(New York Times) In der Sonntagsausgabe der New York Times vom 18. November wurde ein Kommentar von Ross Douthat veröffentlicht, der als konservative, katholische Feder der linksliberalen Tageszeitung gilt.
Am 18. März 2018 hatte Douthat in denselben Spalten über „Der gute Papst und seine Kritiker“ geschrieben:
„Papst Franziskus ist sehr beliebt, aber sein Pontifikat könnte eine Katastrophe sein. Einen Weg zu wählen, der nur zwei Schicksale kennt – Held oder Häretiker –, ist jedoch auch für einen Papst ein Akt der Vermessenheit. Besonders für einen Papst.“
Kann die Kirche die „zweite Agonie“ nach 2001 auch „überleben“?
Am Sonntag schrieb Douthat über „Eine Herde ohne Hirten“ (Sheep Without Shepherds). Thema ist die Krise der Kirche in den USA durch den sexuellen Mißbrauchsskandal. Im Internet wurde sein Text bereits am Vortag, den 17. November, veröffentlicht.
Der Autor verweist nicht nur auf die jüngsten Skandale:
„Die US-Katholizität hat in den vergangenen 50 Jahren Millionen von getauften Gläubigen verloren“.
Dieser Abfall von der Kirche sei in den 60er und 70er Jahren besonders akzentuiert gewesen. Zur Jahrtausendwende hatten sich die Zahlen kirchlicher Eheschließungen und Taufen stabilisiert.
Nach dem Skandal von 2001 konnte Gallup bei der Zahl der Meßbesucher eine schnelle Erholung registrieren. Weder die Zahl der Priesterweihen noch die der Konvertiten im Erwachsenenalter erlebten einen nennenswerten Einbruch. Es habe natürlich „lokale Kollapse und individuelle Glaubenskrisen“ gegeben. Die moralische Autorität der Bischöfe habe vor allem gelitten. Kurzum, die Kirche als Institution schien die Krise besser zu überstehen als zunächst erhofft werden durfte. Der katholische Glaube an die Sakrament erwies sich als wichtiger als die Sünden der verantwortlichen Kirchenmänner.
Die Frage angesichts der „zweiten Erfahrung des Purgatoriums“ durch den neuen Skandal sei, ob die Kirche diese „zweite Agonie“ ebenso „überleben“ werde können.
„Das Fiasko überrascht nicht“
Die Vollversammlung der Amerikanischen Bischofskonferenz in Baltimore in der Vorwoche sei zum „Fiasko“ geworden. Man hatte erhofft, daß die Oberhirten einen Plan verabschieden würden, um den Mißbrauch in ihren Reihen zu bewältigen. „Unglücklicherweise“ wurden diese Absichten „im letzten Augenblick“ durch „das Beharren des Vatikans“ zunichte gemacht, über das Thema und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen in einigen Monaten in Rom zu diskutieren.
„Das Fiasko überrascht nicht“, so Douthat.
„Der Tonfall und der Selbstschutzzweck der römischen Intervention, die Verwirrung und die innere Spaltung im US-Episkopat sowie die Diskussionen von Liberalen gegen Konservative sind alle charakteristisch für die Krise des Katholizismus unter Papst Franziskus.“
Wenn dieses Fiasko auch nicht überraschend war, habe es dennoch etwas offenbart. Als die sexuellen Mißbrauchsskandale 2001 ausbrachen, so Douthat, konnte man denken, daß es „nur“ um sexuellen Mißbrauch geht, daß die Kirche die Täter unter den Klerikern bestrafen und vom Einsatz in der Seelsorge entfernen werde, kurzum, daß gegen den Mißstand vorgegangen und dadurch eine Erneuerung stattfinden werde.
17 Jahre später zeige sich das Problem etwas anders. Nun geht es um höchste Kirchenvertreter, die als Täter handelten, wobei Douthat konkret einen „bekannten Kardinal“ [Theodore McCarrick] erwähnt. Es sei sichtbar geworden, daß die Kirche, weder die US-Bischöfe noch Papst Franziskus, eine Antwort auf das Problem haben, denn das sexuelle Fehlverhalten des genannten Kardinals war bereits während seines „Aufstiegs“ bekannt.
„Bei der grundlegenden Aufgabe, die Sicherheit von Kindern zu gewährleisten, hat sich die Kirche seit 2001 sehr verbessert. Aber in allem, was mit dem Skandal verbunden ist, gibt es wenig Fortschritte, weil die katholischen Führungsverantwortlichen sich nicht einig sind, was hier Fortschritt bedeutet.“
„In der Hierarchie herrscht sexuelle und finanzielle Korruption“
Die Anspielung kann sich nur auf die Ursachen und Wurzeln des Mißbrauchsskandals beziehen. Douthat nennt nicht Roß und Reiter, nur soviel: Durch den Skandal sei offenkundig geworden, daß „in der Hierarchie sexuelle und finanzielle Korruption herrscht“. Es gehe also darum, so der Autor, wie die Kirche Priester ausbildet und Bischöfe auswählt.
„Die theologischen Fraktionen der Kirche sind jedoch so weit voneinander entfernt“, daß sie gegenseitig Reformen verhindern würden.
„Weil die Liberalen der Meinung sind, daß die Konservativen eine Inquisition wollen, und weil die Konservativen der Meinung sind, daß die Liberalen einen Episkopalismus wollen, und in beiden Karikierungen steckt etwas Wahres.“
Reformvorschläge würden durch die „ideologische Linse“ betrachtet.
„Keine der beiden Seiten hat genug Vertrauen, um etwas von der anderen zu lernen oder eine vollständige Reinigung der eigenen Reihen durchzuführen.“
Die „ausgleichende Gerechtigkeit“, um die sich der Autor bemüht, darf in der Sache allerdings bezweifelt werden.
Die Gläubigen sind verunsicherter als 2001
Wie in der weltlichen Politik seien „Stagnation und Verwirrung“ die Folge in einer Kirche, die sich immer weniger darüber sicher sei, was sie lehrt, und die von Männern geführt wird, die sich nicht einig sind, wie die Kirche gereinigt werden könnte.
„Das hinterläßt die katholischen Gläubigen mit weniger Hoffnung als 2001, daß ihre Bischöfe die nötige Kompetenz und Anstand haben könnten, um von christlicher Heiligkeit erst gar nicht zu sprechen.“
Douthat verweist auf ihm bekannte katholische Journalisten, namentlich nennt er Damon Linker, einen Konvertiten „trotz aller Zweifel an der Kirche“, und Melinda Henneberger, eine „wirklich Gläubige, die an katholischen Schulen erzogen wurde und den Rosenkranz und die Novene betet“. Beide haben in Artikeln über den aktuellen Mißbrauchsskandal geschrieben, wie sehr sie der Skandal unter Druck setze, von praktizierenden Katholiken zu nicht praktizierenden zu werden und von dort zu „Ex-Katholiken“.
„Irgendwann (vielleicht im Advent oder zu Weihnachten) werde ich eine Kolumne darüber schreiben, warum das ein schrecklicher Fehler wäre. Heute reicht es jedoch, darauf hinzuweisen, daß Henneberger und Linker für viele schwankende Katholiken stehen, die 2001 bei einer kompromittierten Führung blieben, aber nicht länger bei einer Hierarchie bleiben wollen, die 2018 bankrott zu sein scheint.“
Douthat abschließend:
„Ich denke, die in Baltimore versammelten Bischöfe wissen, daß dies eine Möglichkeit ist, daß sie für den Verlust von Kirchgängern und den Verlust von Seelen verantwortlich sind. Ich denke, viele haben wirklich gute Absichten und eine echte Verzweiflung, herauszufinden, was getan werden muß. Und ich denke, daß ihre Ohnmacht eine wortwörtliche Lektion der Straße ist, die guten Absichten den Weg ebnet.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: New York Times (Screenshot)