(Rom) Im Alter von 95 Jahren ist gestern im Vatikan Achille Kardinal Silvestrini verstorben. Der in der Nähe von Ravenna geborene Purpurträger war von 1971–1988 für die vatikanische Diplomatie verantwortlich. 2000 schied er altersbedingt aus allen aktiven Ämtern aus. Vor allem war er einer der Vordenker einer Gruppe von progressiven Kardinälen, die zuerst Carlo Maria Kardinal Martini und dann Jorge Mario Kardinal Bergoglio auf den Stuhl Petri bringen wollte. Mit Silvestrini ist ein weiteres Mitglied der ominösen Geheimgruppe von Sankt Gallen aus dieser Welt abberufen worden.
Jahrzehntelang war Silvestrini Dominus der Villa Nazareth, eines 1945 von Domenico Kardinal Tardini gegründeten Universitätskollegs, das zu einem progressiven Dreh- und Angelpunkt in der Kirche wurde. Student dort war auch Giuseppe Conte, der bisherige und wahrscheinlich auch künftige, Ministerpräsident von Italien. Seit mehreren Jahren sitzt er im wissenschaftlichen Beirat des Kollegs. Dadurch erklärt sich, warum ein bestimmter Teil der Kirche nicht erst in der aktuellen Regierungskrise Sympathie für den parteilosen Ökonomen zeigt, obwohl die bisherige Regierung aus Fünfsternebewegung und Lega, der auch schon Conte vorstand, abgelehnt wurde.
Silvestrini gehörte unter den Vatikandiplomaten zum Romagna-Clan (Gruppe der „Romagna-Hügel“), der auch die Kardinäle Amleto Cicognani, Gaetano Cicognani, Auelio Sabattini, Dino Monduzzi, Edoardo Menichelli, Luigi Bettazzi und Pio Laghi angehörten. Diese Gruppe war viele Jahre sehr einflußreich an der Römischen Kurie und stand an der Seite von Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli und dessen „Ostpolitik“ für ein Agreement mit dem kommunistischen Ostblock.
Silvestrini wurde deshalb, obwohl nie namentlich erwähnt, zur Zielscheibe des Buches „Via col vento in Vaticano“ (Vom Winde verweht im Vatikan), das 1999 für Aufsehen sorgte. Es handelte sich um die anonyme Anklage interner Machtkämpfe an der Kurie, die unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde, in Wirklichkeit von Msgr. Luigi Marinelli stammte. Marinelli hatte sein halbes Leben an der Kurie verbracht. Als er in Pension ging, schrieb er das Buch. Schnell wurde er als Urheber „enttarnt“ und sollte sich vor der Rota Romana verantworten. Wenige Monate nach der Buchveröffentlichung starb er jedoch im Oktober 2000. Das Buch selbst wurde zum Verkaufsschlager.
Marinelli wollte die Kirche weder bloßstellen noch angreifen, sondern ihre Reinigung erreichen, indem er den Verrat, die Machtspiele und das Wirken von Freimaurerlogen im Vatikan enthüllte. Der Autor schrieb deshalb:
„Gott erniedrigt die Kirche, um sie dann zu erheben.“
Den Romagna Clan, dem Silvestrini angehörte, bezeichnete Marinelli als „freimaurerähnlichen“ Zusammenschluß zur Eroberung von Machtpositionen. Silvestrinis Karriere schien, so der Autor, nur einmal ernsthaft gefährdet – allerdings nur kurzzeitig –, als Albino Kardinal Luciani, der Patriarch von Venedig, 1978 zum Papst gewählt wurde. Im Gegensatz zum kurz darauf gewählten Polen Karol Wojtyla war Luciani über die Kirche in Italien und den Vatikan sehr gut im Bilde.
Wie in der Ostpolitik positionierte sich Silvestrini auch insgesamt politisch links. Eines der Instrumente seiner politischen Aktivitäten war die 1980 von ihm gegründete Stiftung Sacra Famiglia di Nazareth, deren Präsident er war. Er förderte den Linkskatholiken Romano Prodi aus der roten Emilia-Romagna. Prodi gehörte den Christdemokraten an, trat aber für eine Allianz mit der politischen Linken ein – und brachte es damit 1996 und 2006 zum italienischen Ministerpräsidenten und von 1999 bis 2004 zum Präsidenten der EU-Kommission.
Dementsprechend war Silvestrini sowohl gegen Berlusconi als auch gegen die Lega. Parallel zeigte sich der Kardinal zu ethischen, auch bioethischen Fragen gesprächsbereit. So unterstützte er in den vergangenen Jahren die stufenweise Anerkennung der „Homo-Ehe“.
Während der doppelten Familiensynode, 2014/2015, die zur teilweisen Anerkennung von Ehebruch und Scheidung führte, war Villa Nazareth das Hauptquartier einiger Synodalen, die für einen Paradigmenwechsel in der Morallehre eintreten. Unter ihnen waren die Kardinäle Walter Kasper, Christoph Schönborn und Edoardo Menichelli.
Das von Kardinal Silvestrini geleitete Kolleg war auch in der von Papst Franziskus gewollten Annäherung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Volksrepublik China aktiv. Der in der Ostpolitik erfahrene Kardinal wußte sich in „Neuen Ostpolitik“ schnell zu orientieren. Das Ergebnis war das im September 2018 zwischen dem Vatikan und Peking unterzeichnete Geheimabkommen. Silvestrini, stets gut informiert, wurde zwar nicht mehr selbst aktiv. Das übernahm ein anderer einflußreicher Kurienvertreter des Romagna Clans, Msgr. Claudio Maria Celli.
Celli war es, der den romtreuen Untergrundbischöfen mitteilte, daß Papst Franziskus ihren Rücktritt wünscht, um Platz zu machen für regimehörige, von den Kommunisten eingesetzte Bischöfe.
Celli fädelte auch die ersten beiden Bischofsernennungen und Weihen ein, die in dieser Woche in der Volksrepublik China gemäß dem Geheimabkommen erfolgten. Zudem soll er sich – als guter Diplomat stets im Hintergrund tätig – für das Zustandekommen einer neuen Linksregierung in Italien aus Fünfsternebewegung (M5S) und Linksdemokraten (PD) unter der Führung von Giuseppe Conte, dem Schützling Silvestrinis, eingesetzt haben. Daß Conte den Auftrag zur Bildung einer vom Brüsseler Establishment gewünschten, EU-freundlichen Regierung unter Ausschluß der Lega „an seinem Todestag akzeptierte, hätte Silvestrini sicher gefreut“, so die Tageszeitung La Verità heute.
Aus der Villa Nazareth stammt gewissermaßen auch der amtierende Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, der dort einige Zeit geistlicher Assistent der Studenten war.
Mehrere Jahrzehnte war Villa Nazareth ein Zentrum der innerkirchlichen Opposition gegen die Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Mit der Wahl von Papst Franziskus wechselten die Vorzeichen. Franziskus ließ es nicht an Aufmerksamkeit missen: Mindestens zweimal empfing er mit Silvestrini die Vertreter der Villa Nazareth, zuletzt am 15. Dezember 2018. Kardinalstaatssekretär Parolin nahm in den vergangenen Jahren als Redner an mindestens zwei Tagungen von Silvestrini teil.
Der französische Journalist Nicolas Diat zitiert in seinem 2014 erschienenen Buch über den Amtsverzicht von Benedikt XVI. einen ungenannten „lateinamerikanischen Kardinal“:
„Am Abend der Wahl [von Benedikt XVI. im Jahr 2005] bin ich in der Nähe von St. Peter Kardinal Silvestrini begegnet. Er trug einen blinden Zorn in sich. […] Er war überzeugt, daß Ratzinger nur ein Übergangspapst sein werde. Für ihn und für andere Prälaten war Benedikt XVI. die Verneinung aller Reformbestrebungen, die Antithese von dem, wofür er in seinem Leben gekämpft hatte.“
Bestätigt wird das durch die Enthüllungen zum Verlauf des Konklaves von 2005, die gegenüber dem damaligen Vatikanisten des TG2 (RAI2), Lucio Brunelli, gemacht wurden. Brunelli, heute Chef von TV2000, dem Fernsehsender der Italienischen Bischofskonferenz, veröffentlichte die ihm zugespielten Enthüllungen in der linken, geopolitischen Zeitschrift Limes.
Eine Rekonstruktion der Ereignisse findet sich auch an anderer Stelle, etwa 2009 im Buch über die „Bekenntnisse eines Kardinals“ von Oliver Le Gendre. Demnach habe Kardinal Silvestrini versucht, damals bereits 81 Jahre alt und nicht mehr wahlberechtigt, mit einer organisierten Aktion, die Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst zu verhindern. Silvestrini war aus der Sixtinischen Kapelle ausgeschlossen, verfügte aber noch über viele Kontakte und beträchtlichen Einfluß. Er betätigte sich als organisatorischer Kopf einer Gruppe progressiver Kardinäle, die den selbsterklärten „Antepapa“ und damaligen Erzbischof von Mailand, Carlo Maria Kardinal Martini SJ, zum Nachfolger von Papst Johannes Paul II. küren wollte. Als sich dies als aussichtslos erwies, wurden die Stimmen auf einen anderen Jesuiten, Jorge Mario Kardinal Bergoglio, umgelenkt. Gewählt wurde schließlich doch Kardinal Ratzinger, der den Namen Benedikt XVI. annahm.
Nach dem Konklave wurde in der Zeitschrift von Villa Nazareth ohne nähere Angaben das Foto eines vertraulichen Vorbereitungstreffens veröffentlicht. Der traditionsverbundene, französische Priester Claude Barthe machte 2009 auf das Treffen von „acht Anti-Ratzinger-Kardinälen“ aufmerksam.
Neben Silvestrini war das der Erzbischof von Mecheln-Brüssel, Kardinal Danneels, der – offensichtlich so verärgert über die Wahl Ratzingers – die traditionelle Einladung des neuen Papstes zum Essen ausschlug. Weiters waren dabei: Kardinal Backis, damals Erzbischof von Wilna, die deutschen Kardinäle Kasper und Lehmann, Kardinal Martini, der Brite Murphy‑O’Connor, Erzbischof von Westminster, und „der Franzose Kardinal Tauran, damals Beauftragter der Vatikanbibliothek, von dem niemand wußte, nicht einmal er selbst, was er dort eigentlich machte“.
Heute weiß man, durch die Offenherzigkeit von Kardinal Danneels im Jahr 2015, daß das Foto Mitglieder der damals noch unbekannten, innerkirchlichen Geheimgruppe von Sankt Gallen zeigt. Eine von Kardinal Martini in den 90er Jahren gegründete, geheime Oppositionsgruppe, die das Pontifikat von Johannes Paul II. boykottieren und sabotieren sollte.
Nico Spuntoni von La Nuova Bussola Quotidiana nennt Silvestrini sogar den „Regisseur der Gruppe von Sankt Gallen”. Ähnliches bestätigt auf der diametral entgegengesetzten Seite Maria Antonietta Calabrò von der linken Huffington Post, wenn sie Silvestrini als „entschiedenen, auch öffentlichen Gegner von Ratzinger“ bezeichnet.
Am kommenden 13. Oktober wäre Silvestrini 96 geworden.
Requiescat in pace.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)