Clodovis Boff klagt die Bischöfe an: „Die Menschen bitten um Brot, Ihr gebt ihnen Steine“

Schluß mit der immer gleichen Leier vom "Sozialen, Sozialen, Sozialen"


Pater Clodovis Maria Boff, einst führender marxistischer Befreiungstheologe, Bruder von Leonardo Boff, beklagt, daß die Bischöfe Lateinamerikas mit ihrer einseitigen Betonung des Sozialen die Kirche in ihre größte Krise geführt haben.
Pater Clodovis Maria Boff, einst führender marxistischer Befreiungstheologe, Bruder von Leonardo Boff, beklagt, daß die Bischöfe Lateinamerikas mit ihrer einseitigen Betonung des Sozialen die Kirche in ihre größte Krise geführt haben.

Pater Clo­do­vis Boff übt in einem offe­nen Brief an die Bischö­fe des Latein­ame­ri­ka­ni­schen Bischofs­ra­tes CELAM schar­fe Kri­tik. Er wirft den Bischö­fen vor, das sozia­le Enga­ge­ment über Chri­stus, das reli­giö­se Zen­trum des Glau­bens, zu stel­len. Chri­stus, so Boff, kom­me in ihren Bot­schaf­ten kaum noch vor; zen­tra­le christ­li­che Wahr­hei­ten wie die Auf­er­ste­hung, die Erlö­sungs­be­dürf­tig­keit des Men­schen, das ewi­ge Leben oder die Got­tes­fra­ge wür­den ver­nach­läs­sigt oder nur ober­fläch­lich behan­delt. Clo­do­vis Boff sag­te sich vor fast 20 Jah­ren, wäh­rend des Pon­ti­fi­kats von Bene­dikt XVI., von der mar­xi­sti­schen Befrei­ungs­theo­lo­gie los, der sein Bru­der Leo­nar­do Boff noch immer anhängt.

Anzei­ge

Clo­do­vis Boff warnt in sei­nem offe­nen Brief vor einer Kir­che, die – los­ge­löst von Chri­stus – zu einer „from­men NGO“ ver­kom­me. Die Fol­gen sei­en sicht­bar: lee­re Kir­chen, schwin­den­de Katho­li­ken­zah­len, geist­li­cher Ver­fall – ohne erkenn­ba­re Reak­ti­on der Bischöfe.

Boff erkennt zwar an, daß man­che Bischö­fe in der Pra­xis geist­lich dif­fe­ren­zier­ter agie­ren, als es offi­zi­el­le Tex­te zei­gen. Den­noch iden­ti­fi­ziert er drei Dis­so­nan­zen im CELAM-System: zwi­schen Bischö­fen und Insti­tu­ti­on, zwi­schen Gene­ral­kon­fe­ren­zen und All­tags­pra­xis sowie zwi­schen Bischö­fen und den Autoren ihrer Dokumente.

Er appel­liert lei­den­schaft­lich an die Bischö­fe, zur kla­ren, kraft­vol­len Chri­sto­zen­trik zurück­zu­keh­ren – weil nur Chri­stus als Zen­trum die Kir­che erneu­ern und ret­ten kön­ne. Er schließt mit einem sehr per­sön­li­chen Bekennt­nis: Wie schon vor 20 Jah­ren beim Bruch mit der mar­xi­sti­schen Befrei­ungs­theo­lo­gie und sei­nem Bru­der Leo­nar­do Boff sei es ein inne­rer geist­li­cher Impuls, der ihn heu­te zum Schrei­ben gezwun­gen habe: „Genug! Ich muß sprechen.“

„Wenn ich es gewagt habe, mich direkt an euch zu wen­den, lie­be Bischö­fe, dann des­halb, weil ich seit lan­gem mit Bestür­zung wie­der­holt erken­ne, daß unse­re gelieb­te Kir­che in eine ern­ste Gefahr läuft: sich von ihrem geist­li­chen Wesen zu ent­fer­nen, was ihr selbst und der Welt scha­det. Wenn ein Haus brennt, darf jeder rufen.“

Im Jahr 2007 mar­kier­te sein Text „Theo­lo­gie der Befrei­ung und Rück­kehr zum Fun­da­ment“ sei­ne Abkehr von der mar­xi­sti­schen Befrei­ungs­theo­lo­gie: Dar­in kri­ti­sier­te er, daß der Chri­stus­be­zug durch ein rein sozio­lo­gi­sches Ver­ständ­nis der „Armen“ ersetzt wurde.

Seit­dem ver­tritt Boff eine kri­ti­sche Hal­tung gegen­über dem, was er als „inne­re Säku­la­ri­sie­rung“ der Kir­che bezeich­net, und warnt vor der Gefahr, sie auf eine blo­ße NGO zu redu­zie­ren. In sei­nem offe­nen Brief warnt er die Bischö­fe, daß sie sich seit 40 Jah­ren auf einem abschüs­si­gen Pfad befin­den, der die Kir­che auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent in die tief­ste Kri­se ihrer Geschich­te geführt habe.

Die Kir­che wir­ke nicht mehr geist­lich oder reli­gi­ös, son­dern nur noch sozio­po­li­tisch wie eine NGO. „Die Kin­der bit­ten um Brot – und ihr gebt ihnen Stei­ne“ (vgl. Mt 7,9). Der welt­li­che Mensch seh­ne sich nach Spi­ri­tua­li­tät, doch die Bischö­fe böten nur noch „das Sozia­le“ – das geist­li­che Ange­bot sei mini­mal, „gera­de ein­mal ein paar Krümel“.

Damit nicht genug. So schriebt Clo­do­vis M. Boff:

„Wäh­rend die Lai­en sich freu­en, Zei­chen ihrer katho­li­schen Iden­ti­tät zu zei­gen (Kreu­ze, Medail­len, Schlei­er und Blu­sen mit reli­giö­sen Auf­drucken), gehen Prie­ster und Ordens­schwe­stern in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung und erschei­nen ohne jedes Erkennungszeichen.“

Boff bezwei­felt, daß die Bischö­fe wirk­lich den „Schrei des Vol­kes“ hören, von dem sie reden: Ihre Aus­sa­gen ähnel­ten mehr den Mei­nun­gen von Jour­na­li­sten und Sozio­lo­gen als einem Ruf nach Gott. Die Kir­che rede nicht mehr von Chri­stus und Erlö­sung, son­dern von Öko­lo­gie, sozia­ler Gerech­tig­keit, Frie­den und ande­ren welt­li­chen Themen.

Boff stellt fest, daß die Bischö­fe des CELAM nicht ein­mal dem fol­gen, was Papst Fran­zis­kus ihnen auf­ge­zeigt hat, als er ihnen schrieb und betonte:

„Die drin­gen­de Not­wen­dig­keit, dar­an zu erin­nern, daß es der Auf­er­stan­de­ne ist, gegen­wär­tig mit­ten unter uns, der die Kir­che schützt und führt und sie in der Hoff­nung stärkt.“

In dem Schrei­ben, mit dem der Bischofs­rat Leo XIV. ant­wor­te­te, fin­den sich kei­ner­lei Hin­wei­se auf die­se päpst­li­chen Mah­nun­gen. „Im Gegen­teil: Anstatt ihn zu bit­ten, ihnen dabei zu hel­fen, in der Kir­che die Erin­ne­rung an den Auf­er­stan­de­nen leben­dig zu hal­ten und ihren Brü­dern das Heil in Chri­stus zu brin­gen, baten sie ihn dar­um, sie in ihrem Kampf für die För­de­rung von Gerech­tig­keit und Frie­den und bei der Anpran­ge­rung jeg­li­cher Form von Unge­rech­tig­keit zu unter­stüt­zen. Kurz gesagt: Was sie dem Papst sag­ten, war die alt­be­kann­te Lei­er: ‚Sozia­les, Sozia­les …‘, als hät­te er, der jahr­zehn­te­lang unter uns gewirkt hat, das nie gehört“.“

Pater Clo­do­vis kri­ti­siert den ober­fläch­li­chen Gebrauch reli­giö­ser Begrif­fe in den CELAM-Doku­men­ten. Zwar wür­den Begrif­fe wie „Gott“, „Chri­stus“ oder „Evan­ge­li­sie­rung“ erwähnt, doch es feh­le ihnen an kon­kre­tem geist­li­chem Inhalt. Sie wirk­ten eher wie schmücken­de Zuga­ben in einem rein sozio­po­li­tisch zen­trier­ten Dis­kurs. Chri­stus wer­de so gut wie gar nicht erwähnt. Er ver­weist dazu auf das Kon­zil von Nicäa.

Boff beklagt, daß die Katho­li­zi­tät in Latein­ame­ri­ka auf dem Rück­zug sei, doch die Bischö­fe wür­den schwei­gen. Er kri­ti­siert ihr Schwei­gen ange­sichts des Nie­der­gangs und erin­nert an die pro­phe­ti­sche Kla­ge des Amos sowie an das Bild der „stum­men Hun­de“, wie es von Gre­gor dem Gro­ßen und Boni­fa­ti­us gebraucht wurde.

Bevor er sich der Got­tes­mut­ter Maria anver­traut, schreibt Boff:

„Da wir unter Brü­dern sind, will ich Euch ein letz­tes per­sön­li­ches Bekennt­nis machen. Nach der Lek­tü­re Eures Schrei­bens geschah mit mir etwas, das ich vor fast 20 Jah­ren bereits erleb­te: Als ich die stän­di­gen Irr­tü­mer der Befrei­ungs­theo­lo­gie nicht län­ger ertra­gen konn­te, ent­stand tief in mei­ner See­le ein sol­cher inne­rer Drang, daß ich mit der Hand auf den Tisch schlug und sag­te: ‚Genug! Ich muß spre­chen‘. Es ist ein ähn­li­cher inne­rer Impuls, der mich heu­te ver­an­laßt, die­sen Brief zu schreiben.“

Offener Brief an die Bischöfe des Lateinamerikanischen und Karibischen Bischofsrates (CELAM)

Liebe Brüder Bischöfe!

Ich habe die Bot­schaft gele­sen, die Ihr am Ende der 40. Gene­ral­ver­samm­lung in Rio, Ende Mai, ver­öf­fent­licht habt. Wel­che fro­he Bot­schaft habe ich dar­in gefun­den? Ver­zeiht mei­ne Offen­heit: kei­ne. Ihr, die Bischö­fe des CELAM, wie­der­holt die immer glei­che Lei­er: sozi­al, sozi­al, sozi­al. Das macht Ihr seit über fünf­zig Jah­ren. Lie­be alte Brü­der, merkt Ihr denn nicht, daß die­se „Musik“ längst ermü­det? Wann wer­det Ihr uns end­lich die Fro­he Bot­schaft von Gott dem Vater, Chri­stus und sei­nem Geist ver­kün­den? Von der Gna­de und vom Heil? Von der Bekeh­rung des Her­zens und der Betrach­tung des Wor­tes? Vom Gebet und der Anbe­tung, von der Ver­eh­rung der Mut­ter des Herrn und ähn­li­chen The­men? Wann end­lich wer­det Ihr uns eine wahr­haft reli­giö­se und geist­li­che Bot­schaft bringen?

Genau das ist es, was wir heu­te am mei­sten brau­chen und wor­auf wir schon so lan­ge war­ten. Mir kom­men die Wor­te Chri­sti in den Sinn: „Wenn die Kin­der um Brot bit­ten, gebt ihr ihnen einen Stein?“ (Mt 7,9). Selbst die säku­la­re Welt ist der Säku­la­ri­sie­rung über­drüs­sig und sucht nach Spi­ri­tua­li­tät. Doch nein – Ihr bie­tet ihr wei­ter­hin nur das Sozia­le, immer wie­der das Sozia­le. Und vom Geist­li­chen gebt ihr bloß ein paar Krü­mel. Dabei seid Ihr doch die Hüter des größ­ten Schat­zes – jenes, den die Welt am mei­sten braucht und den Ihr ihr ver­wei­gert. Die See­len dür­sten nach dem Über­na­tür­li­chen, und Ihr gebt ihnen das Natür­li­che. Die­ses Para­dox zeigt sich auch in unse­ren Pfar­rei­en: Wäh­rend Lai­en stolz ihre katho­li­sche Iden­ti­tät zei­gen (Kreu­ze, Medail­len, Schlei­er oder Blu­sen mit reli­giö­sen Moti­ven), tre­ten Prie­ster und Ordens­leu­te ohne jedes äuße­re Erken­nungs­zei­chen auf.

Und den­noch behaup­tet Ihr über­zeugt, daß Ihr auf den „Schrei“ des Vol­kes hört und Euch der „Her­aus­for­de­run­gen“ der heu­ti­gen Zeit bewußt seid. Hört Ihr wirk­lich zu – oder bleibt Ihr an der Ober­flä­che? Ich lese Eure Liste der heu­ti­gen „Schreie“ und „Her­aus­for­de­run­gen“ und sehe nur das, was gewöhn­li­che Jour­na­li­sten und Sozio­lo­gen auch sagen. Hört Ihr nicht, wie aus den Tie­fen der Welt ein gewal­ti­ger Schrei zu Gott auf­steigt? Ein Schrei, den sogar vie­le nicht-katho­li­sche Ana­ly­ti­ker schon ver­neh­men? Ist es nicht gera­de Auf­ga­be der Kir­che und ihrer Die­ner, die­sen Schrei zu hören und ihm eine ech­te, umfas­sen­de Ant­wort zu geben? Die sozia­len Schreie sind Sache von Regie­run­gen und NGOs. Die Kir­che darf sich die­ser nicht ent­zie­hen – aber sie ist nicht die Haupt­ak­teu­rin auf die­sem Feld. Ihre eigent­li­che Auf­ga­be ist höher: näm­lich gera­de auf den Schrei nach Gott zu antworten.

Ich weiß, daß Ihr als Bischö­fe Tag und Nacht unter dem Druck der öffent­li­chen Mei­nung steht, euch als „pro­gres­siv“ oder „tra­di­tio­na­li­stisch“, „links“ oder „rechts“ zu posi­tio­nie­ren. Aber sind das ange­mes­se­ne Kate­go­rien für Bischö­fe? Sind sie nicht viel­mehr „Män­ner Got­tes“ und „Die­ner Chri­sti“? Der hei­li­ge Pau­lus ist hier ein­deu­tig: „Man soll uns betrach­ten als Die­ner Chri­sti und Ver­wal­ter der Geheim­nis­se Got­tes“ (1 Kor 4,1). Es ist nicht über­flüs­sig, dar­an zu erin­nern, daß die Kir­che in erster Linie ein „Sakra­ment des Heils“ ist – und nicht bloß eine sozia­le Insti­tu­ti­on, ob pro­gres­siv oder nicht. Sie exi­stiert, um Chri­stus und sei­ne Gna­de zu ver­kün­den. Das ist ihr Haupt­ziel, ihre größ­te und dau­er­haf­te Ver­pflich­tung. Alles ande­re ist zweit­ran­gig. Ver­zeiht, lie­be Bischö­fe, wenn ich Euch an das erin­ne­re, was Ihr längst wißt. Aber wenn Ihr es wißt – war­um taucht es dann nicht in Eurer Bot­schaft oder all­ge­mein in den CELAM-Doku­men­ten auf? Wer sie liest, kommt fast zwangs­läu­fig zu dem Schluß, daß die Haupt­sor­ge der Kir­che auf unse­rem Kon­ti­nent nicht mehr die Sache Chri­sti und sei­nes Heils ist, son­dern sozia­le The­men wie Gerech­tig­keit, Frie­den und Öko­lo­gie – The­men, die Ihr in Eurer Bot­schaft wie eine Lita­nei herunterbetet.

Selbst das Schrei­ben, das Papst Fran­zis­kus über euren Prä­si­den­ten an den CELAM gesandt hat, spricht unmiß­ver­ständ­lich von der „drin­gen­den Not­wen­dig­keit, sich dar­an zu erin­nern, daß es der Auf­er­stan­de­ne ist, der mit­ten unter uns lebt, die Kir­che beschützt und führt und sie in der Hoff­nung stärkt“, usw. Der Hei­li­ge Vater erin­nert Euch auch dar­an, daß der eigent­li­che Auf­trag der Kir­che dar­in besteht, mit sei­nen eige­nen Wor­ten, „auf unse­re Brü­der und Schwe­stern zuzu­ge­hen, um ihnen die Heils­bot­schaft Jesu Chri­sti zu ver­kün­den“. Aber was war Eure Ant­wort an den Papst? In eurem Ant­wort­schrei­ben habt Ihr kein ein­zi­ges Wort über die­se Mah­nun­gen ver­lo­ren. Statt­des­sen habt Ihr ihn gebe­ten, euch zu unter­stüt­zen im Kampf für „Gerech­tig­keit und Frie­den“ und „gegen alle For­men der Unge­rech­tig­keit“. Kurz gesagt: Wie­der die alte Lei­er – „Sozia­les, Sozia­les…“ –, als hät­te er sie nicht schon unzäh­li­ge Male gehört. Ihr sagt viel­leicht: „Die­se Wahr­hei­ten sind selbst­ver­ständ­lich – man muß sie nicht stän­dig wie­der­ho­len.“ Das stimmt nicht, lie­be Bischö­fe. Man muß sie täg­lich mit neu­em Eifer wie­der­ho­len, sonst gera­ten sie in Ver­ges­sen­heit. Wenn es nicht nötig wäre, sie immer wie­der zu sagen – war­um hat Papst Fran­zis­kus sie dann betont? Wir wis­sen, was pas­siert, wenn ein Mann die Lie­be sei­ner Frau für selbst­ver­ständ­lich hält und sie nicht mehr nährt. Umso mehr gilt das für den Glau­ben und die Lie­be zu Christus.

Natür­lich feh­len in Eurer Bot­schaft nicht die Voka­beln des Glau­bens. Ich lese dar­in: „Gott“, „Chri­stus“, „Evan­ge­li­sie­rung“, „Auf­er­ste­hung“, „Reich“, „Mis­si­on“ und „Hoff­nung“. Aber sie ste­hen nur als all­ge­mei­ne Begrif­fe im Text – ohne kla­ren geist­li­chen Inhalt. Viel­mehr erin­nern sie an die bekann­te Lei­er: „Sozia­les, Sozia­les und Sozia­les“. Neh­men wir die zwei zen­tral­sten Begrif­fe unse­res Glau­bens: „Gott“ und „Chri­stus“. Das Wort „Gott“ taucht nur in Flos­keln wie „Sohn Got­tes“ und „Volk Got­tes“ auf. Ist das nicht erstaun­lich, Brü­der? Das Wort „Chri­stus“ erscheint nur zwei­mal – und bei­de Male am Ran­de. Ein­mal etwa im Zusam­men­hang mit dem Geden­ken an das Kon­zil von Nicäa: „unser Glau­be an Chri­stus den Erlö­ser“ – ein in sich gewich­ti­ger Satz, der jedoch in Eurem Text kei­ner­lei Bedeu­tung erhält. War­um nüt­zen wir die­se dog­ma­ti­sche Wahr­heit nicht, um mit neu­em Feu­er die Vor­rang­stel­lung Chri­sti als Gott zu bezeu­gen – gera­de heu­te, wo er in Ver­kün­di­gung und kirch­li­chem Leben so wenig prä­sent ist?

Ihr erklärt zu Recht, daß Ihr eine Kir­che wollt, die „Haus und Schu­le der Gemein­schaft“ ist, außer­dem „barm­her­zig, syn­odal und im Auf­bruch“. Wer woll­te das nicht? Aber wo ist Chri­stus in die­sem idea­len Kir­chen­bild? Eine Kir­che, die nicht Chri­stus als Grund ihres Daseins und Redens hat, ist – um es mit Papst Fran­zis­kus zu sagen – nichts ande­res als eine „from­me NGO“. Ist das nicht der Weg, den unse­re Kir­che der­zeit ein­schlägt? Im besten Fall wer­den Gläu­bi­ge nicht agno­stisch, son­dern evan­ge­li­kal. Jeden­falls ver­liert unse­re Kir­che ihre Scha­fe. Wir sehen lee­re Kir­chen, Semi­na­re und Klö­ster. In Latein­ame­ri­ka gibt es sie­ben oder acht Län­der, in denen Katho­li­ken nicht mehr die Mehr­heit bil­den. Selbst Bra­si­li­en ist laut einem bekann­ten bra­si­lia­ni­schen Autor [Nel­son Rodri­gues] „auf dem besten Weg, das größ­te ehe­mals katho­li­sche Land der Welt zu wer­den“. Und den­noch scheint Euch die­ser ste­ti­ge Nie­der­gang nicht sehr zu beun­ru­hi­gen. Mir fällt die Kla­ge des Pro­phe­ten Amos ein: „Ihr sorgt euch nicht um den Unter­gang Josefs“ (Am 6,6). Merk­wür­dig, daß Ihr in Eurer Bot­schaft zu die­sem offen­kun­di­gen Rück­gang kein Wort sagt. Noch erschrecken­der: Die nicht-katho­li­sche Welt spricht mehr über die­ses Phä­no­men als die Bischö­fe – die lie­ber schwei­gen. Man denkt dabei an den Vor­wurf des hei­li­gen Gre­gor des Gro­ßen über die „stum­men Hun­de“, den auch der hei­li­ge Boni­fa­ti­us wiederholte.

Natür­lich gibt es in unse­rer Kir­che nicht nur Nie­der­gang, son­dern auch Auf­bruch. Ihr selbst schreibt, daß die Kir­che „kraft­voll wei­ter­lebt“ und „Samen der Auf­er­ste­hung und Hoff­nung“ her­vor­bringt. Aber wo sind die­se Samen, lie­be Bischö­fe? Sie sind nicht im sozia­len Bereich, wie Ihr viel­leicht denkt, son­dern im reli­giö­sen. Beson­ders in erneu­er­ten Pfar­rei­en sowie in neu­en Bewe­gun­gen und Gemein­schaf­ten – beseelt von dem, was Papst Fran­zis­kus die „Strö­mung der cha­ris­ma­ti­schen Gna­de“ nennt, deren bekann­te­ster Aus­druck die katho­li­sche cha­ris­ma­ti­sche Erneue­rung ist. Obwohl die­se geist­li­chen Bewe­gun­gen unse­re Kir­chen – und die Her­zen – am mei­sten fül­len, wur­den sie in Eurer Bot­schaft nicht ein­mal erwähnt. Doch dort, in die­sem geist­li­chen Bio­top, liegt die Zukunft unse­rer Kir­che. Ein deut­li­ches Zei­chen dafür ist: Im sozia­len Bereich sehen wir fast nur „graue Köp­fe“ – im geist­li­chen Bereich hin­ge­gen strö­men die Jugend­li­chen herbei.

Lie­be Bischö­fe, ich höre Euch schon inner­lich empört reagie­ren: „Sol­len wir etwa wegen sol­cher ‚spi­ri­tu­el­len‘ Reden die Armen, die sozia­le Gewalt, die öko­lo­gi­sche Zer­stö­rung und ande­re sozia­le Dra­men igno­rie­ren? Wäre das nicht blind und sogar zynisch?“ Natür­lich nicht; daß die Kir­che sich sol­chen Nöten wid­men muß, ist unbe­strit­ten. Aber die ent­schei­den­de Fra­ge lau­tet: Tut sie das im Namen Chri­sti? Wird ihr sozia­les Enga­ge­ment wirk­lich vom Glau­ben getra­gen – aus­drück­lich: vom christ­li­chen Glau­ben? Wenn die Kir­che sich in sozia­le Kämp­fe ein­mischt, ohne daß ihr Tun von leben­di­gem chri­sto­lo­gi­schem Glau­ben durch­drun­gen ist, tut sie nichts ande­res als das, was eine NGO tut. Dann wird sie noch „mehr vom Glei­chen“ tun – und am Ende wird es schlim­mer: Ihr sozia­les Enga­ge­ment wird inko­hä­rent. Denn ohne den Sau­er­teig eines leben­di­gen Glau­bens ver­kommt der sozia­le Kampf – er wird ideo­lo­gisch, dann repres­siv. Genau davor hat Papst Paul VI. in Evan­ge­lii nun­ti­an­di, Nr. 35 ein­dring­lich gewarnt, als die „Befrei­ungs­theo­lo­gie“ auf­kam – eine War­nung, die die­se Theo­lo­gie lei­der nicht ver­stan­den hat.

Lie­be alte Brü­der, erlaubt mir, Euch zu fra­gen: Wohin wollt Ihr unse­re Kir­che füh­ren?
Ihr sprecht viel vom „Reich“, aber was ist der kon­kre­te Inhalt die­ses „Rei­ches“? Da Ihr so oft davon redet, eine „gerech­te und geschwi­ster­li­che Gesell­schaft“ auf­zu­bau­en (eine wei­te­re Eurer Lita­nei­en), könn­te man mei­nen, daß gera­de die­se Gesell­schaft der zen­tra­le Inhalt des von Euch beschwo­re­nen „Rei­ches“ sei. Ich ver­ken­ne nicht, daß dar­in ein Teil der Wahr­heit liegt. Doch über den eigent­li­chen, zen­tra­len Inhalt des „Rei­ches“ sagt Ihr nichts – näm­lich daß es sowohl heu­te, in unse­ren Her­zen, als auch mor­gen, in sei­ner Voll­endung, gegen­wär­tig ist. In eurer Rede fehlt jede Eschatologie.

Zwar sprecht Ihr zwei­mal von „Hoff­nung“, aber in einer der­art vagen Wei­se, daß – ange­sichts der sozia­len Aus­rich­tung Eurer Bot­schaft – wohl nie­mand, der die­ses Wort aus Eurem Mund hört, dabei den Blick zum Him­mel erhe­ben wür­de. Ich bestrei­te nicht, lie­be Brü­der, daß auch für Euch der Him­mel die „gro­ße Hoff­nung“ ist. Aber war­um die­se Scheu, so offen und klar dar­über zu spre­chen, wie es vie­le Bischö­fe der Ver­gan­gen­heit getan haben – über das „Him­mel­reich“, über die „Höl­le“, die „Auf­er­ste­hung der Toten“, das „ewi­ge Leben“ und ande­re escha­to­lo­gi­sche Wahr­hei­ten, die dem Kampf in der Gegen­wart so viel Licht und Kraft schen­ken und allem sei­nen letz­ten Sinn geben?

Natür­lich ist das irdi­sche Ide­al einer „gerech­ten und geschwi­ster­li­chen Gesell­schaft“ schön und groß­ar­tig. Aber nichts läßt sich mit der himm­li­schen Stadt ver­glei­chen (Phil 3,20; Hebr 11,10.16), deren Bür­ger wir durch unse­ren Glau­ben sind – glück­li­cher­wei­se! –, und an der wir mit­ar­bei­ten. Ihr aber seid als Bischö­fe sogar ihre haupt­säch­li­chen Archi­tek­ten. Ja, Ihr tragt auch zum Auf­bau der irdi­schen Stadt bei, aber das ist nicht Eure eigent­li­che Kom­pe­tenz – die­se liegt viel­mehr bei Poli­ti­kern und sozia­len Aktivisten.

Ich möch­te glau­ben, daß die pasto­ra­le Erfah­rung vie­ler von Euch Bischö­fen rei­cher und viel­leicht auch viel­fäl­ti­ger ist als das, was aus Eurer Bot­schaft her­vor­geht. Denn die Bischö­fe unter­ste­hen nicht dem CELAM (der ja ledig­lich ein Organ zu ihrem Dienst ist), son­dern ein­zig dem Hei­li­gen Stuhl – und selbst­ver­ständ­lich Gott. Sie haben daher die Frei­heit, in ihren jewei­li­gen Diö­ze­sen jene pasto­ra­le Linie durch­zu­set­zen, die sie für rich­tig hal­ten. Das führt manch­mal zu einer legi­ti­men Dis­so­nanz gegen­über der Linie des CELAM.

Man muß noch eine wei­te­re Dis­so­nanz erwäh­nen: die zwi­schen den umfang­rei­chen Doku­men­ten der Gene­ral­ver­samm­lun­gen des CELAM und der enge­ren Linie des CELAM selbst. Und – mit Eurer Erlaub­nis – füge ich eine drit­te Dis­so­nanz hin­zu, die Euch noch näher betrifft: jene, die sich oft zwi­schen dem bischöf­li­chen Lehr­amt und den theo­lo­gi­schen Bera­ter­gre­mi­en ergibt – also zwi­schen den Bischö­fen und den Redak­teu­ren ihrer Dokumente.

Doch auch mit all die­sen Dif­fe­ren­zen, die uns ein sehr viel­schich­ti­ges Bild der Lage unse­rer Kir­che ver­mit­teln, scheint Eure Bot­schaft zum 70. Jubi­lä­um des CELAM ein getreu­es Spie­gel­bild der Gesamt­si­tua­ti­on unse­rer Kir­che zu sein: einer Kir­che, die das Sozia­le über das Reli­giö­se stellt. Und Ihr, die Bischö­fe des CELAM, habt Eure 40. Gene­ral­ver­samm­lung nut­zen wol­len, um Euren „Ein­satz“ zu „erneu­ern“, auf genau die­sem Kurs zu blei­ben – das heißt, dem Sozia­len Vor­rang zu geben. Und Ihr habt beschlos­sen, die­se Opti­on mit aller Ent­schlos­sen­heit und aus­drück­lich wie­der­auf­zu­neh­men, wie die drei­fa­che Wie­der­ho­lung der Wör­ter „erneu­ern“ und „Ver­pflich­tung“ zeigt.

Ich ver­ste­he, lie­be Bischö­fe – ohne irgend­et­was recht­fer­ti­gen zu wol­len –, daß Ihr Euch bei Eurer begrün­de­ten Sor­ge um das Sozia­le und des­sen schmerz­li­che Dra­men so stark dar­auf kon­zen­triert habt, daß das Reli­giö­se in den Hin­ter­grund gerückt ist, ohne daß Ihr sei­ne Vor­rang­stel­lung aus­drück­lich leug­net. Doch dies war ein Pro­zeß, der fast unbe­merkt und nicht ohne gro­ße Gefahr begann – schon in Medel­lín (auf der zwei­ten Gene­ral­ver­samm­lung des Latein­ame­ri­ka­ni­schen Bischofs­ra­tes 1968) – und bis heu­te andauert.

Ihr wißt jedoch aus Erfah­rung, daß, wenn man das Reli­giö­se nicht mög­lichst bald wie­der aus dem Schat­ten her­aus­holt und es durch Wor­te und Taten ins Licht stellt, sei­ne Vor­rang­stel­lung unwei­ger­lich ver­lo­ren­geht. Genau das ist mit der Zen­tral­fi­gur Chri­stus gesche­hen: Sie wur­de ins zwei­te Glied ver­drängt. Wenn man Ihn heu­te noch als Herrn und Haupt der Kir­che und der Welt bekennt, dann tut man es meist nur ober­fläch­lich – wenn über­haupt. Der Beweis für die­sen schlei­chen­den Ver­fall liegt vor unse­ren Augen: der Nie­der­gang unse­rer Kir­che. Wenn wir auf die­sem Weg wei­ter­ma­chen, wer­den wir wei­ter ver­fal­len. Alles begann nicht etwa mit dem Rück­gang der Gläu­bi­gen­zah­len, son­dern mit dem Rück­gang des Glau­bens­feu­ers – des Glau­bens an Chri­stus, das dyna­mi­sche Zen­trum der Kirche.

Wie Ihr seht, Brü­der: Es sind die Zah­len, die uns alle her­aus­for­dern – Euch, die Bischö­fe des CELAM, aber ganz beson­ders. Sie for­dern Euch her­aus, die all­ge­mei­ne Linie unse­rer Kir­che zu kor­ri­gie­ren, damit wir – durch eine erneu­er­te, glü­hen­de Opti­on für Chri­stus – in Qua­li­tät und Zahl wie­der wachsen.

Des­halb: Es ist Zeit – und mehr als Zeit –, Chri­stus aus dem Schat­ten zu holen und ihn ins vol­le Licht zu stellen.

Es ist an der Zeit, Ihm erneut den abso­lu­ten Vor­rang zu geben: sowohl in der Kir­che nach innen (im per­sön­li­chen Gewis­sen, in der Spi­ri­tua­li­tät und der Theo­lo­gie) als auch nach außen (in der Evan­ge­li­sie­rung, der Ethik und der Poli­tik). Die Kir­che unse­res Kon­ti­nents muß drin­gend zu ihrem wah­ren Zen­trum zurück­keh­ren – zu ihrer „ersten Lie­be“ (Offb 2,4). Einer Eurer Vor­gän­ger, der hei­li­ge Bischof Cypri­an, mahn­te in prä­gnan­ten Wor­ten: „Chri­stus darf nichts vor­ge­zo­gen wer­den“ (Chri­sto nihil omni­no prae­pon­e­re). Wenn ich Euch das sage, lie­be Bischö­fe – ver­lan­ge ich da etwas Neu­es? Ganz und gar nicht. Ich erin­ne­re Euch ein­fach an das Grund­le­gend­ste unse­res Glau­bens, des „alten und immer neu­en“ Glau­bens: an die abso­lu­te Opti­on für Chri­stus, den Herrn; an die bedin­gungs­lo­se Lie­be zu ihm, die von euch in beson­de­rer Wei­se ver­langt wird – so wie Chri­stus es von Petrus ver­lang­te (vgl. Joh 21,15–17).

Des­halb ist es drin­gend nötig, klar und ent­schlos­sen eine star­ke, syste­ma­ti­sche Chri­sto­zen­trik zu bezeu­gen und zu leben – eine wahr­haft über­wäl­ti­gen­de Chri­sto­zen­trik, wie es der hei­li­ge Johan­nes Paul II. for­mu­lier­te. Es geht dabei kei­nes­wegs um einen ent­frem­den­den „Chri­sto­mo­nis­mus“ (bit­te beach­te die­sen Begriff). Es geht viel­mehr dar­um, eine offe­ne Chri­sto­zen­trik zu leben, die alles durch­dringt und ver­wan­delt: die Men­schen, die Kir­che und die Gesellschaft.

Wenn ich mir erlaubt habe, mich direkt an Euch zu wen­den, lie­be Bischö­fe, dann des­halb, weil ich schon seit lan­gem – mit Bestür­zung – wie­der­holt Signa­le wahr­neh­me, daß unse­re gelieb­te Kir­che in Gefahr ist, sich von ihrem geist­li­chen Wesens­kern zu ent­fer­nen – zum Scha­den für sie selbst und für die Welt. Wenn das Haus brennt, darf jeder schreien.

Da wir unter Brü­dern sind, ver­traue ich euch zum Schluß noch etwas Per­sön­li­ches an:
Nach­dem ich Eure Bot­schaft gele­sen hat­te, geschah in mir etwas Ähn­li­ches wie vor fast zwan­zig Jah­ren, als ich – unfä­hig, die stän­di­gen Irr­tü­mer der Befrei­ungs­theo­lo­gie län­ger zu ertra­gen – plötz­lich tief im Inner­sten den Impuls ver­spür­te, mit der Hand auf den Tisch zu schla­gen und zu sagen: „Genug! Ich muß sprechen“.

Ein sol­cher inne­rer Antrieb ver­an­laßt mich heu­te, die­sen Brief zu schrei­ben – in der Hoff­nung, daß der Hei­li­ge Geist dar­in sei­ne Hand im Spiel hat.

Indem ich die Mut­ter Got­tes bit­te, für Euch das Licht des­sel­ben Gei­stes zu erbit­ten, unter­schrei­be ich als Bru­der und Diener:

P. Clo­do­vis M. Boff OSM
Rio Bran­co (Acre), 13. Juni 2025, Fest des hei­li­gen Anto­ni­us, Kir­chen­leh­rer.

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Por­tal Divina Miser­i­cor­dia (Screen­shot)

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