(Rom) Es brauchte einige Zeit, um die 460 Seiten des vatikanischen McCarrick-Berichts durchzuarbeiten. Nach ersten Kurzreaktionen legte Erzbischof Carlo Maria Viganò, der mit seinem Dossier Ende August 2018 eine massive Anklage gegen Papst Franziskus richtete und dessen Rücktritt verlangte, gestern eine ausführliche Stellungnahme vor. Deren Quintessenz lautet: Wie Santa Marta mit dem Fall McCarrick umgeht, sei nur eine inszenierter Theaterdonner. Hier der erste Teil.
Am 10. November hatte der Vatikan den McCarrick-Bericht vorgelegt, den Santa Marta zwei Jahre zuvor angekündigt hatte. Er sollte die Rolle von McCarrick beleuchten und klären, wie es sein konnte, daß jemand wie er in der Kirche eine so glänzende Karriere machen konnte. Wer hatte ihm dabei geholfen, wer mit ihm vielleicht sogar gemeinsame Sache gemacht? So lautete die Ankündigung. Der nun vorgelegte Bericht sei zwar sehr umfangreich, doch die genannten Fragen beantwortet er nicht.
Erzbischof Viganò, der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA, ist der große Ankläger gegen McCarrick und gegen Papst Franziskus. Msgr. Viganò brachte vor zwei Jahren mit seinem Dossier alles ins Rollen. Im vatikanischen McCarrick-Bericht wird er nun zwar 306mal namentlich genannt, wurde aber zu keinem Zeitpunkt seit jenem 26. August 2018, als er seine Anklage erhob, von irgendeiner vatikanischen Stelle vorgeladen oder angehört.
Warum macht der Heilige Stuhl einen so großen Bogen um den einstigen Spitzendiplomaten, den Franziskus in Pension schickte, weil er ihn dafür verantwortlich machte, seine Annäherung an die Homo-Agenda von Barack Obama 2015 durchkreuzt zu haben? Msgr. Viganò fragt sich in seiner Stellungnahme auch, warum die beiden früheren Staatssekretäre des Vatikans Kardinal Angelo Sodano und Kardinal Tarcisio Bertone nicht angehört wurden.
Zahlreiche Ungereimtheiten
Die zahlreichen Ungereimtheiten, die der ehemalige Nuntius ausfindig machte, drängen die Frage auf, warum dem so ist. Erzbischof Viganò zieht seine eigenen Schlüsse: Er erkennt im McCarrick-Bericht eine Haltung der Dankbarkeit von Franziskus gegenüber McCarrick. Ist Franziskus McCarrick gar zu Dank verpflichtet? Das aber sei ein ernster Fall eines Interessenskonflikts zwischen seinem Richteramt als Kirchenoberhaupt und seiner persönlichen Verbundenheit gegenüber dem Angeklagten. Ein enges Verhältnis zwischen Richter und Angeklagtem erlaube keine wirkliche Aufarbeitung des Falles.
Im Gegensatz zum weltlichen Straf- und Zivilprozeß, in dem jeder Zeuge neutral zu behandeln ist, gehe das Kirchenrecht davon aus, daß Klerikern, wenn sie in den Zeugenstand gerufen werden, grundsätzliche Glaubwürdigkeit zuerkannt wird, die erst durch gegenteilige Fakten widerlegt werden müßte.
„Das, so scheint mir, hat es erlaubt, auch Zeugenaussagen von Prälaten als Beweise gelten zu lassen, die McCarricks Komplizen gewesen sein könnten und daher kein Interesse daran haben, die Wahrheit preiszugeben.“
Sie hätten sich damit sogar selbst und ihrem Ansehen schaden können. Der Erzbischof wird noch deutlicher:
„Es fällt schwer, zu glauben, um Carlo Collodi [den Autor von „Pinocchio“] zu zitieren, daß die Katze (Kardinal Kevin Farrell) glaubwürdig den Fuchs (Theodore McCarrick) entlasten könnte. Genau das aber ist geschehen, so wie es möglich war, Johannes Paul II. zu hintergehen, indem ihm die Ernennung McCarricks zum Kardinal und Erzbischof von Washington eingeredet wurde, oder Benedikt XVI., was die Schwere der Anschuldigungen gegen den Purpurträger [McCarrick] betraf.“
Diese Glaubwürdigkeit, die Kleriker als Recht in Anspruch nehmen, scheint zum Dogma geworden zu sein, so Erzbischof Viganò, vielleicht dem einzigen, das nicht in Frage gestellt werden darf, besonders dann, wenn der Kleriker etwas von sich gebe, was die Welt gemeinhin eine Lüge nennt.
Der zweifelhafte Zeuge
Ihn habe es betroffen gemacht, so Erzbischof Viganò, daß die Zeugenaussage von Kardinal Kevin Farrell zugunsten McCarricks mit solchem Nachdruck Eingang in den vatikanischen McCarrick-Bericht gefunden habe. Während Farrells Aussage über Gebühr aufgewertet wurde, ließ man die Aussage von James Grein, einem der McCarrick-Opfer, dem einzigen, das sich mit Namen und Gesicht an die Öffentlichkeit wagte, einfach unter den Tisch fallen. Von Grein findet sich im Bericht keine Spur.
Die Einseitigkeit im Umgang mit den Zeugenaussagen sei wenig vertrauenerweckend. Vor allem habe der Heilige Stuhl sich damit selbst diskreditiert und den Nachweis erbracht, an einer wirklichen Untersuchung und Aufarbeitung des Falls nicht interessiert zu sein.
„Es ist nicht verständlich, aus welchem Grund die Aussagen Farrells zur Verteidigung von McCarrick, seinem Freund und Mitbewohner, gültig und glaubwürdig sein sollten, meine aber nicht. Der einzige Grund, den ich ausmachen kann, ist der, daß Farrells Worte die These Bergoglios stützen, während meine diese widerlegen und den Nachweis erbringen, daß nicht nur der ehemalige Bischof von Dallas gelogen hat.“
Erzbischof Viganò erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß Kardinal Donald Wuerl, McCarricks Nachfolger als Erzbischof von Washington, am 12. Oktober 2018 durch öffentlichen Druck zum Rücktritt gezwungen wurde, nachdem er bestritten hatte, etwas von den homosexuellen Machenschaften seines Mitbruders McCarrick gewußt zu haben. Dabei hatte Wuerl 2004 die Anzeige von Robert Ciolek, einem laisierten Priester des Bistums Metuchen, gegen McCarrick behandelt und an den damaligen Apostolischen Nuntius weitergeleitet. 2009 war es Wuerl, der McCarrick angewiesen hatte, das Priesterseminar Redemptoris Mater von Washington zu verlassen und in eine Pfarrei zu übersiedeln. McCarrick war bekannt dafür, nicht nur Minderjährige homosexuell zu mißbrauchen, sondern auch Seminaristen sexuell zu korrumpieren.
2010 war es wiederum Wuerl, der zusammen mit dem damaligen Vorsitzenden der Amerikanischen Bischofskonferenz, Francis George, dem vatikanischen Staatssekretariat davon abriet, McCarrick zu seinem 80. Geburtstag eine Glückwunschadresse zukommen zu lassen. Auch die Korrespondenz zwischen Wuerl und dem damaligen Apostolischen Nuntius Pietro Sambi liegt vor, in der es um ein mögliches öffentliches Ärgernis ging, das McCarrick vorgeworfen werden könnte.
Zudem gibt es die Korrespondenz von Kardinal Giovanni Battista Re, Präfekt der Bischofskongregation, aus der hervorgeht, daß Wuerl seinen Vorgänger McCarrick „ständig gefördert“ habe, auch dann, als dieser nicht mehr im Priesterseminar lebte.
Ablenkungsmanöver
Erzbischof Viganò stellt daher die Frage, weshalb er aller Ämter entkleidet wurde, während Wuerl auch nach seiner Emeritierung als Erzbischof von Washington in Rom alle Ämter beibehalten konnte, darunter auch die Mitgliedschaft in der Bischofskongregation, in der er Stimme im Kapitel besitzt, wenn es um Bischofsernennungen geht.
Kritik übt Msgr. Viganò an den Verfassern des McCarrick-Berichts auch, die mit dem Finger auf Johannes Paul II. zeigen und ihn an den Pranger stellen, weil er den Worten seines Sekretärs vertraute, der McCarrick ihm gegenüber verteidigte. Dieselben Autoren seien hingegen in jeder Hinsicht großzügig „gegenüber Bergoglio“, obwohl diesem viel detailliertere Dossiers über „Onkel Ted“, unter welchem Namen McCarrick gegenüber seinen Opfern auftrat, vorlagen als seinen Vorgängern.
„Ich denke, es ist der Zeitpunkt gekommen, um ein für allemal die Position des Richters gegenüber dem Angeklagten zu klären. Nach dem Gesetz muß ein Richter unparteiisch sein. Um das sein zu können, darf er durch keine Interessen oder auf andere Weise mit dem Angeklagten verbunden sein. In Wirklichkeit ist diese Unparteilichkeit in einem der aufsehenerregendsten Prozesse der Kirchengeschichte, in dem dem Angeklagten Verbrechen von solcher Schwere zur Last gelegt werden, daß er den Entzug der Kardinalswürde und die Laisierung verdiente, nicht gegeben.“
Die Strafe, die McCarrick von Franziskus auferlegt wurde, sei „so mild, um nicht zu sagen, nicht existent“. McCarrick wurde vom Gericht der Glaubenskongregation nur auf dem Verwaltungsweg der Klerikerstand entzogen „und von Bergoglio als res iudicata ratifiziert“. Die Strafe hätte viel härter ausfallen können, auch eine Gefängnisstrafe wäre möglich gewesen, wie sie 2018 gegen einen Mitarbeiter der Apostolischen Nuntiatur von Washington verhängt wurde, der wegen Besitzes und Verbreitung von kinderpornographischem Material zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
„In Wirklichkeit verrät die Laisierung das Wesen des Klerikalismus, der den Laienstand geradezu als Strafe betrachtet, während er nur die Voraussetzung zur Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen sein sollte.“
McCarrick genießt völlige Bewegungs- und Handlungsfreiheit
Da gegen McCarrick weder eine Gefängnisstrafe noch ein Hausarrest verhängt wurde, genieße er weiterhin „völlige Bewegungs- und Handlungsfreiheit“, womit sich an seiner persönlichen Freiheit nichts geändert habe.
„Er ist daher in der Lage, neue Straftaten begehen und seine kriminellen Aktivitäten sowohl im kirchlichen wie im politischen Umfeld fortsetzen zu können.“
Das kanonische Verfahren tilge nicht die strafrechtlichen Verfahren der weltlichen Justiz. In den USA seien die Verfahren noch anhängig. Sie werden aber so leise und unsichtbar behandelt, daß Erzbischof Viganò darin einen „weiteren Beweis für McCarricks politische Macht und seinen Medieneinfluß nicht nur im Vatikan, sondern auch in den USA“ sieht.
Es falle schwer, auf den Richter in dieser Causa zu schauen, ohne in Betracht zu ziehen, daß er sich gegenüber dem Angeklagten und dessen Komplizen in einer Schuld befinden könnte und diesem dankbar zu sein hätte. Erzbischof Viganò verdeutlicht, was er damit meint:
- „Wenn Jorge Mario Bergoglio seine Wahl der Verschwörung der sogenannten Mafia von Sankt Gallen verdankt, der ultraprogressive Kardinäle angehören sollen, die in ständigem und engem Kontakt mit McCarrick stehen;
- wenn die Unterstützung McCarricks für den Kandidaten Bergoglio tatsächlich Gehör bei den Papstwählern des Konklaves und bei jenen fand, die Überzeugungskraft im Vatikan besitzen, zum Beispiel jener berühmte Italian gentleman, auf den der amerikanische Kardinal in seiner Rede an der Villanova University anspielte;
- wenn der Amtsverzicht von Benedikt XVI. auf irgendeine Weise provoziert oder durch Intervention der Deep Church und des Deep State begünstigt wurde, ist logischerweise anzunehmen, daß Bergoglio und seine Mitarbeiter nicht das geringste Interesse daran haben, irgendetwas davon in den Bericht einfließen zu lassen, weder die Namen von McCarricks Komplizen noch jener, die ihn in seinem kirchlichen cursus honorum begünstigt haben, und schon gar nicht jener, die sich im Falle einer Verurteilung rächen könnten, indem sie die Verstrickungen führender Persönlichkeiten der Römischen Kurie, wenn nicht von Bergoglio selbst, enthüllen könnten.“
In offenem Widerspruch zu der in Anspruch genommenen Transparenz hüte sich der Bericht, so Erzbischof Viganò, die Prozeßakten des Verwaltungsverfahrens zu veröffentlichen. Man müsse sich gerade deshalb fragen, ob die Verteidigung von McCarrick einen Vergleich geschlossen und für die Verurteilung McCarricks im Gegenzug eine läppische Bestrafung vereinbart habe. Damit befindet sich McCarrick in völliger Freiheit, während die Opfer dem Richter keinen Vorwurf machen, aber auch keinen Schadenersatz verlangen können.
„Diese Anomalie ist selbst für jene sichtbar, die keine Rechtsexperten sind.“
Netz von Komplizenschaft und Erpressung
Erzbischof Viganò spricht daher von einem „Netz von Komplizenschaft und Erpressung“, in dem die Verbindungen des Richters und des Angeklagten auch mit der Politik, „besonders mit der Demokratischen Partei in den USA, der Kommunistischen Partei Chinas und generell mit den globalistischen Bewegungen und Parteien offenkundig“ seien.
2004 boykottierte McCarrick als Erzbischof von Washington mit Nachdruck die Verbreitung des Schreibens von Joseph Kardinal Ratzinger, dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, zum Verbot der Kommunionspendung an Politiker, die Abtreibungsbefürworter sind. Dabei handelte es sich bei McCarrick um eine offensichtliche Unterstützung katholischer demokratischer Politiker, konkret ging es damals vor allem um John Kerry, aber bereits vier Jahre später um Joe Biden. Kerry unterlag 2004 dem amtierenden republikanischen Präsidenten George W. Bush, während Biden durch den Wahlsieg von Barack Obama im Jahr 2008 dessen Vizepräsident wurde.
Biden erhielt 2020 die fast geschlossene Unterstützung des US-Episkopats und konnte dadurch auch katholische Stimmen verbuchen, die ansonsten an Trump gegangen wären.
„Es sind schon seltsame Zufälle: Auf der einen Seite wurden die Kirche und Benedikt XVI. vom Deep State angegriffen mit der Absicht, einen Vertreter der Deep Church zum Papst zu machen; auf der anderen Seite wurden der Staat und Donald Trump von der Deep Church angegriffen mit der Absicht, einen Vertreter des Deep State zum Präsidenten zu machen. Der Leser möge beurteilen, ob die Verschwörer ihr geplantes Ziel erreicht haben.“
Erzbischof Viganò zieht daraus den Schluß:
„Diese geheime Absprache mit der globalen Linken ist das nötige Bindeglied für ein größeres Projekt, in dem die Fünften Kolonnen der durchdringenden Auflösung in der Kirche aktiv mit dem Deep State zusammenarbeiten, indem sie einem einheitlichen Skript unter einer gemeinsamen Regie folgen: Die Akteure dieser Operation haben verschiedene Rollen, aber sie folgen auf derselben Bühne demselben Drehbuch.“
Text: Giuseppe Nardi
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