
Der sexuelle Mißbrauchsskandal belastet die Kirche und hat ihrem Ansehen sehr geschadet. Viele fragen sich, wie das nur möglich war. Einige suchen die Ursache im priesterlichen Zölibat. Die Wirklichkeit ist eine andere und noch grausamer, denn das Phänomen ist nicht spezifisch kirchlich, sondern geht weit darüber hinaus.
Der Mißbrauchsskandal scheint Kirchengegnern und Zölibatsgegnern eine Steilvorlage zu bieten. Jedenfalls wird er entsprechend genützt. Bei näherer Betrachtung wird man darin aber mehr den Mißbrauch eines Mißbrauchsskandals erkennen. Erhellendes enthüllt heute der vom Deutschlandfunk veröffentlichte Beitrag: „Kinder bei pädophilen Pflegeeltern“. Der Untertitel verdeutlicht die Schreckensmeldung noch: „Verbrechen in staatlicher Verantwortung“.
Claudia van Laak berichtet darin:
„Jahrelang haben Berliner Jugendämter Kinder zu pädophilen Pflegevätern geschickt. Die Opfer leiden bis heute unter den Missbrauchsfolgen. Die Jugendsenatorin will die Fälle aufarbeiten. Bei der Frage nach Schmerzensgeld für die Opfer stellt sich aber das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg quer.“
Beobachter wußten es bereits, aufmerksame Gläubige ahnten es zumindest. Berichte über Mißbrauchsskandale außerhalb des kirchlichen Bereichs fügen sich zu einem erschütternden Bild zusammen: der Fall Dutroux in Belgien, der Fall Savile in Großbritannien, der Skandal bei Sportvereinen, der Mißbrauchsskandal im größten Pfadfinderdachverband in den USA und natürlich der Skandal an der Odenwaldschule, einem linken Vorzeigeprojekt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und alle haben nichts mit der Kirche zu tun. Es geht nicht darum, vom Mißbrauch durch Kleriker abzulenken oder diesen zu relativieren, sondern ihn richtig einzuordnen. Es geht darum, die wirkliche Dimension des Mißbrauchsskandals zu begreifen.
Allein die genannten Skandale zeigen, daß das Ausmaß enorm war (und ist?). Darum ist die eingangs gestellte Frage noch einmal zu stellen: Wie war der sexuelle Mißbrauchsskandal in der Kirche möglich? Die nüchterne und ernüchternde Antwort darauf lautet – salopp formuliert: Weil es „alle“ machten.
Der sexuelle Mißbrauch Minderjähriger durch Erwachsene ist kein spezifisch kirchliches oder klerikales Phänomen. Bei näherem Hinsehen auf die vergangenen Jahrzehnte, besonders die 70er und 80er Jahre entsteht ein grausames Sittenbild. Sexueller Mißbrauch klammert(e) keinen Bereich aus.
Es gibt eine Vielzahl von Hinweisen und Belegen, daß im Gefolge der Sexuellen Revolution, die Motor und zugleich Teil der 68er-Bewegung war, angenommen wurde, daß demnächst auch der Sex mit Kindern legalisiert werde. Dementsprechend brachen bis dahin intakte Schutzdämme. Der inneren Enthemmung folgte die enthemmte Tat. In bestimmten Kreisen nahm die allgemeine Stimmung die Entkriminalisierung durch Änderung des Strafrechts vorweg, als sei sie bereits sicher.
Diese Entwicklung ist mitnichten auf die katholische Kirche beschränkt. Sie ist auch nicht aus ihr hervorgegangen. Die Kirche wurde vielmehr in Teilen, schwerwiegend genug, von der allgemeinen Stimmung fortgerissen. In Untersuchungen in Europa und den USA finden sich ausreichende Hinweise – um im kirchlichen Bereich zu bleiben –, daß in den späten 60er Jahren und vor allem in den 70er Jahren junge Männer in die Priesterseminare eintraten, um dort in einem „geschützten“ Rahmen Homosexualität und (homosexuelle) Pädophilie auszuleben. Der geschützte Rahmen der Priesterseminare, der die Seminaristen und Kleriker schützen sollte, kehrte sich teils in sein Gegenteil. Er wurde zum geschützten Rahmen für Sittlichkeitsdelikte. Möglich wurde dies, weil die Seminare und überhaupt die Kirche auf das Phänomen der Sexuellen Revolution und besonders ihrer radikalsten Verwerfungen, darunter Homosexualität und Kindesmißbrauch, nicht vorbereitet waren.
Der statistisch nachweisbare Rückgang von sexuellem Mißbrauch von Minderjährigen durch Kleriker seit den 90er Jahren zeigt, wie lange es dauerte, bis die Kirche sich des eingeschlichenen Phänomens bewußt wurde und zu handeln begann. Sie reagierte damit aber immer noch schneller und wirksamer als andere wie der Sportbereich und vor allem der Staat.
Dabei ist nicht zu vergessen, daß revolutionäre Entwicklungen in der Kirche Hand in Hand gingen mit außerkirchlichen Umbrüchen von revolutionären Ausmaßen. Es fehlt bisher eine fundierte Studie, die entsprechende Wechselwirkungen zwischen weltlichen und kirchlichen Ereignissen untersucht. Die Sexuelle Revolution wurde im Westen durch den Kommunisten Wilhelm Reich, den Neomarxisten Herbert Marcuse und den nicht-marxistischen Schwulen-Guru Alfred Kinsey angestoßen: nach 1945 in einer ersten Phase durch Massensexualisierung durch Verbreitung von Pornographie und ab 1960 in einer zweiten Phase mit der Anti-Baby-Pille. Die dadurch ausgelöste Promiskuität führte als nächsten Schritt zur Legalisierung der Abtreibung durch Tötung ungewollter, ungeborener Kinder einerseits und Ausbreitung von Homosexualität andererseits. Anders ausgedrückt: das erste Ziel war die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung, das zweite Ziel die Entkoppelung der Sexualität von den christlichen, sprich natürlichen Moralvorstellungen.
Mitten in diese Ereignisse hinein stieß das Zweite Vatikanische Konzil, mit dem Teile der Kirche in zunehmendem Maße die Erwartung einer Änderung der kirchlichen Sexualmoral koppelten.
Damit zurück zum Ausgangspunkt. Am 23. Mai 2019 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Leserbrief, in dem festgestellt wurde:
„Wenn man bedenkt, dass die Anzahl dieser Fälle unter dem Klerus im einstelligen Prozentbereich liegt, so bleiben doch um die 90 Prozent von unbelasteten Geistlichen.“
Als Ursache für den Mißbrauch durch Kleriker werde oft der Zölibat genannt:
„Wenn man aber den Prozentbereich im kirchlichen Bereich mit den Zahlen im Sportbereich und in den Familien vergleicht, stellt man fest, dass sich die Prozentwerte dort ebenfalls in diesem einstelligen Wert bewegen. Somit kann der Zölibat nicht die Ursache sein.“
Soweit dieser Leserbrief. Dem ist hinzuzufügen, daß die Zahlenwerte kein spezifisch kirchliches Verbrechensmilieu bestätigen, sondern ein gesamtgesellschaftliches.
Der erwähnte Bericht des Deutschlandfunks läßt auch deshalb erschaudern, weil er enthüllt, daß staatliche Stellen wie die erwähnten Jugendämter offiziell und wissentlich Kinder pädophilen Erwachsenen anvertrauten – vielmehr auslieferten. Gegen den kirchlichen Bereich läßt sich ein solcher Vorwurf nicht erheben. Es ist nicht bekannt, daß ein Papst oder ein Bischof offiziell und wissentlich so handelte. Die zurecht kritisierten Versetzungen von Klerikern von A nach B waren – wie man heute weiß – eine völlig unzulängliche Reaktion, aber keine bewußte Mißbrauchsförderung. Schon gar nicht war es amtliche Linie oder Lehre der Kirche. Rückblickend zeigt sich, daß zunächst einfach das nötige Problembewußtsein fehlte. Auch das war kein spezifisch kirchlicher, sondern ein allgemeiner Mangel.
Eine dringende Untersuchung würden in diesem Zusammenhang auch die verschiedenen Programme zur Schulsexualerziehung verlangen, vor allem eine Durchleuchtung der Autoren und die Erhebung, wie viele Pädophile und Homosexuelle es unter den Verantwortlichen für solche Programme gab (und gibt). Damit sind nicht nur die Autoren, sondern auch Politiker und Schulverantwortliche gemeint, die solche Schulsexualprogramme beschlossen haben wie jüngst der Bildungsplan 2015 in Baden-Württemberg und der Lehrplan Sexualerziehung 2016 in Hessen. An dieser Stelle sei nur der Name Helmut Kentler genannt, dessen „Wissenschaft“ noch heute Grundlage verschiedener Programme ist, die im schulischen und außerschulischen Bereich zum Einsatz kommen. Es ließe sich eine ganze Reihe weiterer Namen nennen.
Angesichts der großen Empörung über bischöfliches oder priesterliches Versagen in Mißbrauchssituationen ist auch die Frage zu stellen:
Wie groß muß erst die Verantwortung von Bildungsministern und Schulpolitikern bewertet werden, die alle Schüler eines Landes zwangsweise mit staatlicher Autorität bedenklichen Programmen aus der Feder bedenklicher Autoren ausliefern?
Nicht unerwähnt darf bleiben, daß die Kirche, bei aller Unzulänglichkeit, die noch immer gegeben ist, sich ihrer Verantwortung stellt und im Bereich der Aufarbeitung und auch der Entschädigungen aktiv geworden ist. Für die Opfer mag es freilich wenig Trost sein, aber in der Kirche geschieht zumindest etwas, was vom Staat nicht gesagt werden kann, wie erwähnte Beispiele andeuten.
In diesem Kontext zeigt sich auch, daß es im Zusammenhang mit dem Mißbrauchsskandal in der Kirche einen außerkirchlichen Empörungsreflex gibt, der zumindest bis zu einem bestimmten Grad nicht sachbezogen ist, sondern sich aus einer grundsätzlichen Ablehnung der Kirche speist. Mit anderen Worten: Die Empörung ist zumindest teilweise geheuchelt. Auch das ist in der Gesamtbeurteilung in Rechnung zu stellen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Deutschlandfunk (Screenshot)