Israels Verantwortung und die großen strategischen Bumerangs des 20. Jahrhunderts

Man darf niemals das Böse tun, um Gutes zu erreichen


Israel und die Hamas
Israel und die Hamas

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Unter den vie­len Ankla­gen, die gegen den Staat Isra­el erho­ben wer­den, fin­det sich auch jene, er habe in den 1980er Jah­ren die Ent­ste­hung der Hamas „mit­ver­ur­sacht“. Dar­aus wird gefol­gert, man müs­se sich von dem Krieg Isra­els gegen die Hamas distan­zie­ren – denn zwi­schen dem Ter­ro­ris­mus und jenem, der ihn her­vor­ge­bracht habe, bestehe letzt­lich kein wesent­li­cher Unterschied.

Hier ste­hen wir vor einer histo­ri­schen Sim­pli­fi­zie­rung, die – wie alle Irr­tü­mer – einen wah­ren Kern ent­hält. Und von eben die­sem wah­ren, lehr­haf­ten Kern gilt es auszugehen.

Das zugrun­de­lie­gen­de Prin­zip lau­tet: Man darf nie­mals das Böse tun, um Gutes zu errei­chen. Das, was Tho­mas von Aquin die per­fi­dia in bel­lo – die Falsch­heit im Krieg – nennt (Sum­ma Theo­lo­giae, II-IIae, q. 40, a. 3), ist von all jenen zu mei­den, die, wenn schon nicht das christ­li­che, so doch zumin­dest das natür­li­che Sit­ten­ge­setz ach­ten wollen.

Das Böse führt näm­lich nie­mals zum Guten – im Gegen­teil: Nach dem Prin­zip der Hete­ro­ge­ne­se der Zwecke bewirkt es meist genau das Gegen­teil des­sen, was es ursprüng­lich zu errei­chen vorgibt.

Das 20. Jahr­hun­dert – ein Zeit­al­ter gro­ßer Krie­ge und gro­ßer Täu­schun­gen – bie­tet zahl­rei­che Bei­spie­le für eben die­se Hete­ro­ge­ne­se der Zwecke, oder, wenn man so will: für poli­ti­sche „Bume­rangs“ – Ent­schei­dun­gen, die als genia­le tak­ti­sche Züge gedacht waren, am Ende aber jene tra­fen, die sie aus­ge­löst hatten.

Das bekann­te­ste Bei­spiel ist der soge­nann­te „plom­bier­te Zug“, mit dem Lenin im April 1917 von der Schweiz nach Petro­grad zurück­ge­bracht wur­de. Um das Zaren­reich zu desta­bi­li­sie­ren und zum Aus­schei­den aus dem Ersten Welt­krieg zu bewe­gen, orga­ni­sier­te der reichs­deut­sche Gene­ral­stab die Rück­kehr des bol­sche­wi­sti­schen Exi­lan­ten und sei­ner Mit­strei­ter. Zunächst schien das Kal­kül auf­zu­ge­hen: Durch Lenins Okto­ber­re­vo­lu­ti­on kam es 1918 zum Ver­trag von Brest-Litowsk, der den Krieg im Osten been­de­te und der deut­schen Armee die Ver­le­gung von 35 Divi­sio­nen an die West­front ermöglichte.

Doch wie Gene­ral Erich Luden­dorff selbst spä­ter ein­räum­te, hat­te man mit Lenin einen „anstecken­den Bazil­lus“ ein­ge­schleust: Die bol­sche­wi­sti­sche Revo­lu­ti­on blieb nicht an der rus­si­schen Gren­ze ste­hen. Die deut­schen Gene­rä­le, so der Histo­ri­ker Sean McMee­kin, „dach­ten, Lenin als bio­lo­gi­sche Waf­fe gegen Russ­land ein­set­zen zu kön­nen, begrif­fen jedoch nicht, daß die von ihnen ver­brei­te­te Krank­heit schließ­lich auch sie selbst befal­len wür­de“ (The Rus­si­an Revo­lu­ti­on: A New Histo­ry, Basic Books, 2017, S. 130). Das deut­sche Kai­ser­reich zer­brach, die von Ber­lin erhoff­te Ord­nung in Mit­tel­ost­eu­ro­pa löste sich auf – und der von Mos­kau aus­ge­hen­de Kom­mu­nis­mus ent­flamm­te die Welt. Die Waf­fe, die Deutsch­land expor­tiert hat­te, um den Krieg zu gewin­nen, wur­de zum ideo­lo­gi­schen Feind glo­ba­len Ausmaßes.

Unmit­tel­bar nach Kriegs­en­de ver­such­ten die Sie­ger­mäch­te, Euro­pas Sicher­heit durch den Ver­trag von Ver­sailles (1919) abzu­si­chern – und beleg­ten Deutsch­land mit äußerst har­ten Bedin­gun­gen. Die­se Straf­maß­nah­men soll­ten einen deut­schen Wie­der­auf­stieg ver­hin­dern, führ­ten jedoch zum Gegen­teil: Ernied­ri­gung und wirt­schaft­li­che Not trie­ben die deut­schen Staa­ten in den Revan­chis­mus, zur Wie­der­auf­rü­stung und letzt­lich zur Macht­er­grei­fung des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Ein diplo­ma­ti­scher Bume­rang, der die Grund­la­gen für den Zwei­ten Welt­krieg legte.

Ein wei­te­res spek­ta­ku­lä­res Bei­spiel war die Ent­schei­dung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, in den 1980er Jah­ren die afgha­ni­schen Mud­scha­hed­din im Kampf gegen die sowje­ti­sche Inva­si­on (1979–1989) zu bewaff­nen und finan­zi­ell zu unter­stüt­zen. Es war die größ­te Geheim­ope­ra­ti­on der CIA – und sie war erfolg­reich: Ste­ve Coll hat doku­men­tiert, wie der Zufluß von Geld und Waf­fen in den 1980er Jah­ren wesent­lich zur Nie­der­la­ge der Sowjets in Afgha­ni­stan bei­trug (Ghost Wars: The Secret Histo­ry of the CIA, Afgha­ni­stan, and Bin Laden, Pen­gu­in, 2004). Doch in dem­sel­ben Umfeld ent­stan­den Al-Qai­da und die Tali­ban – die spä­te­ren Haupt­ak­teu­re des glo­ba­len Dschi­ha­dis­mus, der in den Anschlä­gen des 11. Sep­tem­ber 2001 gipfelte.

Ein wei­te­res para­dig­ma­ti­sches Bei­spiel ist die Ope­ra­ti­on Ajax von 1953: Die CIA und der bri­ti­sche MI6 stürz­ten den ira­ni­schen Pre­mier­mi­ni­ster Mos­sa­degh, um die Kon­trol­le über das ira­ni­sche Erd­öl zu sichern und das Land im west­li­chen Ein­fluß­be­reich zu hal­ten. Ste­phen Kin­zer bezeich­ne­te die­sen Ein­griff als die „Mut­ter aller Bume­rangs“: Die Instal­la­ti­on eines auto­ri­tä­ren Regimes führ­te nach 25 Jah­ren zum Sturz des Schahs, zur Isla­mi­schen Revo­lu­ti­on von 1979 und zu mehr als vier Jahr­zehn­ten feind­se­li­ger Bezie­hun­gen zwi­schen Tehe­ran und Washing­ton (All the Shah’s Men: An Ame­ri­can Coup and the Roots of Midd­le East Ter­ror, John Wiley & Sons, 2003).

In den 1980er Jah­ren unter­stütz­ten die Ver­ei­nig­ten Staa­ten – gemein­sam mit meh­re­ren euro­päi­schen Staa­ten – Sad­dam Hus­sein im Krieg gegen das Iran Kho­mei­nis. Dil­ip Hiro erin­nert dar­an, daß Bag­dad west­li­che Tech­no­lo­gie und Geheim­dienst­in­for­ma­tio­nen erhielt (The Lon­gest War: The Iran–Iraq Con­flict, Rout­ledge, 1991). Zehn Jah­re spä­ter aber mar­schier­te eben jener Sad­dam, der vom Westen geför­dert wor­den war, in Kuwait ein, was die Ver­ei­nig­ten Staa­ten in den Ersten Golf­krieg (1991) ver­wickel­te und eine Ket­te von Ereig­nis­sen aus­lö­ste, die in der ame­ri­ka­ni­schen Inva­si­on des Irak von 2003 kul­mi­nier­ten. Das Ergeb­nis: die Desta­bi­li­sie­rung der gesam­ten Regi­on, die isla­mi­sti­sche Radi­ka­li­sie­rung und die Ent­ste­hung des IS [Isla­mi­scher Staat]. Zwar wur­de der Dik­ta­tor gestürzt, doch ver­lo­ren die USA an Glaub­wür­dig­keit und Ein­fluß – der Iran und der Dschi­ha­dis­mus füll­ten das ent­stan­de­ne Vaku­um. Wie­der­um: tak­ti­scher Erfolg, stra­te­gi­scher Fehlschlag.

Und damit zur Ent­ste­hung der Hamas: In den 1970er- und 1980er-Jah­ren war im Gaza­strei­fen die Muja­ma al-Isla­mi­ya aktiv – ein isla­mi­sches Netz­werk mit Ver­bin­dun­gen zur Mus­lim­bru­der­schaft. Die­se Bewe­gung wur­de von Isra­el geför­dert, in der Hoff­nung, sie kön­ne als Gegen­ge­wicht zur Palä­sti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on (PLO) unter Jas­sir Ara­fat die­nen. Zur Zeit der ersten Inti­fa­da (1987–1988) ent­stand aus die­sem Umfeld der Hamas (Hara­kat al-Muqa­wa­ma al-Isla­mi­yya) – die „Isla­mi­sche Wider­stands­be­we­gung“, die sich schon in ihrer Grün­dungs­ak­te (1988) die Zer­stö­rung Isra­els zum Ziel setzte.

Im stra­te­gi­schen Den­ken Isra­els der 1980er-Jah­re ver­sprach die Prä­senz eines orga­ni­sier­ten Isla­mis­mus kurz­fri­stig den Vor­teil, die palä­sti­nen­si­sche Front zu spal­ten. Doch die Illu­si­on währ­te nicht lan­ge: Nach­dem Hamas gewalt­sam gegen Isra­el vor­ging, reagier­te Tel Aviv mit Mas­sen­ver­haf­tun­gen und erklär­te die Bewe­gung 1989 offi­zi­ell zur Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on. Ein Funk­tio­när der israe­li­schen Mili­tär­ver­wal­tung, Avner Cohen, räum­te spä­ter ein: Die Unter­stüt­zung für Hamas „war ein rie­si­ger Feh­ler, eine histo­ri­sche Tor­heit: Wir haben zuge­las­sen, daß eine Bewe­gung erstark­te, die sich spä­ter gegen uns wand­te“ (Andrew Hig­gins, How Isra­el Hel­ped to Spawn Hamas, The Wall Street Jour­nal, 24. Janu­ar 2009).

Isra­el hat Hamas nicht „erschaf­fen“, wohl aber in ihrer Früh­pha­se ein­deu­tig begün­stigt. Eine Logik, die – wie der Histo­ri­ker Jean-Pierre Filiu bemerkt – sich spä­ter als ein „voll­kom­me­ner Bume­rang“ erwies. In dem Ver­such, Ara­fat zu schwä­chen, unter­stütz­te Isra­el das Auf­kom­men eines radi­ka­le­ren Akteurs, der in der Lage war, sowohl den palä­sti­nen­si­schen Staat als auch den jüdi­schen mit einer weit tie­fer ver­an­ker­ten reli­giö­sen und gesell­schaft­li­chen Macht­ba­sis infra­ge zu stel­len (The Ori­g­ins of Hamas: Mili­tant Lega­cy or Israe­li Tool?, Jour­nal of Pal­e­sti­ne Stu­dies, 41 (3), 2012, S. 54–70).

Wenn das 20. Jahr­hun­dert eine Leh­re bie­tet, dann die­se: Real­po­li­tik hat stets einen hohen Preis. Ob es sich um Lenins Zug, den Ver­sailler Ver­trag, die afgha­ni­schen Mud­scha­hed­din, den Irak oder den Gaza­strei­fen han­delt – ganz zu schwei­gen vom soge­nann­ten „Ara­bi­schen Früh­ling“ – das Muster ist immer das­sel­be: Ein tak­ti­sches Ziel führt zu einem schein­ba­ren Erfolg, der jedoch mit­tel­fri­stig zur Ent­ste­hung eines neu­en Fein­des oder zu noch grö­ße­rer Insta­bi­li­tät führt. Die Groß­mäch­te glaub­ten oft, Geschich­te wie ein Schach­spiel len­ken zu kön­nen. Doch die Dyna­mi­ken von Gut und Böse, von Treue und Betrug, ent­fal­ten in der Geschich­te eine ganz eige­ne Logik. Das Gute neigt dazu, sich selbst zu ver­wirk­li­chen; das Böse dage­gen zer­stört am Ende selbst sei­ne eige­nen Zie­le. Die inne­re Geschlos­sen­heit der Ergeb­nis­se gehört dem Guten, das auf­baut – nicht dem Bösen, das zerstört.

Doch die Ver­ur­tei­lung des poli­ti­schen Zynis­mus oder der unlau­te­ren Mit­tel, mit denen Krie­ge geführt wer­den, bedeu­tet nicht, daß die dahin­ter­ste­hen­de Sache selbst unge­recht sei. Wer mit Recht den Abwurf der Atom­bom­ben auf Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki ver­ur­teilt, kann dar­aus nicht schlie­ßen, der Krieg der Alli­ier­ten gegen die Ach­sen­mäch­te sei falsch gewe­sen. Eben­so wenig ändert der schwer­wie­gen­de Feh­ler Isra­els, die Hamas in ihrer Früh­zeit begün­stigt zu haben, etwas an der Gerech­tig­keit sei­nes Kamp­fes gegen jene Fein­de – die zugleich auch die Fein­de des Westens sind.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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