.
Zudem greift er die von Bergoglio angeordnete Inspektion der Kleruskongregation an. Melloni spricht von einer „beispiellosen und sinnlosen Geste (…), die etwas über die Härte aussagt, mit denen auch jene behandelt werden, die – zum Beispiel der scheidende Präfekt Kardinal Stella – dem Papst loyal gedient haben“.
Es sei daran erinnert, daß Kardinal Stella als einer der Strategen der Wahl Bergoglios im Jahr 2013 gilt, weshalb das ein weiterer schwerer Bruch des Papstes mit seiner Welt ist. Dieselbe Kritik Mellonis trifft auch die von Bergoglio angeordnete „Rechnungsprüfung des Vikariats von Rom“, zu der er den Vorwurf erhebt, daß hier „Geschwätz Gehör geschenkt wird“.
Melloni ist auch in der ganzen Affäre von Kardinal Becciu sehr hart. Ihm zufolge „ist das Anklagegebäude noch sehr fragil“, und man wolle eine „eine gezielte Verteidigung daran hindern“, daß der „Zentralregierung ein Prozeß“ gemacht und weltweit sichtbar wird.
Hinter diesen und anderen Episoden, so Melloni, „sehen manche den übermäßigen Einfluß von ungeeigneten Beratern; andere die autoritäre Neigung, die bereits dem jungen Bergoglio in der Gesellschaft [Jesu] vorgeworfen wurde“. Die Häufung solcher Fälle jedoch, so der progressive Intellektuelle, „bereitet einen Sturm vor“.
Es ist nicht die erste „Rakete“ von der klerikalen Linken, die auf Bergoglio niedergeht. Jetzt aber wird seine wachsende Isolation deutlich: Es genügt, die von Melloni aufgeführten Fälle (Kardinal Marx und die deutschen Bischöfe, die kirchlichen Bewegungen, Enzo Bianchi, Kardinal Stella, Kardinal Becciu, das Vikariat von Rom) anzuschauen, um sich bewußt zu werden, daß es sich in allen Fällen um Persönlichkeiten und Welten handelt, die seine Unterstützer waren.
Der argentinische Papst ist eine komplexe Persönlichkeit, die manchmal schwer zu entziffern ist. Einige seiner anfänglichen Akzente zu Jesus, wie das Bedürfnis von uns modernen Menschen nach Barmherzigkeit, berührten tiefe Saiten, aber das Evangelium sagt, daß der Gute Hirte auch die menschgewordene Wahrheit ist und die Bekehrung fordert.
In seiner jetzigen Einsamkeit muß der Papst bitter zur Kenntnis nehmen, daß sein Pontifikat seit einiger Zeit einem schmerzlichen Scheitern entgegenstürzt.
Sogar der historische Anführer der Gemeinschaft von Sant’Egidio, Andrea Riccardi, der im Vatikan zu Hause ist, hat ein Buch veröffentlicht: „Die Kirche brennt: Krise und Zukunft des Christentums“, in dem er ein apokalyptisches Szenario voraussagt: das „Ende des Katholizismus“ und „eine Welt ohne Kirche“.
Wenn man an die Begeisterung denkt, mit der Bergoglio anfangs in der kirchlichen Welt gefeiert wurde (man träumte von einem triumphalen „Bergoglio-Effekt“), kann man verstehen, wie brennend heute die Ernüchterung ist.
Die Kirche ist – nach diesen acht Jahren – nicht aufgeblüht, sondern scheint vernichtet. Das religiöse Leben befindet sich in einem komaähnlichen Zustand. Ihre Zentralregierung im Vatikan befindet sich in einem permanenten Chaos. Die Verwirrung, auch in der Lehre, herrscht in der ganzen kirchlichen Gemeinschaft. Die Bilanz der sonntäglichen liturgischen Praxis und der Berufungen ist verheerend und befindet sich im freien Fall (unter anderem auch durch den Einbruch der sakramentalen Ehen). Klerus und Bischöfe scheinen hilflos und führungslos.
Wer dachte, daß ein Bruch mit den großen Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. eine glänzende Zukunft sichern würde, ist heute widerlegt. Wer sich – wie Bergoglio, vielleicht mit den besten Absichten – der Illusion hingegeben hatte, die Kirche könne sich durch weltliche Verwässerung neu beleben, erlebt heute eine historische Niederlage.
Dabei hatten es Religionssoziologen wie Rodney Stark seit Jahren aufgezeigt (immerhin sagt das Evangelium, daß das Salz unbrauchbar wird, wenn es seinen Geschmack verliert).
Heute unterscheidet sich die Stimme der Kirche nicht mehr von jener der UNO. Die Stimme des Petrus widersetzt sich nicht den vorherrschenden laizistischen und linken Ideologien, im Gegenteil, sie ist oft im Einklang mit ihnen und löst mit dieser Politisierung die Bestürzung der Gläubigen aus und die Begeisterung jener, die schon immer die Feinde der Kirche waren.
Abgesehen von den seltenen Wortmeldungen von Benedikt XVI. ist kaum mehr eine katholische Stimme zu hören, die die Gläubigen und alle Völker in Kontinuität mit dem ständigen Lehramt der Kirche leitet. Nie zuvor war die Kirche so konformistisch und so irrelevant in der Welt zu Fragen, die heute von enormer Tragweite für die Menschheit sind.
Sie haben eine Wüste geschaffen und nannten es „Revolution“. Aber jede Revolution frißt ihre Kinder, und so erleben wir jetzt den Bruch zwischen Bergoglio und seinen Anhängern.
Die aktuelle Krise könnte ihn zum (unwahrscheinlichen) Rücktritt oder zum verzweifelten Weitergehen veranlassen, in Erwartung des von Melloni angekündigten „Sturms“.
Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit: Papst Franziskus könnte erkennen, daß der Versuch, der Kirche durch Anpassung an die weltliche Mentalität eine Zukunft zu geben, gescheitert ist und der richtige Weg der von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ist. Das scheint unmöglich wie die Wunder. Die aber dennoch passieren können.
Natürlich braucht es heute großen Mut, um den heroischen Weg von Papst Wojtyla und Papst Ratzinger wieder aufzunehmen, denn das ist eine Zeit der Verfolgung. Benedikt XVI. bekräftigte in seinem letzten Interview [Peter Seewald: Benedikt XVI.: Ein Leben, Droemer, 2020], daß „die eigentliche Bedrohung der Kirche und somit des Petrusdienstes von der weltweiten Diktatur scheinbar humanistischer Ideologien ausgeht, denen zu widersprechen den Ausschluß aus dem gesellschaftlichen Grundkonsens bedeutet“.
Ratzinger hat die Dogmen dieser Ideologien aufgelistet und betont, daß „jeder, der sich ihnen entgegenstellt, heute gesellschaftlich exkommuniziert ist“. Die moderne Gesellschaft“, fügte er hinzu, „beabsichtigt, ein antichristliches Credo zu formulieren, dem sich zu widersetzen mit gesellschaftlicher Exkommunikation bestraft wird. Die Furcht vor dieser geistigen Macht des Antichrist ist dann nur allzu natürlich.“
Aber Franziskus hätte (abgesehen von Gott) Benedikt XVI. an seiner Seite und alle (verbliebenen) gläubigen Katholiken der Welt, und das sind sehr viele. So könnte die Kirche wirklich zur Freiheit der Völker beitragen.
*Antonio Socci studierte Literaturwissenschaften, war in seiner Jugend in der radikalen Linken aktiv, nach der Bekehrung näherte er sich der neuen kirchlichen Gemeinschaft Comunione e Liberazione (CL) an, die er heute heftig kritisiert; seit 1984 Journalist, mit Ausnahme von drei Jahren, in denen er die Kulturabteilung der Provinz Siena leitete, Vater von drei Kindern, kurzzeitig Chefredakteur der Monatszeitschrift 30giorni, Kolumnist der Tageszeitungen Il Giornale, Libero, Il Foglio, 2002–2004 stellvertretender Chefredakteur der Nachrichtenredaktion des zweiten staatlichen Fernsehsenders RAI 2, 2004–2020 Direktor der von der RAI und der Universität Perugia getragenen Hochschule für Fernsehjournalismus (eine Stelle, von der er nach Polemiken zu seiner Kritik an Papst Franziskus zurücktrat).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)