(Rom) In seiner Ansprache zur Generalaudienz auf dem Petersplatz sprach Papst Franziskus gestern über das Fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Dabei fand er – im Vergleich zu seinen bisherigen Stellungnahmen – starke und eindringliche Worte für das Lebensrecht eines jeden Menschen, gegen die Abtreibung und gegen die Euthanasie. Auch bei dieser Gelegenheit gebrauchte er diese Begriffe nicht direkt, ließ aber im Kontext keinen Zweifel daran, was gemeint ist.
Im ersten Halbjahr seines Pontifikats schwieg Franziskus zu Lebensrechtsfragen, um dann im September 2013 in einem Interview mit der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica zu erklären, daß sie keine Priorität in seinem Pontifikat hätten. In der Folge nahm er gelegentlich zugunsten des Lebensschutzes Stellung, allerdings meist unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Das Wort „Abtreibung“ kam bereits in einigen päpstlichen Ansprachen vor, es findet sich auch in der Enzyklika Laudato si von 2015, allerdings eingebettet mit der Wirkung einer gezogenen Handbremse. Die gestrige Mittwochskatechese steht im Unterschied dazu und stellte eine Besonderheit dar, weil Papst Franziskus sich an die gesamte Öffentlichkeit wandte, und das Thema Abtreibung und Euthanasie und zahlreiche weitere mit dem Lebensrecht zusammenhängende Themen mit deutlichen Worten ansprach. Insgesamt war in den vergangenen Monaten eine stärkere Hinneigung zum Thema feststellbar.
Die deutlichen Worte fallen zeitlich mit der Vereidigung des neuen Höchstrichters in den USA, Bratt Kavanaugh, zusammen. Erstmals seit dem Abtreibungsurteil Roe gegen Wade vom 22. Januar 1973 gibt es am Obersten Gerichtshof der USA eine Mehrheit für das Lebensrecht ungeborener Kinder und gegen die Abtreibung.
Der vollständige Wortlaut der Katechese in deutscher Übersetzung:
In der Reihe der Katechesen über die Zehn Gebote betrachten wir heute das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Wir sind bereits in der zweiten Hälfte des Dekalogs, der die Beziehungen zum Nächsten betrifft; und dieses Gebot mit seiner prägnanten und kategorischen Formulierung, erhebt sich wie ein Schutzwall zur Verteidigung des Grundwertes in den menschlichen Beziehungen. Und was ist der Grundwert in den menschlichen Beziehungen? Der Wert des Lebens. Deshalb: nicht töten.
Man könnte sagen, daß all das Böse, das in der Welt geschieht, in der Verachtung des Lebens gründet. Das Leben wird angegriffen von den Kriegen, den Organisationen, die den Menschen ausbeuten – wir lesen in den Zeitungen oder sehen im Fernsehen viele Dinge –, den Spekulanten des Geschaffenen und der Wegwerfkultur und von allen Systemen, die die menschliche Existenz Nützlichkeitserwägungen unterwerfen, während eine himmelschreiende Zahl von Menschen ein menschenunwürdiges Dasein fristet. Das bedeutet, das Leben verachten, und in gewisser Weise zu töten.
Ein widersprüchlicher Ansatz erlaubt auch die Beseitigung des menschlichen Lebens im Mutterleib im Namen der Wahrung von Rechten anderer. Wie aber kann eine Handlung therapeutisch, zivil oder einfach nur menschlich sein, die das unschuldige und wehrlose Leben in seinem Aufblühen tötet? Ich frage mich: Ist es richtig, ein Menschenleben „umzulegen“, um ein Problem zu lösen? Ist es richtig, einen Killer zu engagieren, um ein Problem zu lösen? Das darf man nicht. Es ist nicht richtig, einen Menschen, wenn auch noch so klein, „umzulegen“, um ein Problem zu lösen. Das ist, als würde man einen Auftragsmörder engagieren, um ein Problem zu lösen.
Woher kommt das alles? Woraus entstehen im Grund die Gewalt und die Ablehnung des Lebens? Aus der Angst. Die Annahme des Anderen ist eine Herausforderung an den Individualismus. Denken wir zum Beispiel, wenn man feststellt, daß ein ungeborenes Leben behindert ist, auch schwer. Die Eltern brauchen in diesen dramatischen Fällen wirkliche Nähe, wirkliche Solidarität, um die Wirklichkeit zu bewältigen und die verständlichen Ängste zu überwinden. Stattdessen erhalten sie oft hastige Ratschläge, die Schwangerschaft abzubrechen. Das ist eine Art um zu sagen: „Schwangerschaftsabbruch“ bedeutet „einen umlegen“, ganz direkt.
Ein krankes Kind ist wie jeder Bedürftige der Erde, wie ein alter Mensch, der Hilfe braucht, wie viele Arme, die alleine nicht zurechtkommen: Er oder Sie, die ein Problem scheinen, sind in Wirklichkeit ein Geschenk Gottes, das mich aus der Egozentrik herausziehen kann und mich in der Liebe wachsen lassen kann. Das zerbrechliche Leben zeigt uns einen Notausgang, den Ausgang, um uns vor einer selbstbezogenen Existenz zu retten und die Freude der Liebe entdecken zu lassen. An dieser Stelle möchte ich danken, den vielen Freiwilligen danken, dem starken Ehrenamt danken. Danke.
Was veranlaßt den Menschen das Leben abzulehnen? Es sind die Götzen dieser Welt: das Geld – es ist besser, den zu beseitigen, weil er Geld kostet –, die Macht, der Erfolg. Das sind die falschen Maßstäbe, um das Leben zu bewerten. Was ist der einzige authentische Maßstab des Lebens? Das ist die Liebe, die Liebe mit der Gott sie liebt! Die Liebe mit der Gott das Leben liebt: Das ist der Maßstab. Die Liebe mit der Gott jedes Menschenleben liebt.
Deshalb: Was ist der positive Sinn des Wortes „nicht töten“? Daß Gott der „Freund des Lebens“ ist, wie wir vorhin im Buch der Weisheit gehört haben (11,24) gehört haben.
Das Geheimnis des Lebens wird uns dadurch enthüllt, wie der Sohn Gottes es behandelt hat, der Mensch wurde bis hin, daß er am Kreuz die Ablehnung, die Schwäche, die Armut und den Schmerz auf sich nahm (vgl. Joh 13,1). In jedem kranken Kind, in jedem schwachen alten Menschen, in jedem verzweifelten Migranten, in jedem zerbrechlichen und bedrohten Leben sucht Christus uns (vgl. Mt 25,34–46), er sucht unser Herz, um uns die Freude der Liebe zu erschließen.
Es lohnt sich, jedes Leben anzunehmen, weil jeder Mensch das Blut Christi wert ist (vgl. 1 Petr 1,18–19). Man kann nicht verachten, was Gott so sehr geliebt hat!
Wir müssen den Männern und Frauen der Welt sagen: Verachtet nicht das Leben! Das Leben anderer, aber auch das eigene, weil auch dafür das Gebot gilt: „Nicht töten“. Vielen Jugendlichen ist zu sagen: Verachte nicht deine Existenz! Hör auf, das Werk Gottes abzulehnen! Du bist ein Werk Gottes! Unterschätze dich nicht, verachte dich nicht durch Abhängigkeiten, die dich zerstören und dich zum Tod führen!
Niemand soll das Leben an den Täuschungen dieser Welt messen, jeder soll sich selbst annehmen und die anderen im Namen des Vaters, der uns geschaffen hat. Er ist der „Freund des Lebens“: Das ist schön, „Gott ist der Freund des Lebens“. Und wir alle sind ihm kostbar, der seinen Sohn für uns gesandt hat. „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)