Die zunehmende Einsamkeit von Papst Franziskus

"Stehen wir in der Kirche vor einem Sturm?"


Papst Franziskus trug bis Ende Mai bei der wöchentlichen Generalaudienz noch Maske, seither nicht mehr.
Papst Franziskus trug bis Ende Mai bei der wöchentlichen Generalaudienz noch Maske, seither nicht mehr.

Von Anto­nio Socci*

Anzei­ge

Was pas­siert in der katho­li­schen Kir­che? Ste­hen wir am Vor­abend eines Erd­be­bens? Vie­le Zei­chen las­sen uns das den­ken. Was aus den Kolum­nen von La Repubbli­ca kam, aus der Feder von Alber­to Mel­lo­ni, ist wirk­lich sen­sa­tio­nell, weil es die har­te Tren­nung bestimm­ter katho-pro­gres­si­ver Krei­se von Papst Berg­o­glio zeigt, die ihn zuvor mit Begei­ste­rung unter­stützt hatten.

Mel­lo­ni, die Sym­bol­ge­stalt der „Schu­le von Bolo­gna“ und des „pro­gres­si­ven“ Flü­gels der Kir­che, beginnt sei­ne Ankla­ge mit der Beto­nung, daß der deut­sche Kar­di­nal Marx in sei­nem jüngst vor­ge­leg­ten Rück­tritts­schrei­ben „fak­tisch den Rück­tritt des Pap­stes gefor­dert hat“.

Marx ist der Anfüh­rer des mäch­ti­gen und rei­chen deut­schen Epi­sko­pats, der mit sei­ner Syn­ode eine Revo­lu­ti­on durch­füh­ren zu wol­len scheint. Die deut­schen Bischö­fe sind Berg­o­gli­os histo­ri­sche Unter­stüt­zer schlecht­hin, aber ihre Flucht nach vor­ne fin­det nicht sei­ne Unter­stüt­zung, und nun sind sie offen­sicht­lich enttäuscht.

Mel­lo­ni zitiert dann ande­re Epi­so­den der jüng­sten Zeit, wie den päpst­li­chen Erlaß, der „das Man­dat der Vor­sit­zen­den und der Gre­mi­en kirch­li­cher Bewe­gun­gen auf zehn Jah­re begrenzt“. Eine Regel, die – so Mel­lo­ni – „die Rech­te der Gläu­bi­gen ein­schränkt“ und „die Liqui­die­rung der im Amt befind­li­chen Lei­tungs­ver­ant­wort­li­chen im Namen eines ideo­lo­gisch defi­nier­ten Wohls“ bedeutet.

Davon abge­se­hen sind die­se Anfüh­rer der Bewe­gun­gen alle ganz ange­paßt auf der Linie des Berg­o­glio-Pon­ti­fi­kats und die neu­en kirch­li­chen Gemein­schaf­ten in die­sen Jah­ren prak­tisch ver­welkt: Ihre Vita­li­tät ist nicht mehr zu sehen, und auch nicht mehr ihre Sicht­bar­keit in der Öffent­lich­keit (das Dekret hat, mei­ner Mei­nung nach, auch etwas Gutes).

Dann kri­ti­siert Mel­lo­ni die „Exi­lie­rung von Enzo Bian­chi aus sei­ner Gemein­schaft“, die er sogar als „eine Schä­di­gung der öku­me­ni­schen Glaub­wür­dig­keit der Kir­che“ betrachtet.

Zudem greift er die von Berg­o­glio ange­ord­ne­te Inspek­ti­on der Kle­rus­kon­gre­ga­ti­on an. Mel­lo­ni spricht von einer „bei­spiel­lo­sen und sinn­lo­sen Geste (…), die etwas über die Här­te aus­sagt, mit denen auch jene behan­delt wer­den, die – zum Bei­spiel der schei­den­de Prä­fekt Kar­di­nal Stel­la – dem Papst loy­al gedient haben“.

Es sei dar­an erin­nert, daß Kar­di­nal Stel­la als einer der Stra­te­gen der Wahl Berg­o­gli­os im Jahr 2013 gilt, wes­halb das ein wei­te­rer schwe­rer Bruch des Pap­stes mit sei­ner Welt ist. Die­sel­be Kri­tik Mel­lo­nis trifft auch die von Berg­o­glio ange­ord­ne­te „Rech­nungs­prü­fung des Vika­ri­ats von Rom“, zu der er den Vor­wurf erhebt, daß hier „Geschwätz Gehör geschenkt wird“.

Mel­lo­ni ist auch in der gan­zen Affä­re von Kar­di­nal Becciu sehr hart. Ihm zufol­ge „ist das Ankla­ge­ge­bäu­de noch sehr fra­gil“, und man wol­le eine „eine geziel­te Ver­tei­di­gung dar­an hin­dern“, daß der „Zen­tral­re­gie­rung ein Pro­zeß“ gemacht und welt­weit sicht­bar wird.

Hin­ter die­sen und ande­ren Epi­so­den, so Mel­lo­ni, „sehen man­che den über­mä­ßi­gen Ein­fluß von unge­eig­ne­ten Bera­tern; ande­re die auto­ri­tä­re Nei­gung, die bereits dem jun­gen Berg­o­glio in der Gesell­schaft [Jesu] vor­ge­wor­fen wur­de“. Die Häu­fung sol­cher Fäl­le jedoch, so der pro­gres­si­ve Intel­lek­tu­el­le, „berei­tet einen Sturm vor“.

Es ist nicht die erste „Rake­te“ von der kle­ri­ka­len Lin­ken, die auf Berg­o­glio nie­der­geht. Jetzt aber wird sei­ne wach­sen­de Iso­la­ti­on deut­lich: Es genügt, die von Mel­lo­ni auf­ge­führ­ten Fäl­le (Kar­di­nal Marx und die deut­schen Bischö­fe, die kirch­li­chen Bewe­gun­gen, Enzo Bian­chi, Kar­di­nal Stel­la, Kar­di­nal Becciu, das Vika­ri­at von Rom) anzu­schau­en, um sich bewußt zu wer­den, daß es sich in allen Fäl­len um Per­sön­lich­kei­ten und Wel­ten han­delt, die sei­ne Unter­stüt­zer waren.

Der argen­ti­ni­sche Papst ist eine kom­ple­xe Per­sön­lich­keit, die manch­mal schwer zu ent­zif­fern ist. Eini­ge sei­ner anfäng­li­chen Akzen­te zu Jesus, wie das Bedürf­nis von uns moder­nen Men­schen nach Barm­her­zig­keit, berühr­ten tie­fe Sai­ten, aber das Evan­ge­li­um sagt, daß der Gute Hir­te auch die mensch­ge­wor­de­ne Wahr­heit ist und die Bekeh­rung fordert.

In sei­ner jet­zi­gen Ein­sam­keit muß der Papst bit­ter zur Kennt­nis neh­men, daß sein Pon­ti­fi­kat seit eini­ger Zeit einem schmerz­li­chen Schei­tern entgegenstürzt.

Sogar der histo­ri­sche Anfüh­rer der Gemein­schaft von San­t’E­gi­dio, Andrea Ric­car­di, der im Vati­kan zu Hau­se ist, hat ein Buch ver­öf­fent­licht: „Die Kir­che brennt: Kri­se und Zukunft des Chri­sten­tums“, in dem er ein apo­ka­lyp­ti­sches Sze­na­rio vor­aus­sagt: das „Ende des Katho­li­zis­mus“ und „eine Welt ohne Kirche“.

Wenn man an die Begei­ste­rung denkt, mit der Berg­o­glio anfangs in der kirch­li­chen Welt gefei­ert wur­de (man träum­te von einem tri­um­pha­len „Berg­o­glio-Effekt“), kann man ver­ste­hen, wie bren­nend heu­te die Ernüch­te­rung ist.

Die Kir­che ist – nach die­sen acht Jah­ren – nicht auf­ge­blüht, son­dern scheint ver­nich­tet. Das reli­giö­se Leben befin­det sich in einem koma­ähn­li­chen Zustand. Ihre Zen­tral­re­gie­rung im Vati­kan befin­det sich in einem per­ma­nen­ten Cha­os. Die Ver­wir­rung, auch in der Leh­re, herrscht in der gan­zen kirch­li­chen Gemein­schaft. Die Bilanz der sonn­täg­li­chen lit­ur­gi­schen Pra­xis und der Beru­fun­gen ist ver­hee­rend und befin­det sich im frei­en Fall (unter ande­rem auch durch den Ein­bruch der sakra­men­ta­len Ehen). Kle­rus und Bischö­fe schei­nen hilf­los und führungslos.

Wer dach­te, daß ein Bruch mit den gro­ßen Pon­ti­fi­ka­ten von Johan­nes Paul II. und Bene­dikt XVI. eine glän­zen­de Zukunft sichern wür­de, ist heu­te wider­legt. Wer sich – wie Berg­o­glio, viel­leicht mit den besten Absich­ten – der Illu­si­on hin­ge­ge­ben hat­te, die Kir­che kön­ne sich durch welt­li­che Ver­wäs­se­rung neu bele­ben, erlebt heu­te eine histo­ri­sche Niederlage.

Dabei hat­ten es Reli­gi­ons­so­zio­lo­gen wie Rod­ney Stark seit Jah­ren auf­ge­zeigt (immer­hin sagt das Evan­ge­li­um, daß das Salz unbrauch­bar wird, wenn es sei­nen Geschmack verliert).

Heu­te unter­schei­det sich die Stim­me der Kir­che nicht mehr von jener der UNO. Die Stim­me des Petrus wider­setzt sich nicht den vor­herr­schen­den lai­zi­sti­schen und lin­ken Ideo­lo­gien, im Gegen­teil, sie ist oft im Ein­klang mit ihnen und löst mit die­ser Poli­ti­sie­rung die Bestür­zung der Gläu­bi­gen aus und die Begei­ste­rung jener, die schon immer die Fein­de der Kir­che waren.

Abge­se­hen von den sel­te­nen Wort­mel­dun­gen von Bene­dikt XVI. ist kaum mehr eine katho­li­sche Stim­me zu hören, die die Gläu­bi­gen und alle Völ­ker in Kon­ti­nui­tät mit dem stän­di­gen Lehr­amt der Kir­che lei­tet. Nie zuvor war die Kir­che so kon­for­mi­stisch und so irrele­vant in der Welt zu Fra­gen, die heu­te von enor­mer Trag­wei­te für die Mensch­heit sind.

Sie haben eine Wüste geschaf­fen und nann­ten es „Revo­lu­ti­on“. Aber jede Revo­lu­ti­on frißt ihre Kin­der, und so erle­ben wir jetzt den Bruch zwi­schen Berg­o­glio und sei­nen Anhängern.

Die aktu­el­le Kri­se könn­te ihn zum (unwahr­schein­li­chen) Rück­tritt oder zum ver­zwei­fel­ten Wei­ter­ge­hen ver­an­las­sen, in Erwar­tung des von Mel­lo­ni ange­kün­dig­ten „Sturms“.

Es gibt aber noch eine drit­te Mög­lich­keit: Papst Fran­zis­kus könn­te erken­nen, daß der Ver­such, der Kir­che durch Anpas­sung an die welt­li­che Men­ta­li­tät eine Zukunft zu geben, geschei­tert ist und der rich­ti­ge Weg der von Johan­nes Paul II. und Bene­dikt XVI. ist. Das scheint unmög­lich wie die Wun­der. Die aber den­noch pas­sie­ren können.

Natür­lich braucht es heu­te gro­ßen Mut, um den heroi­schen Weg von Papst Woj­ty­la und Papst Ratz­in­ger wie­der auf­zu­neh­men, denn das ist eine Zeit der Ver­fol­gung. Bene­dikt XVI. bekräf­tig­te in sei­nem letz­ten Inter­view [Peter See­wald: Bene­dikt XVI.: Ein Leben, Droe­mer, 2020], daß „die eigent­li­che Bedro­hung der Kir­che und somit des Petrus­dien­stes von der welt­wei­ten Dik­ta­tur schein­bar huma­ni­sti­scher Ideo­lo­gien aus­geht, denen zu wider­spre­chen den Aus­schluß aus dem gesell­schaft­li­chen Grund­kon­sens bedeutet“.

Ratz­in­ger hat die Dog­men die­ser Ideo­lo­gien auf­ge­li­stet und betont, daß „jeder, der sich ihnen ent­ge­gen­stellt, heu­te gesell­schaft­lich exkom­mu­ni­ziert ist“. Die moder­ne Gesell­schaft“, füg­te er hin­zu, „beab­sich­tigt, ein anti­christ­li­ches Cre­do zu for­mu­lie­ren, dem sich zu wider­set­zen mit gesell­schaft­li­cher Exkom­mu­ni­ka­ti­on bestraft wird. Die Furcht vor die­ser gei­sti­gen Macht des Anti­christ ist dann nur all­zu natürlich.“

Aber Fran­zis­kus hät­te (abge­se­hen von Gott) Bene­dikt XVI. an sei­ner Sei­te und alle (ver­blie­be­nen) gläu­bi­gen Katho­li­ken der Welt, und das sind sehr vie­le. So könn­te die Kir­che wirk­lich zur Frei­heit der Völ­ker beitragen.

*Anto­nio Soc­ci stu­dier­te Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten, war in sei­ner Jugend in der radi­ka­len Lin­ken aktiv, nach der Bekeh­rung näher­te er sich der neu­en kirch­li­chen Gemein­schaft Comu­nio­ne e Libe­ra­zio­ne (CL) an, die er heu­te hef­tig kri­ti­siert; seit 1984 Jour­na­list, mit Aus­nah­me von drei Jah­ren, in denen er die Kul­tur­ab­tei­lung der Pro­vinz Sie­na lei­te­te, Vater von drei Kin­dern, kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur der Monats­zeit­schrift 30giorni, Kolum­nist der Tages­zei­tun­gen Il Giorn­a­le, Libe­ro, Il Foglio, 2002–2004 stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur der Nach­rich­ten­re­dak­ti­on des zwei­ten staat­li­chen Fern­seh­sen­ders RAI 2, 2004–2020 Direk­tor der von der RAI und der Uni­ver­si­tät Peru­gia getra­ge­nen Hoch­schu­le für Fern­seh­jour­na­lis­mus (eine Stel­le, von der er nach Pole­mi­ken zu sei­ner Kri­tik an Papst Fran­zis­kus zurück­trat).

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Vati​can​.va (Screen­shot)

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