Von Roberto de Mattei*
In seinem Blog Settimo Cielo vom 13. Juli kritisierte der Vatikanist Sandro Magister die Bischöfe Carlo Maria Viganò und Athanasius Schneider heftig und erhob den Vorwurf, „Fake News“ zu verbreiten.
Der Begriff „Fake News“ bezieht sich auch auf die These von Msgr. Schneider, der zufolge die Kirche in ihrer Geschichte in früheren ökumenischen Konzilen begangene Lehrfehler, ohne damit „die Grundlagen des katholischen Glaubens zu untergraben“, korrigierte. Magister beschuldigt Schneider der historischen Inkompetenz und führt als Beweis eine kurze Stellungnahme von Kardinal Walter Brandmüller zum Konzil von Konstanz an, die in Wirklichkeit nichts von dem bestreitet, was Msgr. Schneider vertritt.
Das sind die Fakten: Am 6. April 1415 erließ das Konzil von Konstanz das als Haec Sancta bekannte Dekret (Text in Mansi, XXIX, Slg. 21f), in dem feierlich bestätigt wurde, daß das Konzil mit dem Beistand des Heiligen Geistes seine Vollmacht direkt von Gott bekam: Deshalb war jeder Christ, einschließlich des Papstes, verpflichtet, ihm zu gehorchen. Haec Sancta ist ein revolutionäres Dokument, das viele Fragen aufwirft, da es zunächst in Übereinstimmung mit der Tradition ausgelegt, dann aber vom Päpstlichen Lehramt verworfen wurde. Es fand seine folgerichtige Anwendung im Dekret Frequens vom 9. Oktober 1417, das ein Konzil fünf Jahre später einberief, das nächste nach weiteren sieben Jahren und dann eines alle zehn Jahre. De facto wurde dem Konzil die Funktion eines ständigen Kollegialorgans zugeschrieben, das dem Papst zur Seite gestellt wurde, aber faktisch über ihm stand.
Kardinal Brandmüller stellt fest, daß „die Versammlung, die diese Dekrete erließ, gar kein ökumenisches Konzil war, das befugt war, die Glaubenslehre zu definieren. Es handelte sich nur um eine Zusammenkunft der Anhänger von Johannes XXIII. (Baldassare Cossa), einem der drei ‚Päpste‘, die zu dieser Zeit um die Führung der Kirche kämpften. Diese Versammlung hatte keine Autorität. Das Schisma dauerte bis zu dem Moment, in dem sich die beiden anderen Teile im Herbst 1417 der Versammlung in Konstanz anschlossen, nämlich die Anhänger Gregors XII. (Angelo Correr) und die „Natio hispanica“ von Benedikt XIII. (Pedro Martinez de Luna). Erst von diesem Moment an wurde die Konstanzer Versammlung ein wirkliches ökumenisches Konzil, auch wenn es noch ohne den schließlich gewählten Papst war“. Das stimmt alles, aber Martin V., der am 11. November 1417 in Konstanz zum „wahren“ Papst gewählt wurde, erkannte in der Bulle Inter cunctas vom 22. Februar 1418 den ökumenischen Charakter des Konstanzer Konzils und alles, was es in den vergangenen Jahren beschlossen hatte, mit der nur allgemein einschränkenden Formel an: „in favorem fidei et salutem animarum“, „zu Gunsten des Glaubens und des Seelenheils“ (Joseph von Hefele, Histoire des Conciles d’après les documents originaux, Letouzey et Ané, Paris 1907, Bd. I, S. 53, 68–74 und Bd. VII‑1, S. 571). Er lehnte Haec Sancta nicht ab und wandte das Frequens-Dekret rigoros an, indem er das Datum eines neuen allgemeinen Konzils festlegte, das in Pavia-Siena (1423–1424) stattfand, und die Stadt Basel als Sitz der darauf folgenden Versammlung bestimmte.
Das Konzil in Basel wurde am 23. Juli 1431 eröffnet. Der Nachfolger von Martin V., Eugen IV., ratifizierte mit der Bulle Duduum Sacrum vom 15. Dezember 1433 die Dokumente, die die Versammlung bis zu diesem Zeitpunkt erlassen hatte, einschließlich der Haec Sancta, die von den „konziliaristischen“ Vätern von Basel zu ihrer Magna Carta erklärt wurde. Derselbe Eugen IV. nahm im Dekret des Konzils von Florenz, das am 4. September 1439 die Väter von Basel verurteilte, um das Konzil von Konstanz zu „retten“, zu dem Zuflucht, was in modernen Begriffen als „Hermeneutik der Kontinuität“ bezeichnet werden könnte, wie es heute mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geschieht. Er argumentierte, daß die Proposition der Überlegenheit der Konzilien gegenüber dem Papst von den Basler Vätern auf der Grundlage von Haec Sancta bestätigt wurde, „eine schlechte Interpretation (pravum intellectum)“ war, „die von den Baslern selbst gegeben wurde und sich tatsächlich als im Widerspruch zum echten Sinn der Heiligen Schrift, der Heiligen Väter und sogar des Konstanzer Konzils herausstellt“ (Dekret des Konzils von Florenz gegen die Basler Synode, VII. Sitzung vom 4. September 1439, in Conciliorum Oecumenicorum Decreta, herausgegeben vom Institut für Religionswissenschaften, EDB, Bologna 2002, S. 533). Die Basler Väter, so der Papst, „interpretieren die Erklärung des Konzils von Konstanz in einem schlechten und verwerflichen Sinne, der der gesunden Lehre völlig fremd ist“ (ebd., S. 532). Heute würde man sagen: Es handelt sich um eine mißbräuchliche Auslegung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die die Dokumente falsch wiedergibt.
Anschließend verurteilte Eugen IV. in dem Schreiben Etsi dubitemus vom 21. April 1441 die „diabolici fundatores“ der Konziliarismus-Lehre: Marsilius von Padua, Johannes von Jandun und Wilhelm von Ockham (Epistolae pontificiae ad Concilium Florentinum spectantes, Päpstliches Orientalisches Institut, Rom 1946). S. 24–35), aber gegenüber Haec Sancta nahm er eine zögerliche Haltung ein, die sich weiterhin auf der Linie der „Hermeneutik der Kontinuität“ bewegte. Eugen IV. ratifizierte das Konzil von Konstanz als Ganzes und in seinen Dekreten, „absque tamen praejudicio juris, dignitatis et praeminentiae Sedis apostolicae“, wie er am 22. Juli 1446 an seinen Legaten schrieb: Eine Formel, die die Bedeutung der Einschränkung von Martin V. klärte, indem im Namen des päpstlichen Primats implizit alle verurteilt wurden, die sich auf das Konstanzer Konzil beriefen, um die Überlegenheit des Konzils gegenüber dem Papst zu behaupten.
In der Folge wurde die These von der „Kontinuität“ zwischen Haec Sancta und der Tradition der Kirche von Theologen und Historikern fallengelassen, darunter auch von Kardinal Brandmüller, der die Verordnung Haec Sancta und Frequens zu Recht aus der Tradition der Kirche ausklammert. Bereits zur Zeit der Gegenreformation erklärte Pater Melchior Cano, daß Haec Sancta abgelehnt werden müsse, weil es nicht die dogmatische Form eines Dekrets hat, „das die Gläubigen verpflichtet zu glauben, oder das Gegenteil verurteilt“ (De locis theologicis, 1562, spanische Übersetzung BAC, Madrid 2006, S. 351). In ähnlicher Weise betont Kardinal Baudrillart im Dictionnaire de Théologie Catholique, daß das Konzil von Konstanz mit Haec Sancta nicht die Absicht hatte, eine dogmatische Definition zu verkünden. Auch aus diesem Grund wurde dieses Dokument später von der Kirche abgelehnt (Concile de Constance, in DTC, III, 1, Spalte 1221). Gleiches gilt für den Kirchenhistoriker August Franzen (Das Konzil der Einheit, in A. Franzen und Wolfgang Müller, Das Konzil von Konstanz. Beiträge zu seiner Geschichte und Theologie, Herder, Freiburg-Basel-Wien 1964, S. 104). Deshalb schreibt Pater Joseph Gill, einer der besten Kenner des Konzils von Konstanz im Zusammenhang mit dessen Ökumenizität: „les historiens s‘accordent à le considérer comme oecuménique, mais dans des proportions variables“, („die Historiker sind sich einig, es als ökumenisch zu betrachten, aber in unterschiedlichem Ausmaß“, Constance et Bâle-Florence, Editions de l’Orante, Paris 1965, S. 111).
Warum also ausschließen, daß der Tag kommen wird, an dem auch das Zweite Vatikanische Konzil teilweise oder ganz abgelehnt werden könnte, wie es für das Konstanzer Konzil und seine Dekrete geschehen ist?
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen2011.
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Erstveröffentlichung: Gastbeitrag bei Duc in Altum von Aldo Maria Valli, vom Autor freundlich zur Verfügung gestellt
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Corrispondenza Romana