Kardinal Gerhard Müller schrieb Kardinal Dominik Duka und nahm zur Antwort des Glaubensdikasteriums auf dessen Dubia bezüglich Amoris laetitia Stellung. Der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation arbeitete deutlich heraus, daß nicht nur die laut Papst Franziskus „einzig mögliche Interpretation“ von Amoris laetitia durch die Bischöfe von Buenos Aires zweideutig und zweifelhaft ist, sondern die nunmehrige Antwort des Glaubensdikasteriums noch weit schwerwiegendere Irrtümer enthält.
Als ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation kommt der Stellungnahme von Kardinal Müller besonderes Gewicht zu. Kardinal Duka hatte sich mit einer Reihe von Zweifeln (Dubia) an Rom gewandt. Grund waren die Richtlinien der Bischöfe der Kirchenprovinz Buenos Aires in Argentinien zur Auslegung des umstrittenen nachsynodalen Schreibens Amoris laetitia. Papst Franziskus hatte erklärt, die Richtlinien der argentinischen Bischöfe seien die „einzig mögliche Interpretation“ seines Schreibens. Kardinal Müller zeigt hingegen auf, daß die Richtlinien von Buenos Aires nicht nur defizitär, sondern irrtumbehaftet sind. Für die nunmehrige Antwort des Glaubensdikasteriums an Kardinal Duka gelte das aber noch viel mehr, denn das Glaubensdikasterium habe zu den Widersprüchen neue und noch schwerwiegendere hinzugefügt. Schien es bisher so, daß die Beichtväter bei der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten großzügig sein sollten, erklärte nun das Glaubensdikasterium, neuerdings unter der Leitung von Bergoglios Ziehsohn Victor Manuel Fernández, den Franziskus am 30. September zum Kardinal erhob, daß die Gläubigen gar nicht mehr des Beichtvaters bedürften, sondern sich selbst lossprechen und vor ihrem Gewissen die Zulassung zu den Sakramenten erteilen könnten. Der Beichtvater habe diese Willensentscheidung zu akzeptieren. Reue, Buße und die Absicht, nicht mehr zu sündigen, werden damit in der Frage für irrelevant erklärt. Kardinal Müller zeigt diese gravierenden Defizite in der römischen Antwort auf und widerspricht ihr energisch. Das, so der Kardinal, sei nicht Lehre der Kirche. Das Schreiben von Kardinal Müller an Kardinal Duka wurde heute vom Vatikanisten Sandro Magister publik gemacht. Hier der vollständige Wortlaut:
Eure Eminenz, lieber Bruder Dominik Duka!
Mit großer Aufmerksamkeit habe ich die „Antwort“ des Dikasteriums für die Glaubenslehre (DDF) auf Ihre Dubia zum nachsynodalen apostolischen Schreiben Amoris Laetitia („Antwort auf eine Reihe von Fragen“, im Folgenden „Antwort“) gelesen und möchte Ihnen meine Einschätzung mitteilen.
Eines der Dubia, die Sie dem DDF vorgelegt haben, betrifft die Auslegung von Amoris Laetitia, die in einem Schreiben der Bischöfe der Region Buenos Aires vom 5. September 2016 enthalten ist, wonach Geschiedenen, die in einer zweiten zivilen Lebensgemeinschaft leben, der Zugang zu den Sakramenten gewährt wird, auch wenn sie sich weiterhin als Mann und Frau verhalten ohne den Willen, ihr Leben zu ändern. Laut der „Antwort“ gehört dieser Text aus Buenos Aires zum ordentlichen päpstlichen Lehramt und wurde vom Papst selbst angenommen. In der Tat erklärte Franziskus, daß die von den Bischöfen von Buenos Aires vorgelegte Interpretation die einzig mögliche Auslegung von Amoris Laetitia sei. Die „Antwort“ zieht daraus die Konsequenz, daß man diesem Dokument von Buenos Aires die religiöse Zustimmung des Verstandes und des Willens geben muß, wie es bei anderen Texten des ordentlichen Lehramtes des Papstes geschieht (vgl. Lumen Gentium, 25,1).
In diesem Zusammenhang ist es zunächst notwendig, vom Standpunkt der allgemeinen Hermeneutik des katholischen Glaubens aus zu klären, was der Gegenstand der Zustimmung des Verstandes und des Willens ist, die jeder Katholik dem authentischen Lehramt des Papstes und der Bischöfe entgegenbringen muß. In der gesamten Lehrtradition und insbesondere in Lumen Gentium 25 betrifft diese religiöse Zustimmung die Glaubens- und Sittenlehre, die die gesamte Wahrheit der Offenbarung widerspiegelt und garantiert. Die Privatmeinungen von Päpsten und Bischöfen sind ausdrücklich vom Lehramt ausgeschlossen. Darüber hinaus widerspricht jede Form von lehramtlichem Positivismus dem katholischen Glauben, denn das Lehramt kann nicht lehren, was nichts mit der Offenbarung zu tun hat, und auch nicht, was ausdrücklich der Heiligen Schrift („norma normans non normata“), der apostolischen Tradition und früheren endgültigen Entscheidungen des Lehramtes selbst widerspricht (Dei Verbum, 10; vgl. DH 3116–3117).
Gibt es also eine religiöse Zustimmung zum Text von Buenos Aires? Aus formaler Sicht ist es bereits fragwürdig, die religiöse Zustimmung des Verstandes und des Willens zu einer theologisch zweideutigen Interpretation einer partiellen Bischofskonferenz (der Region Buenos Aires) zu verlangen, die ihrerseits eine erklärungsbedürftige Aussage von Amoris Laetitia interpretiert und deren Kohärenz mit der Lehre Christi (Mk 10,1–12) in Frage steht.
In der Tat scheint der Text von Buenos Aires zumindest mit den Lehren von Johannes Paul II. (Familiaris Consortio, 84) und Benedikt XVI. (Sacramentum Caritatis, 29) in Widerspruch zu stehen. Und auch wenn die „Antwort“ dies nicht sagt, muß den Dokumenten des ordentlichen Lehramtes dieser beiden Päpste auch die religiöse Zustimmung des Verstandes und des Willens gegeben werden.
In der „Antwort“ wird jedoch behauptet, der Text von Buenos Aires biete eine Auslegung von Amoris Laetitia in Kontinuität mit früheren Päpsten. Ist dies wirklich der Fall?
Werfen wir zunächst einen Blick auf den Inhalt des Textes von Buenos Aires, der in der „Antwort“ zusammengefaßt ist. Der entscheidende Absatz der „Antwort“ betrifft das dritte Dubium. Nach der Feststellung, daß bereits Johannes Paul II. und Benedikt XVI. den Zugang zur Kommunion erlaubten, wenn sich Geschiedene und Wiederverheiratete zu einem Leben in Enthaltsamkeit verpflichten, wird die Neuheit von Franziskus angedeutet:
„Franziskus hält an dem Vorschlag der vollen Enthaltsamkeit für die [zivil] wiederverheirateten Geschiedenen in einer neuen Ehe fest, räumt aber ein, daß es in der Praxis Schwierigkeiten geben kann, und erlaubt daher in bestimmten Fällen, nach angemessener Unterscheidung, die Spendung des Sakraments der Versöhnung, auch wenn man der von der Kirche vorgeschlagenen Enthaltsamkeit nicht treu bleibt“ [im Text unterstrichen].
Die Formulierung „auch wenn man der von der Kirche vorgeschlagenen Enthaltsamkeit nicht treu bleibt“ kann auf zwei Arten interpretiert werden. Die erste: Die Geschiedenen versuchen, in Enthaltsamkeit zu leben, aber angesichts der Schwierigkeiten und aufgrund menschlicher Schwäche gelingt es ihnen nicht. In diesem Fall könnte die „Antwort“ in Kontinuität mit der Lehre des heiligen Johannes Paul II. stehen. Der zweite Fall: Die Geschiedenen akzeptieren nicht, in Enthaltsamkeit zu leben, und versuchen es angesichts der Schwierigkeiten, auf die sie stoßen, nicht einmal (es besteht also nicht die Absicht, sich zu ändern). In diesem Fall käme es zu einem Bruch mit dem früheren Lehramt.
Alles scheint darauf hinzudeuten, daß sich die „Antwort“ auf die zweite Möglichkeit bezieht. In Wirklichkeit wird diese Zweideutigkeit im Text von Buenos Aires aufgelöst, der den Fall, in dem zumindest versucht wird, in Enthaltsamkeit zu leben (Nr. 5), von anderen Fällen unterscheidet, in denen dies nicht der Fall ist (Nr. 6). Für die letztgenannten Fälle stellen die Bischöfe von Buenos Aires fest: „In anderen, komplexeren Fällen und wenn es nicht möglich war, eine Nichtigkeitserklärung zu erwirken, kann die erwähnte Option [sich um ein Leben in Enthaltsamkeit zu bemühen] in der Tat nicht praktikabel sein“.
Es stimmt, daß dieser Satz eine weitere Unklarheit enthält, da es heißt: „und wenn es nicht möglich war, eine Nichtigkeitserklärung zu erwirken“. Einige, die darauf hinweisen, daß der Text nicht sagt: „und wenn die Ehe gültig war“, haben diese komplexen Umstände auf jene Fälle beschränkt, in denen, selbst wenn die Ehe aus objektiven Gründen nichtig ist, diese Gründe vor dem kirchlichen Gericht nicht nachgewiesen werden können. Wie wir sehen, ist die hermeneutische Frage nicht gelöst, obwohl Papst Franziskus das Dokument von Buenos Aires als die einzig mögliche Interpretation von Amoris Laetitia dargestellt hat, denn es gibt immer noch unterschiedliche Interpretationen des Dokuments von Buenos Aires. Letztlich läßt sich sowohl in der „Antwort“ als auch im Text von Buenos Aires ein Mangel an Präzision in der Formulierung feststellen, der alternative Interpretationen zuläßt.
Aber selbst wenn man diese Ungenauigkeiten beiseite läßt, scheint klar zu sein, was sowohl die „Antwort“ als auch der Text von Buenos Aires bedeuten. Man könnte es wie folgt formulieren: Es gibt besondere Fälle, in denen es möglich ist, einem Getauften, der nach dem Eingehen einer sakramentalen Ehe sexuelle Beziehungen zu einer Person unterhält, mit der er eine zweite Verbindung eingegangen ist, nach einer Zeit der Unterscheidung die sakramentale Absolution zu erteilen, ohne daß der Getaufte den Entschluß fassen muß, diese Beziehungen nicht fortzusetzen, weil er entweder erkennt, daß dies für ihn nicht möglich ist, oder weil er erkennt, daß dies nicht Gottes Wille für ihn ist.
Prüfen wir zunächst, ob diese Aussage mit den Lehren von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. übereinstimmen kann. Das Argument der „Antwort“, daß Johannes Paul II. bereits einige dieser Geschiedenen zur Kommunion zugelassen habe und Franziskus daher nur einen Schritt in dieselbe Richtung mache, ist nicht stichhaltig. Die Kontinuität liegt nämlich nicht in der Tatsache, daß einige bereits zur Kommunion hätten zugelassen werden können, sondern in dem Kriterium dieser Zulassung. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. erlauben Geschiedenen, die aus schwerwiegenden Gründen zusammenleben, ohne sexuelle Beziehungen zu haben, die Kommunion zu empfangen. Aber sie erlauben es nicht, wenn diese Personen gewohnheitsmäßig sexuelle Beziehungen haben, denn hier liegt eine objektiv schwere Sünde vor, in der man verharren will und die, soweit sie das Ehesakrament berührt, einen öffentlichen Charakter annimmt. Der Bruch zwischen der Lehre des Dokuments von Buenos Aires und dem Lehramt von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wird deutlich, wenn man das Wesentliche betrachtet, das, wie gesagt, das Kriterium für die Zulassung zu den Sakramenten ist.
Um es deutlicher zu machen, stellen wir uns vor, daß ein zukünftiges DDF-Dokument absurderweise ein ähnliches Argument für die Erlaubnis der Abtreibung in einigen Fällen vorschlägt, etwa so: „Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben die Abtreibung in einigen Fällen bereits erlaubt, zum Beispiel wenn die Mutter Gebärmutterkrebs hat und dieser Krebs behandelt werden muß; jetzt ist die Abtreibung in einigen anderen Fällen erlaubt, zum Beispiel bei Mißbildungen des Fötus, in Kontinuität zu dem, was die vorherigen Päpste gelehrt haben“. Man sieht, wie falsch dieses Argument ist. Der Fall einer Operation bei Gebärmutterkrebs ist möglich, weil es sich nicht um eine direkte Abtreibung handelt, sondern um eine unbeabsichtigte Folge einer Heilungsmaßnahme an der Mutter (gemäß dem sogenannten Prinzip der doppelten Wirkung). Es gäbe keine Kontinuität, sondern eine Diskontinuität zwischen den beiden Lehren, da die letztere den Grundsatz leugnet, der für die erste Position maßgeblich war und jede direkte Abtreibung verurteilt hat.
Die Schwierigkeit der Lehre der „Antwort“ und des Textes von Buenos Aires besteht jedoch nicht nur darin, daß sie nicht mit der Lehre von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. übereinstimmt. Diese Lehre steht in der Tat im Gegensatz zu anderen Lehren der Kirche, die nicht nur Aussagen des ordentlichen Lehramtes sind, sondern endgültig als zum Glaubensgut gehörend gelehrt wurden.
So lehrt das Konzil von Trient die folgenden Wahrheiten: daß das Bekennen aller schweren Sünden im Sakrament der Beichte für das Heil notwendig ist (DH 1706–1707); daß das Leben in einer zweiten Verbindung als Ehemann und Ehefrau, während das eheliche Band besteht, eine schwere Sünde des Ehebruchs ist (DH 1807); daß eine Bedingung für die Erteilung der Absolution die Reue des Pönitenten ist, die die Reue über die Sünde und die Absicht, nicht mehr zu sündigen, einschließt (DH 1676; 1704); daß es für den Getauften nicht unmöglich ist, die göttlichen Gebote zu beachten (DH 1536,1568). Alle diese Behauptungen erfordern nicht nur eine religiöse Zustimmung, sondern müssen mit festem Glauben geglaubt werden, da sie in der Offenbarung enthalten sind, oder zumindest akzeptiert und fest geglaubt werden, da sie von der Kirche in einer endgültigen Weise vorgelegt werden. Mit anderen Worten, es geht nicht mehr um die Wahl zwischen zwei Aussagen des ordentlichen Lehramtes, sondern um die Akzeptanz von konstitutiven Elementen der katholischen Lehre.
Das Zeugnis von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und dem Konzil von Trient wird letztlich auf das klare Zeugnis des Wortes Gottes zurückgeführt, dem das Lehramt dient. Jede seelsorgerische Betreuung von Katholiken, die nach einer zivilen Scheidung in zweiter Ehe leben, muß sich auf dieses Zeugnis stützen, denn nur der Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes kann dem Heil der Menschen dienen. Jesus sagt: „Wer seine Frau verstößt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch mit ihr; und wenn sie, nachdem sie ihren Mann verstoßen hat, einen anderen heiratet, begeht sie Ehebruch“ (Mk 10,11f). Und die Konsequenz ist: „Weder Hurer noch Ehebrecher […] werden das Reich Gottes erben“ (1 Kor 6,10). Das bedeutet auch, daß diese Geschiedenen nicht würdig sind, die Kommunion zu empfangen, bevor sie die sakramentale Absolution erhalten haben, die wiederum die Reue über die Sünden und den Willen zur Besserung voraussetzt. Hier fehlt es nicht an Barmherzigkeit, sondern ganz im Gegenteil, denn die Barmherzigkeit des Evangeliums besteht nicht darin, die Sünde zu dulden, sondern die Herzen der Gläubigen zu erneuern, damit sie nach der Fülle der Liebe leben, die Christus gelebt und uns zu leben gelehrt hat.
Daraus folgt, daß diejenigen, die die Auslegung von Amoris Laetitia, wie sie der Text von Buenos Aires und die „Antwort“ bieten, ablehnen, nicht des Dissenses bezichtigt werden können. Ihr Problem ist nicht, daß sie einen Gegensatz zwischen dem, was sie verstehen, und dem, was das Lehramt lehrt, sehen, sondern daß sie einen Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Lehren desselben Lehramtes sehen, von denen eine endgültig bestätigt wurde. Der heilige Ignatius von Loyola lädt uns ein zu glauben, daß das, was wir als weiß ansehen, schwarz ist, wenn die hierarchische Kirche dies vorschreibt. Aber der heilige Ignatius fordert uns nicht auf, unter Berufung auf das Lehramt zu glauben, daß das, was das Lehramt selbst uns zuvor in definitiver Weise als weiß gelehrt hat, schwarz ist.
Die Schwierigkeiten, die der Text der „Antwort“ aufwirft, hören damit nicht auf. In der Tat geht die „Antwort“ in zwei schwerwiegenden Punkten über das hinaus, was in Amoris Laetitia und dem Dokument von Buenos Aires steht.
Der erste Punkt berührt die Frage: Wer entscheidet über die Möglichkeit der Erteilung der sakramentalen Absolution an Geschiedene in zweiter Ehe am Ende des Unterscheidungsprozesses? In dem Dubium, das Sie, lieber Bruder, dem DDF vorgelegt haben, schlagen Sie mehrere Alternativen vor, die Ihnen möglich erscheinen: Es könnte der Pfarrer sein, der Bischofsvikar, der Pönitentiar.… Die in der „Antwort“ genannte Lösung muß für Sie eine echte Überraschung gewesen sein, die Sie sich nicht einmal vorstellen konnten. In der Tat muß nach dem DDF die endgültige Entscheidung von jedem Gläubigen nach seinem Gewissen getroffen werden (Nr. 5). Daraus folgt, daß der Beichtvater lediglich dieser Gewissensentscheidung gehorcht. Es fällt auf, daß es heißt, der Mensch müsse sich „vor Gott stellen und ihm sein Gewissen mit seinen Möglichkeiten und Grenzen offenbaren“ (ebd.). Wenn das Gewissen die Stimme Gottes im Menschen ist (Gaudium et Spes, 36), dann ist nicht klar, was „sein Gewissen vor Gott stellen“ bedeutet. Es scheint, daß das Gewissen hier eher die private Sichtweise jedes einzelnen ist, die dann vor Gott gestellt wird.
Aber lassen wir diesen Punkt beiseite und konzentrieren wir uns auf die überraschende Aussage des DDF-Textes. Es sind die Gläubigen selbst, die entscheiden, ob sie die Absolution erhalten oder nicht, und der Priester muß diese Entscheidung nur akzeptieren! Wenn dies generell für alle Sünden gilt, dann verliert das Sakrament der Versöhnung seine katholische Bedeutung. Es ist nicht mehr die demütige Bitte eines Menschen um Vergebung, der vor einem barmherzigen Richter steht, der die Autorität Christi selbst empfängt, sondern es ist die Lossprechung von sich selbst, nachdem man sein eigenes Leben erforscht hat. Dies ist nicht weit entfernt von einer protestantischen Sicht des Sakraments, die von Trient verurteilt wurde, indem sie auf der Rolle des Priesters als Richter in der Beichte besteht (vgl. DH 1685; 1704; 1709). Das Evangelium sagt in bezug auf die Schlüsselgewalt: „Was ihr auf Erden löst, wird im Himmel gelöst sein“ (Mt 16,19). Aber das Evangelium sagt nicht: „Was die Menschen nach ihrem Gewissen beschließen, daß du auf Erden lösen sollst, wird im Himmel gelöst sein“. Es ist erstaunlich, daß das DDF dem Heiligen Vater während einer Audienz einen Text zur Unterschrift vorlegen konnte, der einen solchen theologischen Irrtum enthält und damit die Autorität des Heiligen Vaters kompromittiert.
Die Überraschung ist umso größer, als die „Antwort“ versucht, sich auf Johannes Paul II. zu stützen, um zu argumentieren, daß die Entscheidung dem einzelnen Gläubigen obliegt, wobei sie die Tatsache verschweigt, daß der zitierte Text von Johannes Paul II. der „Antwort“ direkt entgegensteht. In der Tat zitiert die „Antwort“ Ecclesia de Eucharistia, 37b, wo es in bezug auf den Empfang der Eucharistie heißt: „Das Urteil über den Gnadenstand steht natürlich nur dem Betreffenden zu, da es eine Gewissensentscheidung ist“. Aber sehen wir uns den später von Johannes Paul II. hinzugefügten Satz an, der in der „Antwort“ nicht zitiert wird und der sich als Hauptgedanke dieses Absatzes aus Ecclesia de Eucharistia herausstellt: „In Fällen jedoch, in denen ein äußeres Verhalten ernsthaft, offenkundig und dauerhaft gegen die sittliche Norm verstößt, kann die Kirche in ihrer pastoralen Sorge um die gute Ordnung der Gemeinschaft und um die Achtung des Sakraments nicht umhin, sich in Frage gestellt zu fühlen. Die Norm des Codex des kanonischen Rechts über die Nichtzulassung zur eucharistischen Gemeinschaft derjenigen, die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren, bezieht sich auf diese Situation der offenkundigen moralischen Untauglichkeit“ (ebd.). Wie man sieht, hat das DDF die Prämisse des Textes von Johannes Paul II. ausgewählt, aber die Hauptschlußfolgerung weggelassen, die der These des DDF entgegensteht. Wenn das DDF eine Lehre präsentieren will, die im Gegensatz zu der des heiligen Johannes Paul II. steht, dann sollte sie zumindest nicht versuchen, den Namen und die Autorität des heiligen Papstes zu benutzen. Es wäre besser, ehrlich einzugestehen, daß Johannes Paul II. nach Ansicht des DDF mit dieser Lehre seines Lehramtes falsch lag.
Die zweite Neuerung in der „Antwort“ besteht darin, daß jede Diözese ermutigt wird, ihre eigenen Leitlinien für diesen Unterscheidungsprozeß zu erstellen. Daraus ergibt sich eine unmittelbare Schlußfolgerung: Wenn die Richtlinien unterschiedlich sind, wird es passieren, daß Geschiedene die Eucharistie nach den Richtlinien einer Diözese empfangen können, aber nicht nach denen einer anderen. Die Einheit der katholischen Kirche bedeutete von Anfang an die Einheit beim Empfang der Eucharistie: Da wir dasselbe Brot essen, sind wir derselbe Leib (vgl. 1 Kor 10,17). Wenn ein katholischer Gläubiger die Kommunion in einer Diözese empfangen kann, kann er sie in allen Diözesen empfangen, die in Gemeinschaft mit der Weltkirche stehen. Das ist die Einheit der Kirche, die auf der Eucharistie beruht und in ihr zum Ausdruck kommt. Daher ist die Tatsache, daß eine Person die Kommunion in einer Ortskirche empfangen kann und in einer anderen nicht, eine genaue Definition des Schismas. Es ist undenkbar, daß die „Antwort“ des DDF so etwas fördern möchte, aber dies wären die wahrscheinlichen Auswirkungen, wenn man sich ihre Lehre zu eigen macht.
Was ist der Ausweg für diejenigen, die der katholischen Lehre treu bleiben wollen, angesichts all dieser Schwierigkeiten in der „Antwort“ des DDF? Ich habe bereits gesagt, daß der Text von Buenos Aires und der Text der „Antwort“ nicht präzise sind. Sie sagen nicht klar, was sie meinen, und lassen daher andere Interpretationen offen, auch wenn sie unwahrscheinlich sind. Dies läßt Raum für Zweifel an ihrer Auslegung. Andererseits ist die Art und Weise, wie die „Antwort“ die Zustimmung des Heiligen Vaters festhält, nämlich mit einer einfachen datierten Unterschrift am Fuß der Seite, ungewöhnlich. Die übliche Formulierung wäre gewesen: „Der Heilige Vater billigt den Text und ordnet seine Veröffentlichung an (oder erlaubt sie)“, aber nichts davon erscheint in dieser schlecht redigierten „Note“. Dies eröffnet einen weiteren Zweifel an der Autorität der „Antwort“.
Diese Fragen erlauben uns, ein neues Dubium aufzuwerfen, entsprechend dem, was ich zuvor formuliert habe: Gibt es Fälle, in denen es möglich ist, einem Getauften, der sexuelle Beziehungen zu einer Person unterhält, mit der er in einer zweiten Verbindung lebt, nach einer Zeit der Unterscheidung die sakramentale Absolution zu erteilen, wenn dieser Getaufte nicht den Wunsch hat, eine Entscheidung zu treffen, diese Beziehungen nicht fortzusetzen?
Lieber Bruder, solange dieses Dubium nicht geklärt ist, bleibt die Autorität der „Antwort“ auf Ihre Dubia und die Autorität des Briefes von Buenos Aires in der Schwebe, da diese Texte Ungenauigkeiten enthalten. Dies läßt einen kleinen Spielraum für die Hoffnung, daß es eine negative „Antwort“ auf dieses Dubium geben wird. In diesem Fall wären die Hauptnutznießer nicht die Gläubigen, die ohnehin nicht verpflichtet wären, eine positive „Antwort“ auf das Dubium als Widerspruch zur katholischen Lehre zu akzeptieren. Der Hauptnutznießer wäre die Autorität, die auf das Dubium antwortet, die unversehrt bliebe, da sie die Gläubigen nicht mehr um die religiöse Zustimmung des Verstandes und des Willens zu Wahrheiten bitten würde, die der katholischen Lehre widersprechen.
In der Hoffnung, daß diese Erläuterung die Bedeutung der „Antwort“, die Sie von dem DDF erhalten haben, klärt, sende ich Ihnen meine brüderlichen Grüße in Domino Iesu,
+ Card. Gerhard Ludwig Müller, Rom
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/OnePeterFive