Ein Beitrag von Clemens Victor Oldendorf.
Mit der Bulle Divino Afflatu vom 1. November 1911 verfügte Pius X. seine weitreichende Reform des römischen Breviers und diejenige des Missale. Obwohl die Arbeiten an einer neuen Editio typica des Messbuchs im Frühjahr 1914 begannen, kam es durch den Ersten Weltkrieg, den Tod von Pius X., schließlich durch die Überlastung der vatikanischen Druckerei wegen der Herausgabe dreier verschiedener Ausgaben des damals völlig neuen Kodex des kanonischen Rechts von 1917 erst im Pontifikat Benedikts XV. zur Approbation und zum Erscheinen des von Pius X. reformierten tridentinischen Messbuchs. Benedikt XV. wählte dafür seinen Namenstag, den 25. Juli 1920.
Vorläufigkeit der Reform Papa Sartos – zwei Jubiläen
Schon damals waren die Fachleute überzeugt, dass mit dem MR1920 nur eine vorläufige Reformstufe erreicht sein würde und erwarteten in einigen Jahrzehnten die definitiven Editiones typicae von Brevier und Messbuch. Dass der Codex Rubricarum, der noch unter dem Pontifikat Pius‘ XII. erarbeitet worden war, von Johannes XXIII. als Abschluss der Reform von 1920 betrachtet wurde, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er das Motuproprio Rubricarum instructum, mit dem er den Codex Rubricarum approbierte, seinerseits auf den 25. Juli 1960 datiert hat.
Somit wird der 25. Juli 2020 sechzig Jahre Codex Rubricarum markieren und vor allem das 100. Jubiläum des von Pius X. erneuerten tridentinischen Missale Romanum.
Zwei Dekrete der Glaubenskongregation: Neue Heilige im MR1962 und zusätzliche Präfationen zur Auswahl
Am 25. März 2020 wurden nun zwei Dekrete der Glaubenskongregation veröffentlicht. Seit Auflösung der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei sind deren Zuständigkeit und Kompetenzen bekanntlich auf die Kongregation für die Glaubenslehre übergegangen. Die Dekrete ermöglichen zum einen die liturgische Feier von Seligen und Heiligen, die seit 1962 seliggesprochen oder kanonisiert worden sind, und regeln, wie dies unter intakter Wahrung der alten Rubriken gegebenenfalls zu geschehen hat, zum andern fügen sie optional einige neue Präfationen hinzu.
Tatsächlich neu im MR1962 sind eine Engelpräfation (eine solche gab es bis dahin im tridentinischen Messbuch überhaupt nicht), eine Märtyrerpräfation, eine Eigenpräfation der Brautmesse sowie eine solche für die Feste des heiligen Johannes Baptist. Von der Sakramentspräfation, der Präfation zur Kirchweihe und ihrem Jahrestag und derjenigen von allen Heiligen und den heiligen Patronen, die schon 1963 pro aliquibus locis approbiert worden waren, stellt das Dekret lediglich fest und klar, dass sie nunmehr bei Feiern nach dem MR1962 weltweit verwendet werden dürfen.
Was ist mit der Praefatio propria der Adventszeit?
Merkwürdig ist hier, dass die in den 1960er Jahren ebenfalls mancherorts konzedierte Adventspräfation unerwähnt bleibt. Diese Präfationen, einschließlich derjenigen für den Advent, benutzt auch die Piusbruderschaft schon bislang. Merkwürdig ist das Fehlen der Adventspräfation in Quo magis und der zugehörigen Erläuterung aus zwei Gründen:
Einerseits ist sie die nach Komposition und Aussage am meisten gelungene dieser Präfationen, andererseits schrieb schon 1920 beim Erscheinen des Messbuchs von Pius X. Franz Brehm (1872–1937), Konsultor der Heiligen Ritenkongregation und liturgischer Redakteur des Verlages Friedrich Pustet in Regensburg, in seinem aus diesem Anlass erschienenen Buche Die Neuerungen im Missale:
„Nachdem bereits jetzt bei der interimistischen Reform des Missale zwei neue Präfationen eingeführt wurden (gemeint ist eine eigene Totenpräfation und die Präfation vom heiligen Joseph 1919, Anm. C. V. O.), so steht zu erwarten, daß seinerzeit bei der definitiven Reform die Zahl der Präfationen noch weiter vermehrt wird; die Aussicht dafür dürfte um so größer sein, je besser begründet und je häufiger diesbezügliche Gesuche und Wünsche in Rom vorgebracht werden. (…) Ein (…) gewichtiger Grund spricht vor allem für die spätere Einführung einer eigenen Adventspräfation. Wie nämlich die Quadragesimal- , die Passions- und die österliche Zeit je eine eigene Präfation haben, so wäre es doch sehr entsprechend, daß auch die Adventszeit ihre eigene Präfation bekommt. Das Fehlen der Adventspräfation ist ein Mangel im harmonischen Ausbau der Liturgie, den sogar Laien empfinden“ (a. a. O., S. 239, kursiv hier und stets in Zitaten zur Hervorhebung, C. V. O.).
Eine verpasste Chance: Weihnachtspräfation als Option an Fronleichnam
Schon damals argumentierte Brehm auch zugunsten einer eigenen Sakramentspräfation: „Es hätte dann jede der 6 privilegierten Oktaven der primären Feste des Herrn eine eigene Präfation“ (a. a. O., S. 240). Die Sakramentspräfation gibt es mittlerweile längst, und mit dem gestrigen Dekret Quo magis kann sie unzweifelhaft weltweit verwendet werden, indes ist das Argument Brehms für eine eigene Eucharistiepräfation hinfällig, besitzt doch das Fronleichnamsfest auf dem Stand von 1962 leider keine Oktav mehr.
Wenn dem schon so ist und wahrscheinlich bis auf weiteres so bleiben dürfte, hätte man seitens der Glaubenskongregation die Gelegenheit ergreifen können, für das Fronleichnamsfest und in Votivmessen vom allerheiligsten Altarsakrament wenigstens als Option auch wieder die Verwendung der Weihnachtspräfation zu gestatten, mit der theologisch hochstehend und dogmatisch sinnreich einst so treffend auf den Konnex zwischen Inkarnation und Eucharistie hingewiesen wurde.
Entwarnung für Skeptiker: Alles kann beim Alten bleiben!
Alle am 25. März veröffentlichten Bestimmungen bleiben optional. Die Entwicklungslinie wurde hier bewusst bis 1920 und Pius X. weiter zurückverfolgt, um die Akzeptanz der gestrigen Dekrete, besonders der zusätzlichen Präfationen, prinzipiell zu erhöhen. Die Skepsis, die teilweise wie aus der Pistole geschossen gegen die aus dem MR1970/2002 übernommenen Präfationen formuliert worden ist, lässt sich vielleicht zerstreuen, wenn man bedenkt, dass es sich in diesen Fällen nicht um Neuschöpfungen handelt, sondern um Rückgewinnungen aus der vortridentinischen Quelle des Sacramentarium Gelasianum. Da, wo es formale Abweichungen gab, nämlich im Ausklang der Schlussformel der Präfation, wurde sie jeweils den im MR1962 bereits vorkommenden Varianten una voce dicentes und sine fine dicentes (scherzhaft in männliche und weibliche Präfation unterschieden) angeglichen.
Entweder ohnehin Normalfall oder immerhin schon hundertjährige Anregung
Beide Schritte, neu hinzukommende Heilige und eine moderat vermehrte Auswahl an Präfationen, wurden 2007 von Benedikt XVI. im Begleitschreiben zu Summorum Pontificum in Aussicht gestellt. Dass Selig- und Heiligsprechungen nach einer Editio typica weitergehen und die Betreffenden dann auch liturgisch berücksichtigt werden können, ist eine Selbstverständlichkeit, und im Prinzip war es die eigentliche Absonderlichkeit, dass dies in Feiern nach dem MR1962 (und unter Verwendung des Breviers von 1962) bisher nicht möglich war, doch wir sehen vor allem, dass man schon 1920 weitere Präfationen gewünscht hat und davon ausging, dass diese bei einer definitiven Reform kommen würden.
Von den jetzt tatsächlich neu hinzukommenden Präfationen gilt zumal, was Brehm schon 1920 in seinem 452 Seiten starken Buch (so umfangreich und zahlreich waren die damaligen Neuerungen!) weiter ausführt und was hier als Schlusswort stehen soll:
Es „hindert doch nichts, durch Zutaten, die nicht einmal eigentlich neu sind, den herrlichen Bau der Liturgie noch schöner und ebenmäßiger zu gestalten. Die Einführung einiger weniger Präfationen kann umso weniger ernste Schwierigkeiten bieten, wenn man bedenkt, daß der römische Ritus, wie die ältesten Sakramentarien beweisen, im Laufe der Zeit hunderte von Präfationen zählte, z. B. nach dem Leoninischen Sakramentar 267, nach dem Gelasianischen 56. Ja, es wäre die Hinzufügung dieser wenigen Präfationen ein gemäßigtes Zurückgehen auf die früheren Bräuche, das um so leichter zu bewerkstelligen wäre, als man nicht nötig hätte, erst ganz neue Formularien zu schaffen, sondern aus den bereits vorhandenen nur die schönsten und passendsten auszuwählen brauchte“ (a. a. O., S. 240f.).
Bild: MiL
Die reflexhafte Aversion gegenüber jeder Veränderung ist Ausdruck des Unbehagens gegenüber der Richtung, in die sich die Welt immer schneller verändert. Aber auch Traditionalisten sollten eingestehen, dass Überkommenes allzu häufig nur scheinbar ursprünglich und selbst schon Ergebnis von Veränderung ist. Dabei gibt es durchaus Klassisches, das sich über die Zeiten hinweg bewährt.
Es müsste vielmehr immer um die Sache selbst gehen: Was ist wann wert, erhalten, neu oder wieder entdeckt zu werden?
Den Maßstab hierfür gibt wieder einmal der Hl. Paulus vor: „Löschet den Geist nicht aus. Prophetenwort verachtet nicht. Prüft alles, das Gute behaltet“ (1 Thess 5,20 f.).
Bevor einmal mehr alles mit allem vermengt wird empfehle ich den Vortrag von Dr. Hesse:
Der eigentliche Beginn des NOM / auf YouTube.
Was Päpste und Konzilien als Dogmen verbindlich verkündet haben bindet die nachfolgenden auf Ewig !
So ist das nun einmal !
Daß der NOM mit dem hl. Papst Pius X. begonnen habe, hat Hw. DDr. Gregor Hesse mit Bestimmtheit nicht behauptet. Insofern wüßte man gern, wie man Ihren Hinweis auffassen soll oder worin der Zusammenhang zum Artikel besteht.
Was wir brauchen ist die Einheit im Ritus, nicht die Vielfalt!
Voraussetzung dafür ist die Einheit im Glauben, von der man in der Weltkirche durch das II. Vatikanische Konzil und infolge des II. Vatikanischen Konzils leider sehr weit abgekommen ist (Stichwort: Verehrung der „Göttin Pachamama“ [= Mutter Erde, Mutter Welt, Mutter Kosmos], interreligiöse Treffen in Assisi etc., etc, etc.).
Anderen Quellen zufolge, stammen vier der sieben neuen Präfationen aus der „Neuen Messe“ nach dem Novus Ordo von Papst Paul VI.!
Umgekehrt übernimmt die „Neue Messe“ überhaupt nichts aus dem Missale Romanum von 1962!
Noch nicht einmal die von Papst Benedikt XVI. vorgeschriebene korrekte Neuübersetzung der Konsekrationsworte über den Kelch (anstatt für „euch und für alle“ muss es „für euch und für viele“ heißen) fand Eingang in den (landessprachlichen) Novus Ordo, ganz zu schweigen von der neu formulierten Karfreitagsfürbitte „für die Bekehrung der Juden“.
Die Freiwilligkeit der Anwendung der „Vielfältigkeit“ für die sogenannte „außerordentliche Form“ des Römischen Ritus schafft in der Praxis nur heillosen Streit und weitere Spaltungen innerhalb der Traditionsbewegung.
Zuerst müssen Vatikan und Weltklerus ohne Wenn und Aber zu ihrer eigenen Tradition, zum wahren Glauben und zur wahren, unverfälschten Lehre zurückkehren.
Zuerst muss wieder da angeknüpft werden, wo man 1962 aufgehört hat.
Alles andere ist nichts als Augenwischerei.
Priester der Tradition, die sich davon blenden lassen, sollten keinerlei Unterstützung mehr erhalten.
Die vier Präfationen stammen nicht aus dem NOM, sondern wurden im Messbuch Pauls VI. ebenfalls aus dem Sacramentarium Gelasianum übernommen. Richtig lesen sollte man schon, bevor man eine Kritik anbringt. Was Sie sonst sagen, ist teils richtig, teils zumindest eine verständliche und nachvollziehbare Sichtweise und als solche legitim. Aber der Bezug zu den Dekreten oder wenigstens allgemein zum obigen Beitrag fehlt ansonsten auch bei Ihnen.
@Jens Freiling,
Lieber Jens Freiling, hier geht es nicht um Dekrete.
Und es geht auch nicht darum, dass die Traditionsbewegung Reformen bzw. Änderungen generell ablehnte.
Aber solange das Grundübel II. Vatikanischens Konzil mit seinen Irrtümern (falsche Auffassung von Religionsfreiheit, falsches Verständnis von Ökumene, naive und falsche Sichtweisen auf die anderen, nichtchristlichen Religionen usw.) nicht vollständig beseitigt ist, muss das Missale Romanum von 1962 unverändert bleiben.
Das Motu Proprium Summorum Pontifikum sieht vor: „In Zukunft können auch in das 1962er Messbuch neue Heilige und einige der neuen Präfationen aufgenommen werden. Auch die „Liturgie von 1962“ soll demnach eine Liturgiereform erfahren, doch in einer anderen Weise, als sie für die „ordentliche Form“ durch die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. durchgeführt wurde. Längerfristig unverändert darf der „1962er Usus“ deshalb nicht bleiben, weil das Zweite Vatikanische Konzil seine Erneuerung ausdrücklich vorgeschrieben hat (Sacrosanctum Concilium Nr. 25).“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Summorum_Pontificum)
Um auf die im Artikel eingangs gestellte Frage „Sieht so ein Trojanisches Pferd aus?“ konkret zu antworten:
Ja, genau so sieht ein Trojanisches Pferd aus!
Die Einführung von „neuen Heiligen“ endet ja nicht mit Pater Pio oder mit Edith Stein. In Zukunft können beispielsweise auch der „heilige“ Papst Paul VI., der „heilige“ Papst Johannes-Paul II. in die „außerordentliche Form der lateinischen Liturgie“ eingefügt werden.
Kein Geringerer als der am 10.12.2018 verstorbene deutsche Philosoph Robert Spaemann hat mir bei der Bekanntgabe des Motu Proprio Summum Pontifikum selbst versichert, dass die Einführung von zwei Formen des lateinischen Ritus (nämlich die „ordentliche“ und die „außerordentliche Form des lateinischen Ritus“) an sich schon traditionswidrig und daher abzulehnen sei!
Wehret den Anfängen, kann ich da nur sagen.
@ Markus Schellewald,
wie ordnen Sie im Hinblick auf Ihr „strategisches“ Unbehagen den uniert-byzantinischen Ritus ein, der seit undenklichen Zeiten neben dem lateinischen Ritus anerkannt ist?
Lieber Notar,
bitte bleiben Sie beim Thema.
Hier geht es um den überlieferten lateinischen Ritus der römisch katholischen Kirche, wie er auf dem Konzil von Trient kodifiziert wurde.
Dieser Ritus existiert traditionell nur in einer Gebrauchsform („Usus“), nicht in zwei, wie uns das Motu Proprium Summorum Pontifikum fälschlicherweise suggeriert.