
Von Roberto de Mattei*
Die Wahlen vom 26. Mai waren eine bedeutungsvolle Episode in einem Zusammenprall, der weit über das Schicksal des Europäischen Parlaments oder der einen oder andern nationalen Regierung hinausgeht. Es gibt eine Lobby, welche die Zerstörung der christlichen Identität und die Schaffung kosmopolitischer Organe zum Ziel hat, die souveräne Vollmachten über Leben und Tod der europäischen Bürger an sich ziehen sollen. Ein Beispiel für dieses Projekt ist jener Vorfall in Frankreich, wo das Oberlandesgericht Paris die Entscheidung über das Leben von Vincent Lambert, einen querschnittgelähmten Franzosen, den seine Frau und die Ärzte des Krankenhauses von Reims, in dem er untergebracht ist, zum Tode verurteilt haben, an die UNO delegierte.
Es ist offensichtlich, daß die Vollmacht, über das Leben von Lambert zu bestimmen, weder den französischen Richtern noch solchen der EU oder der UNO zusteht. Das Recht, ob nationales oder internationales Recht, hat seine Quelle nicht in den Organen, die es erlassen oder anwenden, sondern im Göttlichen Recht, das dem von Menschen gesetzten Recht vorausgeht, und mit dem das Gesetz der Menschen untrennbar verbunden ist. Das Göttliche Recht oder Naturrecht verbietet das Töten eines Unschuldigen, und jedes von Menschen gesetzte Recht, von dem das Gegenteil bestimmt wird, ist als ungültiges und wirkungsloses Ungesetz zu betrachten. Da der einzige Bewahrer und Wächter des Göttlichen Rechts und des Naturrechts die katholische Kirche ist, kommt es vor allem den Kirchenmännern zu, das unveräußerliche Lebensrecht zu verkünden. Heute fehlt aber diese Stimme der Kirchenmänner. Das einzige Problem, für das sich die Führungsspitze der Kirche zu interessieren scheint, ist die Aufnahme von außereuropäischen Einwanderern. Eine totale, bedingungslose und absolute Aufnahme. Das hat nichts mit der alten, christlichen oder laizistischen Tugend der Gastfreundschaft zu tun, sondern mit einer ideologischen Entscheidung für eine Willkommens-Philosophie, die in Wirklichkeit eine Theorie des Verzichts auf die europäische Identität bzw. ihres Austausches ist.

Das Konzept vom „großen Austausch“, den Renaud Camus (Le Grand Remplacement, Verlag David Reinharc, Neuilly-sur-Seine 2011; dt. Ausgabe: Revolte gegen den Großen Austausch. Verlag Antaios, Schnellroda 2016) einführte, wurde von Prof. Renato Cristin in seinem Buch I padroni del caos, („Die Herren des Chaos“, Verlag Liberlibri, Macerata 2017) weiter entfaltet. Mittels präziser Analyse zeigt der Autor, der Philosophie an der Universität Triest lehrt, daß die erwähnte Theorie darauf abzielt, die europäischen Völker durch andere Völker, durch afrikanische, arabische, asiatische, vorwiegend muslimische Völker zu ersetzen, und dadurch als konkreten, historischen Horizont das Chaos produziert. Cristin erinnert an ein Projekt der UNO von 2001, in dem ausdrücklich von der „Replacement Migration“ (damals als „Ersatzmigration“ übersetzt) die Rede ist, um dem demographischen Niedergang in Europas zu begegnen.
Die Menschenflüsse bedeuten nicht nur eine ethnische Verschiebung, sondern einen Zivilisationsumsturz, eine „Gegen-Kolonialisierung“, in der die Migranten als Träger einer hybriden Kultur oder Mestizenkultur gesehen werden, die sich der christlichen Zivilisation, die Europa aufgebaut hat, entgegensetzt. Die Zerstörung der Nationalstaaten erfolgt sowohl durch den ethnischen wie auch den kulturellen Austausch. Der kulturelle Austausch besteht in der Leugnung jeder in der europäischen, christlichen Tradition verwurzelten Identität. Der ethnische Austausch erfolgt durch die Einwanderung von Migrantenmassen, die die europäischen Völker ersetzen sollen, die sich seit Jahrzehnten durch Abtreibung und Verhütung selbst dezimiert haben. Dieser Antinatalismus ist der biologische Ausdruck des kulturellen und moralischen Selbstmordes des Westens.
Die Ergebnisse der EU-Wahlen haben jene politischen Parteien belohnt, die sich offen zu die nationalen Identitäten bekennen und sich auf sie berufen. Von besonderer Bedeutung ist der historische Wahlsieg der Lega von Matteo Salvini, die in Italien 34,3 Prozent der Stimmen erhielt. Italien war zugleich auch das Land, in der der Migrationsdruck und die Einwanderungslobby besonders massiv agierten, indem nicht nur die Bischofskonferenz aktiv wurde, sondern auch Papst Franziskus, der wie ein Anführer der politischen Linken auftrat. Die Titelseite des Wochenmagazins L’Espresso [der italienische Spiegel] vom 26. Mai zeigt Papst Franziskus mit der Maske von Zorro, den schwarzgewandeten Rächer, und nennt ihn die Stimme des „Volksprotestes“ gegen Salvini. Am 27. Mai erklärte Papst Franziskus in seiner Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2019, daß „das wahre Motto des Christen: ‚Die Letzten zuerst‘ laute und führte aus: „Es geht nicht nur um Migranten: Es geht darum, die Letzten an erste Stelle zu setzen“. Am selben Vormittag traf der Papst den Indio-Häuptling Raoni Metuktire der Kayapo vom Amazonas, um mit Blick auf die bevorstehende Amazonassynode im Oktober erneut den revolutionären Indigenismus anzufachen.

Bergoglios Theologie der Letzten ist eine offene Ermutigung für die Strategie der „Austauschmigration“. Wer genau die „Letzten“ sind, ist zwar nicht klar, klar ist aber, wer ausgetauscht werden soll durch die neue „bevorzugte Option“.
Das Evangelium fordert dazu auf, nach der Gottesliebe den Nächsten zu lieben wie sich selbst: „Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Mk 12,29–31). Der heilige Thomas von Aquin erklärt in der Summa theologica (q. 26, pars II-II) allerdings, daß die Nächstenliebe kein allgemeines und unterschiedsloses Gefühl ist. Sie kennt vielmehr eine präzise Abstufung, mit der eine „Liebesordnung“ definiert wird. Demnach muß sich die Liebe von den Nächsten zu den Fernsten abstufen. Gott gebührt der erste Platz. Er ist mehr zu lieben als der Nächste (a.2) und als wir selbst (a.3). Der Mensch hat sich selbst mehr zu lieben als den Nächsten (a.4) und unter den Nächsten sind einige mehr zu lieben als andere (a.6). Die Nächsten sind jene, von denen wir das Leben empfangen haben, und jene, denen wir das Leben weitergegeben haben: unsere Eltern und unsere Kinder. Ihnen gegenüber hat unsere Liebe für den Nächsten zu beginnen. Es ergäbe keinen Sinn, wenn wir zum Beispiel unsere Eltern aus dem Haus jagen und auf die Straße setzen würden, um Platz für Einwanderer zu schaffen.
Abgesehen davon: Die Liebe, die wir unserem Nächsten schulden, ist vor allem geistlicher Natur. Was wir mehr als alles andere wünschen sollen, ist das Seelenheil jener, die wir lieben. Lieben heißt also in erster Linie, das ewige Heil ihrer Seele zu wünschen. Gegenüber Migranten bedeutet das vor allem, ihre Bekehrung zum wahren Glauben zu wünschen. Heute gibt es in Europa aber keine Pastoral zur Evangelisierung von Migranten. Der Multikulturalismus wird vielmehr dargestellt, als sei er ein höherer Wert als die monokulturelle, christliche Identität.
Das neue Willkommens-Dogma wir zudem von derselben Gesellschaft verkündet, die unschuldigen Menschen das Leben nimmt: den ungeborenen Kindern und den alten Menschen. Erstere werden zum Tod durch Abtreibung verurteilt, letztere durch Euthanasie, ohne daß es dagegen einen wirklichen Widerstand durch die Männer der Kirche gibt. Wer sich aber empört, weil an Schulen ein Kreuz hängt, oder ein Politiker den Rosenkranz küßt, will nicht nur jede Präsenz des Christentums aus dem öffentlichen Raum verbannen, sondern das Licht des Göttlichen Rechts und des Naturrechts auslöschen, das in unseren Gewissen noch überlebt und von uns die Verteidigung des unschuldigen Menschenlebens verlangt. Wer noch über ein christliches Bewußtsein verfügt, kann gar nicht anders, als die lebendige Gegenwart des Kreuzes zu fordern, nicht nur im privaten Leben, sondern auch im öffentlichen Leben und in der kollektiven Identität der europäischen Nationen.

Wir rufen daher die Parteien auf, die am vergangenen Sonntag die Wahlen in Italien, in Ungarn, in Frankreich, in Polen und in anderen Ländern gewonnen und die Einwanderungsideologie besiegt haben, sich nicht nur allgemein und oberflächlich auf die christlichen Wurzeln zu berufen, sondern dieser Identität konkreten Ausdruck in den Institutionen und Gesetzen der EU zu verschaffen, an erster Stelle durch eine kompromißlose Verteidigung des Lebens und der Familie. Der Fall Lambert ist nach den Fällen Eluana Englaro und Alfie Evans das Beispiel für einen Kampf, der in den kommenden Monaten auszutragen sein wird. Dadurch wird zwar wegen der zu erwartenden Reaktionen das Klima vielleicht aufgeheizter und konfliktreicher, dennoch, denn heute geht es im Kampf um Leben oder Tod unserer Zivilisation.

Dieser Kampf ist mehr noch als in den Parlamenten vor allem im kulturellen Bereich auszutragen, weil es ein Kampf um die Mentalität ist. Die Wahlergebnisse haben aber unter anderem die Funktion, die tieferen Tendenzen der öffentlichen Meinung zu enthüllen.
Die Wahlergebnisse vom 26. Mai beweisen, daß es ein europäisches Volk gibt, das nicht kapituliert.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Wikicommons/Giuseppe Nardi
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