
Von Vigilius*
Nachdem es kurz nach der Wahl Robert Prevosts zum Papst fast im gesamten konservativen Feld nahezu Begeisterungsstürme gegeben hat, flammen hier die Widerstände gegen den Papst mittlerweile erneut auf. Dazu tragen etliche der Entscheidungen Leos, aber auch Äußerungen bei, die sich etwa in dem jüngst erschienen Interviewbuch „Leo XIV. – Weltbürger und Missionar des 21. Jahrhunderts“ finden lassen. Gerade dieses Interview heizt die ohnehin entbrannte Debatte um die Qualitäten Leos nochmals mächtig an. Vor dem Hintergrund dieser leidenschaftlich geführten Kontroverse um den neuen Papst möchte ich nun ebenfalls einige Anmerkungen zum aktuellen Pontifikat machen.
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Es gibt, wie immer in solchen Fällen, bereits Stimmen, die mit dem Kontingenzargument einen nachsichtigen Umgang mit Leo fordern. Ich denke, dass wir derartige Erwägungen schon im Ansatz nicht aufkommen lassen sollten. Wenn jemand ein wichtiges Leitungsamt aus freien Stücken übernimmt, trägt er die volle persönliche Verantwortung für die korrekte Ausübung dieses Amtes. Da gibt es keine Ausreden, weder eine schwere Kindheit noch eine dürftige Ausbildung noch eine Sozialisation in einem geistig ungünstigen Umfeld noch schlechte Berater und Redenschreiber noch fehlende Kenntnisnahme von Vorgängen noch, wie Caminante anführt, „Feministinnen, die ihn umgeben“1. Wenn er das Zeug zur richtigen Ausübung des ihm angebotenen Amtes nicht besitzt, muß der Kandidat ablehnen; übernimmt er das Amt, ist er umfänglich haftbar. Dann soll sich der Papst eben von den ihn umgebenden Feministinnen trennen und sich Mitarbeiter holen, die was taugen. Schließlich besitzt er doch die plenitudo potestatis. Die noch immer nicht abgelöste Präfektin des Ordensdikasteriums, Signorina Brambilla, die sogar durch Leo eine weibliche Verstärkung erhalten hat, und die katastrophalen Bischöfe, die er bis auf wenige Ausnahmen in Serie ernennt, gehen auf sein eigenes Verantwortungskonto, und es ist gleichgültig, ob das noch in der Bergoglio-Ära eingeleitet worden ist. Unter den Ernennungsurkunden steht Leos Unterschrift, es ist seine Entscheidung. An diesen Akten werden viele Katholiken in den bemitleidenswerten Diözesen lange Zeit hart zu tragen haben. Auch bei den unter seinem Namen erscheinenden Texten spielt es keine Rolle, ob ein Papst um die Publikation möglicherweise von seinem Vorgänger gebeten wurde. Ebenfalls geht die Homoparade am 6. September durch den Petersdom, die von vornherein als ein Triumphzug der Bewegung gedacht war und in aller Welt auch so rezipiert wurde, auf sein Verantwortungskonto, das ist schließlich seine Basilika. Wer das oberste Lehramt der Kirche innehat und die ihm zu dessen korrekter Ausübung verliehe absolute Machtfülle besitzt, muß dieser Funktion auch gerecht werden, sonst muß er abtreten. Psychologisierende Verständnisrhetoriken haben in diesem Zusammenhang keinen Platz.
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Über Leo ist die Ansicht geäußert worden, dass er kein Theologe sei. Damit ist wohl gemeint, dass Prevost zwar – an einem liberalen Ausbildungsinstitut – Theologie studiert und sich vor allem mit dem Kirchenrecht beschäftigt hat, aber kein derart kenntnisreicher und eigenständiger Theologe ist, wie es etwa Ratzinger war. Meines Erachtens besteht das elementare Problem aber vor allem darin, dass Prevost kein philosophischer Kopf ist. Das bezieht sich zunächst formal auf den Scharfsinn und die Fähigkeit zur Konsequenz des Denkens. Sodann darauf, dass alle materialen Probleme, die wir haben, letztlich philosophischer Natur sind. Die Kirche benötigt gerade heute Kirchenmänner, die die komplexen intellektuellen Zusammenhänge vor allem des uns massiv betreffenden Modernediskurses zu durchschauen vermögen. Man muß durch die schroffen, ungemütlichen Landschaften des Rationalismus und der Aufklärungsphilosophie, des Deutschen Idealismus, der atheistischen Philosophie Nietzsches und der massiv von ihm geprägten Philosophie des 20. Jahrhunderts einschließlich des seinsgeschichtlichen Denkens Martin Heideggers und des französischen Dekonstruktivismus hindurchgewandert sein, um überhaupt den Ansatz eines Begriffes von den abgründigen und verwickelten Problemlagen zu bekommen, von denen ebenfalls die moderne Kirche zuinnerst erfasst ist. Und diesen Begriffsansatz vermag jedenfalls ich in den bisherigen Äußerungen Papst Leos eben nicht zu erkennen.
Vom korrekten, zureichend differenzierten Verständnis der durch das moderne Bewußtsein aufgeworfenen Problemlagen hängt auf der praktischen Ebene ungemein viel ab. Das sieht man gerade bei der Minderheiten- und Genderfrage. Der post-stalinistische Neomarxismus hat in seinen prominenten Autoren wie Antonio Gramsci, Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre bereits ab den 1930er Jahren den Plan entwickelt, an Stelle des vom Kapital käuflichen Proletariates neue revolutionäre Subjekte zu finden, mit denen die bürgerliche Gesellschaft überwunden werden kann. Während als post-proletarische Revolutionssubjekte soziale Minderheiten wie Homosexuelle, Transgender-Personen, Farbige, lesbische Frauen, überhaupt Frauen, aber auch Einheimische in den ehemaligen Kolonialgebieten, Immigranten usf. identifiziert werden, soll das wirkmächtigste Revolutionsprinzip nicht mehr der Gulag, sondern die Moral sein. Das heißt: Die neuen Revolutionssubjekte werden systematisch als leidende Opfergruppen des bürgerlich-kapitalistischen Patriarchates und umgekehrt die Mitglieder der weißen, heteronormativen Mehrheitsgesellschaft als moralisch verwerfliche Tätergruppe stilisiert. Kraft seines vor allem von Gramsci formulierten und in der Tat äußerst erfolgreichen Programms des „Marsches durch die Institutionen“ hat der Neomarxismus eine kollektive Über-Ich-Bildung erreicht, die die bürgerlichen Gesellschaften weitgehend paralysiert hat. Vor allem in den akademischen Schichten sind im bürgerlichen Bewußtsein selber die tragenden Institutionen der Gesellschaft mit dem Stigma der Menschenfeindlichkeit, der Intoleranz und der Skupellosigkeit der Macht versehen worden. Das muß sich auf die soziale und politische Stabilität ruinös auswirken. Die besonders bedeutenden Katalysatoren der neomarxistischen Moralbildung sind die Kindergärten, Schulen, Universitäten – und die Kirchen.
Natürlich geht es dem Marxismus in keiner seiner Varianten tatsächlich um die Individuen und die Minderheiten. Werden Individuen oder Gruppen für das Zerstörungsprojekt der bürgerlichen Gesellschaften dysfunktional, werden sie einfach abgestoßen und durch neue revolutionäre Subjekte ersetzt. Im Moment erleben wir etwa, dass die radikale Linke die lange umworbene Gruppe der Homosexuellen de facto wieder aufopfert, weil ihr die Allianz mit den Mohammedanern für die Zerstörung des Westens zweckdienlicher erscheint.2 Generell kann man sich sicher sein, dass mit errungener politischer Herrschaft der Linken auch die Gulags wieder da sind. Es geht der marxistischen Perspektive immer nur um den radikal egalisierenden Selbstobjektivierungsprozess der Materie, die sich unter Überwindung aller von ihr selbst erzeugten Widerstände dialektisch zu sich selbst ermächtigt. Alle Differenzen, die der Metaphysik als substantiell gelten, werden in dieser Perspektive als phasenhafte Illusionsgebilde betrachtet, die im Entwicklungsprozess der Materie selber notwendigerweise entstehen und in deren Emanzipationsgeschichte auch wieder verschwinden. Die seit den späten 1990er Jahren beobachtbare verstärkte Integration der Motive des französischen, stark von Nietzsche inspirierten Dekonstruktivismus in die neomarxistische Agenda ist nicht zufällig. Judith Butler, das Schlachtschiff der Gendertheorie, formuliert ihre maßgeblich von Michel Foucault geprägte Selbstinzenierungstheorie des ‚theatralischen Selbst‘ präzise als Projekt von Autonomisierungsgewinnen, die sie als Vorgänge der progressiv freiheitlichen Selbstorganisation der Materie begreift.
Papst Leo formuliert zwar ein Bekenntnis zur Ehe und zur Familie, aber er konterkariert dies faktisch wieder durch seine nur scheinbar harmlose Bemerkung zur LGBTQ+-Agenda, welche Agenda sich ein erheblicher Teil der begriffsstutzigen, sentimentalen Kleriker längst zu eigen gemacht hat. Leo sagt nämlich in dem Interview, er habe in dieser Frage „im Moment noch keinen Plan“. Das könnte er aber niemals sagen, wenn er durchschaute, was für philosophische Inhalte in dieser nur vermeintlich humanitären Agenda transportiert werden. Denn dass er diese Positionen selber akzeptieren würde, halte ich für wenig wahrscheinlich. Damit bin ich aber wieder bei meinem erstgenannten Punkt. Prevost steht als Papst unter der Maßgabe, in Fortsetzung des Kampfes seiner Vorgänger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen die großen kollektivistischen Ideologien die LGBTQ+-Ideologie als das zu dechiffrieren, was sie ist: das alte grundstürzende Revolutionsprojekt des marxistischen Materialismus in neuem Gewande. Ich befürchte jedoch, dass Leo hier erklärbarer‑, aber unentschuldbarerweise versagen wird. Vermutlich wird er naiverweise wie sein verstorbener Freund und Mäzen der Versuchung unter dem Schein des Guten erliegen und dieser zuinnerst antichristlichen Agenda die höheren Weihen des christlichen Beistandes für die Leidenden und Verfolgten geben.
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Die LGBTQ+-Problematik führt unmittelbar zu den päpstlichen Einlassungen zur Veränderlichkeit der kirchlichen Moral- und Ordinationsbestimmungen. Genauerhin geht es zum einen um Leos Aussage zu Diakoninnen: „Ich habe momentan nicht die Absicht, die Lehre der Kirche zu diesem Thema zu ändern“; zum anderen im Blick auf die Homosexualität um den Satz: „Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich, zumindest in naher Zukunft, dass sich die Lehre der Kirche in bezug auf Sexualität und Ehe ändert.“
Kommentatoren haben in beschwichtigender Absicht angemerkt, in diesen Sätzen sei weder die Vorhersage des Papstes impliziert, dass sich diese Lehren irgendwann tatsächlich ändern werden, noch dass er selber diese Lehren jemals zu ändern beabsichtigen würde. Diese Analysen treffen aber nur prima facie zu. Denn die Pointe der Sätze besteht darin, dass sie den Wechsel der bislang geltenden Überzeugungen prinzipiell für möglich halten. Die fraglichen Positionen werden also nicht mehr als solche betrachtet, die mit dem unbedingten Geltungsanspruch der Wahrheit auftreten (und nur als solche sind sie Sätze des Glaubens), sondern lediglich als Sätze, deren Geltung von kontingenten Faktoren wie diplomatischen Opportunitätsgründen abhängig ist. Die Eindeutigkeit des prevost‘schen Urteils bezieht sich bei diesen Gegenständen allein noch auf die Einschätzung ihrer geschichtlichen Position – bloß im Moment ist deren Änderung bloß unwahrscheinlich. Wenn Leo, wie Caminante sagt, „an unveränderliche Wahrheiten glaubt“, gehören diese Dinge jedenfalls nicht dazu. Das heißt aber für den substantiellen Gehalt der oberflächlich ungefährlich anmutenden Aussagen nichts anderes als: Unter wahrheitstheoretischer Rücksicht haben sich für Papst Prevost diese Positionen bereits aufgelöst, auch wenn er das vermutlich gar nicht in reflexiver Klarheit vor sich bringt. Er erzeugt nurmehr den Schein der Konstanz. Man kann auch sagen, dass diese Sätze unter dem Schein ihres Gegenteiles die Änderung der fraglichen Positionen selber vollziehen. Prevost glaubt nicht mehr, dass sie wahr sind, er glaubt also, tertium non datur, dass Frauen zu Diakoninnen geweiht werden und homosexuelle Akte zumindest unter bestimmten Bedingungen sittlich legitim sein können.
Die meisten Leute ermessen gar nicht den logischen Implikationsgehalt beider Positionen. Mit der Öffnung des sakramentalen Diakonates für Frauen ist das theologische Prinzip zerstört, dass nur Männer aufgrund des nicht-kontingenten Mannseins Jesu Christi den Hohepriester sakramental repräsentieren und dessen Opfer vergegenwärtigen können, von welcher Vergegenwärtigung sämtliche Stufen des sakramentalen Ordo her definiert und auf die sie wesenhaft bezogen sind. Und auf eine analoge, gleichwohl innwendig verbundene Weise modifiziert auch die prinzipielle Legitimierung homosexueller Akte den gesamten theologischen Kosmos, mithin nicht allein das moraltheologische und hier auch nicht nur das sexualethische Gefüge. Um die Achse der Geschlechterdualität, in der die Frage der Ehe und des Sexualitätsverständnisse impliziert ist, kreist in gewisser Weise das ganze dogmatische System bis in den ekklesiologischen Topos der Christus-Maria-Entsprechung hinein, in der das Wesen der Kirche – und des Weiheamtes dargestellt ist. Es handelt sich hier nicht um separierbare Einzelfragen, die man ändern könnte ohne dass sich das Ganze ändern würde. Genau das sollten wir um der intellektuellen Redlichkeit willen auch klar benennen und uns nicht beruhigen mit der theologisch irrelevanten Auskunft, dass die Äußerungen des Papstes nicht die Ankündigung darstellen, dass er das, was er für möglich, also für wahr hält, auch selber bereits positiv formulieren und mit praktischer Rechtskraft versehen wird.
Noch eine verwandte Anmerkung im Kontext der Weihefrage. Leo bekennt sich im Interview ausdrücklich dazu, die Linie seines Vorgängers nicht nur im Blick auf die Integration von Laien in synodale Prozesse, sondern ebenso die Praxis der Besetzung kirchlicher Leitungsämter durch Laien fortzusetzen. Der Papst beabsichtigt also, die nicht zuletzt um der Frauenfrage willen vorgenommene bergoglianische Operation der Trennung von sacerdotalem Amt einerseits und Leitungskompetenz andererseits weiterzuführen, und zwar, wie die von mir schon erwähnte Signorina Brambilla sichtbar macht, auch in pastoral und doktrinär relevanten Bereichen.
Diese Ankündigung Leos finde ich besonders erschütternd, denn sie ist für die Kirche von kaum überschätzbarer Bedeutung. Die Praxis der Leitung durch Laien höhlt nämlich die theologische Bestimmung des sakramentalen Amtes auch zur Leitungsgewalt in der Kirche aus und wird immer stärker dazu führen, dass mit der singulären Stellung des Priesters in der Kirche das sakramentale Bewußtsein überhaupt geschwächt wird. Die Kirche lebt exklusiv von der Vergegenwärtigung des Opfers Christi in der Messe, und vom Altar her müssen, das habe ich vorhin bereits im Blick auf das Frauendiakonat zur Geltung gebracht, sämtliche kirchliche Funktionen definiert sein. Der Priester ist der genuine Leiter und Lehrer der Gemeinde, weil er der Sacerdos, die sakramentale Selbstrepräsentation des sich opfernden ewigen Hohepriesters ist, der als solcher König und Lehrer ist. Das bergoglianisch-prevost‘sche Projekt der Laienermächtigung sprengt dieses subtile Entsprechungsgefüge des katholischen Sakramentalkosmos auf und leistet der Selbstprotestantisierung der Kirche erheblichen Vorschub. Laien in pastoral und lehramtlich relevanten Leitungsämtern kennt die Wesenslogik des corpus Christi mysticum nicht. Joseph Ratzingers schon früh getroffene Aussage, dass die Trennung von Weihe- und Leitungsgewalt „schlechterdings unzulässig“ sei, ist unbedingt zustimmungswürdig. Denn bei dieser Trennung der Gewalten wird, so Ratzinger, „die eine ins Magische, die andere ins Profane abgedrängt: Das Sakrament wird nur mehr rituell und nicht als Auftrag zur Leitung der Kirche durch Wort und Liturgie gefaßt; das Leiten umgekehrt wird als rein politisch-administratives Geschäft gesehen.“3 Bei näherer Betrachtung zeigt sich uns also der durchaus häßliche Befund, dass Papst Prevost, angetan mit Mozetta und suaviter in modo, kräftig damit beschäftigt ist, wie sein Vorgänger das Tafelsilber zu verscherbeln.
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Papst Leo bekennt sich ausdrücklich zu Jesus Christus. Kardinal Burke hat bei seinem kürzlichen Zusammentreffen mit Leo, so wird berichtet, den Papst auch dafür gelobt, christozentrisch gepredigt zu haben. Man übersieht nach den zurückliegenden Jahren fast den bizarren Charakter solcher Feststellungen, die einen Papst dafür loben, in einer Ansprache prominent von Christus geredet zu haben. Das erinnert mich an den vergnüglichen Roman Luigi Malerbas „Die nackten Masken“, in dem die zerstrittenen römischen Kardinäle als Nachfolger von Leo X. einen gar nicht im Konklave anwesenden Nachfolger wählen und sich nun angesichts der baldigen Ankunft des neuen Papstes in heller Aufregung befinden, denn diesem Mann eilt der Ruf voraus, er würde an Gott glauben.
Søren Kierkegaard sagt in seiner Schrift „Furcht und Zittern“ berechtigterweise von sich, er habe bislang noch immer den Mut gefunden, „einen Gedanken ganz zu denken“. Der verehrte Philosoph weiß ganz genau, warum dieser Punkt so wichtig ist. Denn erst dann, wenn ein Gedanke ganz, das heißt mit all seinen Implikationen und logischen Konsequenzen gedacht ist, ist er überhaupt gedacht. Und nur dann wird er fruchtbar. Ansonsten versinkt er in der Bedeutungslosigkeit einer Anmutung. Das gilt nun auch für das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus. Und auch an dieser Stelle muß man bei Papst Leo leider konstatieren, dass ihm zumindest die Bereitschaft zu fehlen scheint, die in diesem Bekenntnis liegenden Implikationen zu erkennen und zur Geltung zu bringen. Diese Inkonsequenz wird schon in der erwähnten Leitungsfrage deutlich, gewinnt aber ebenso im Blick auf den sogenannten „interreligiösen Dialog“ eine hohe Dringlichkeit.
Ich habe mir Leos kürzliches Grußwort an die Teilnehmer des interreligiösen Treffens in Bangladesch angesehen – und bin zugleich entsetzt und der öden Sache gründlich überdrüssig. Es handelt sich hier – erneut unter Bezugnahme auf das größte Skandaldokument des letzten Konzils, nämlich ‚Nostra aetate‘ – um dieselbe bergoglianische Rhetorik mit den identischen theologischen Gravamina aus ‚Fratelli tutti‘, der Amazonassynode, dem Dokument von Abu Dhabi und den Reden in Südostasien. In dieser konziliaren Prosa werden trotz ihrer phrasenhaften Form, die schon unser sprachästhetisches Empfinden seit Jahrzehnten beleidigt, äußerst brisante Inhalte transportiert: Wir sind, so formuliert Leos Ansprache, natürlicherweise immer schon „eine Familie“, „Brüder und Schwestern“ und allesamt „Kinder Gottes“. Deswegen müsse es um „eine Kultur der Harmonie zwischen Brüdern und Schwestern“ gehen, die sich – Leo referenziert ausdrücklich auf Franziskus – nicht von jenen stören lassen dürfe, die das „Unkraut des Vorurteils“ nähren, „Mißtrauen säen“, „Angst schüren“, „Unterschiede als Barrieren“ und nicht als „Quelle gegenseitiger Bereicherung“ ansehen. Diese Störenfriede der Harmonie können nur diejenigen sein, die hartnäckig auf dogmatischen Wahrheitsfragen bestehen. Bergoglios ‚Indietristi‘ sind zurück.
All diese Schlagworte und Thesen Leos sind ebenso kritikwürdig wie die einschlägigen Äußerungen Jorge Bergoglios, von denen sie maßgeblich inspiriert sind. Denn das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, dem Einen und Einzigen, der Wahrheit in Person und dem alleinigen Heiland aller Welt, also das Bekenntnis zum Grundsatz ‚extra Christum nulla salus est‘, ist die Barriere katexochen zwischen den Bekenntnissen, auch denen der monotheistischen Religionen. Der Streit, den Christus bringen, das Feuer, das er auf die Erde werfen möchte, bezieht sich gerade auf den Konflikt um ihn selber, und dieser Streit hat den Herrn ans Kreuz gebracht. Und weil ‚extra Christum nulla salus‘ sachidentisch ist mit ‚extra ecclesiam nulla salus‘, ist der christologische Urkonflikt zugleich der Streit um den Begriff der Kirche als corpus Christi mysticum. Erst in Christus, das heißt: erst in der übernatürlichen Lebensgemeinschaft der Christen mit Christus im Heiligen Geist sind wir so geeint, wie Gott die Menschen geeint sehen will, und deshalb sind in der Heiligen Schrift und der dogmatischen Tradition die Bezeichnungen ‚Kinder Gottes‘ und ‚Schwestern und Brüder‘ für die reserviert, die durch den Glauben und die Sakramente in Christus eingegliedert sind und Christi Kirche bilden.
Zur Verdeutlichung der Relevanz dieses Zusammenhanges bietet es sich an, auch noch Leos Ansprache bei der kürzlichen Tagung „Raising Hope for Climate Justice“ einzubeziehen. Die zentralen Referenzdokumente Leos sind jetzt Bergoglios „Laudato Si“ und „Laudate Deum“. Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, dass der Tagungstitel unkritisch die neomarxistisch geprägte Vokabel der „Klimagerechtigkeit“ übernimmt, und auch nicht darum, dass Leo sich mit dem von ihm ebenso unkritisch vorausgesetzten Topos des menschengemachten Klimawandels gefährlicherweise auf ein Feld begibt, auf dem die Kirche keinerlei spezifische Kompetenz besitzt. Weit bedeutender ist, dass Leo das Projekt der „ganzheitlichen Ökologie“ und des Hörens auf den berühmten „Schrei der Erde“, in dessen Zusammenhang er die Rede von der „einen Familie mit einem Vater“ erneut bemüht, mit der christlichen Botschaft selber identifiziert. Ausdrücklich spricht Leo davon, dass die „ökologische Umkehr“ sich „nicht von jener Umkehr unterscheidet, die die Gläubigen auf den lebendigen Gott ausrichtet“.
Worin besteht hier das eigentliche Problem? Das Problem besteht nicht darin, dass Leo ökologische Fragen als sittliche Probleme identifiziert und sich dazu prominent äußert. Und selbstverständlich gelten die Maximen des natürlichen Sittengesetzes ebenfalls für Katholiken, und kein vernünftiger Christ wird bezweifeln, dass wir uns um die ‚Bewahrung der Schöpfung‘ bemühen und allen Lebenwesen im Rahmen unserer Möglichkeiten gerecht werden müssen. Das Problem besteht vielmehr darin, dass Leo nicht zu begreifen scheint, dass etwas sehr wohl konstitutiv zum christlichen, also zum katholischen Glauben hinzugehören kann, ohne dass es spezifisch katholisch ist. Diese Differenzierung ist aber von alles entscheidender Bedeutung. Sittliche Fragestellungen sind weitgehend die Domäne der philosophischen Vernunft, und die christliche Theologie besitzt in der Behandlung der allermeisten sittlichen Gegenstände keine besondere Autorität. Niemand geringerer als Thomas von Aquin bringt das zur Geltung. Die eigentlich neutestamentliche Ethik ist von der philosophischen Ethik kategorial verschieden, man darf das nicht vermengen. So sind der Ruf zur Kreuzesnachfolge oder das, was die klassische Moraltheologie ‚Werke der Übergebühr‘ genannt hat, die in so großen Heiligen wie Maximilian Kolbe anschaulich werden, nicht philosophisch generalisierbar. Das, was Maximilian Kolbe im Konzentrationslager für den verheirateten Mann getan hat, darf man sittlich gar nicht von jedem verlangen; sein Akt entspringt dem übernatürlichen Glauben an Jesus Christus und dem Wunsch, sich dem Herrn zu verähnlichen.
Damit ist nun schon das Spezifische umrissen, das Leo irrsinnigerweise preisgibt. Denn das Spezifische macht gerade den Wesenskern einer Sache aus. Wenn ich etwas verstehen will, muß ich nicht primär fragen, was es mit allen anderen Dingen unterschiedslos gemeinsam hat, sondern was sein proprium ist. Das proprium des christlichen Glaubens ist Jesus Christus und unsere Umkehr zu dieser Person, die die inkarnierte zweite Person der Gottheit ist. Genau mit diesem Aufruf zur Bekehrung läßt das Neue Testament den Auftritt des Messias beginnen: Kehrt um und glaubt an das Evangelium, denn das Reich Gottes ist – in Christus selber – nahe. Wenn Leo aber dieses proprium mit der „ganzheitlichen Ökologie“ und der „ökologischen Umkehr“ identifiziert, löst er den Kern der christlichen Botschaft ins bloß Allgemeine auf. Christen reden dann in ihrem Wesenkern nur noch von dem, von dem ohnehin alle reden, und das heißt nichts anderes, als dass sie mit ihrem Spezifikum ihre Identität verlieren. Genau darin bestand der Schrecken des Bergoglio-Pontifikates.
Bergoglio war aber konsequenter als Prevost. Er hat nämlich nie so von Christus geredet, wie Leo an anderen Stellen durchaus von Christus redet. Für Papst Bergoglio war, und zwar stringenterweise, Jesus nur noch der humanitaristische und sozialistische Jesus des „todos, todos, todos“, also derjenige, dessen Programm nur noch identisch war mit dem natürlichen Projekt der universalen Geschwisterlichkeit und der „ganzheitlichen Ökologie“. Nach Bergoglios expliziter Auskunft soll dieses Projekt vorgeblich Gottes eigentliche Zwecksetzung – die Realisierung des Gelobten Landes – sein.4 Und jetzt macht sich Leo diese Rhetorik emphatisch zu eigen – und fällt sich damit selber, vermutlich ganz unreflektiert, in den Rücken. Die beiden Aussagereihen Leos sind logisch unsynthetisierbar.
Aufgrund ihrer Identitätsrelevanz möchte ich noch etwas bei dieser Frage verweilen und zugleich zeigen, warum die Auflösung des Spezifischen nicht nur den Ruin der Kirche bedeutet, sondern auch, vielleicht gegen den ersten Anschein, der Welt selber den größten Schaden zufügt. Denn wovon redet das proprium christianum? Negativ gefragt: Was übergeht die in der Kirche selber inflationär gewordene unterschiedslose Rede von den ‚Brüdern und Schwestern‘ und der Identität von ökologischer und christlicher Umkehr, von der universalen natürlichen Brüderlichkeit und dem Gelobten Land? Diese Rede verschweigt grundlegend die zentrale anthropologische Wahrheit, dass die Natur des Menschen wesenhaft auf die Übernatur hingeordnet ist. Diese Hinordnung ist das, was den Menschen zur geistigen Person macht und ihm seine besondere Würde gibt. Abstrahiert von seiner inneren Hinordnung auf die gratia Christi wäre der homo naturalis, hier folge ich den Analysen des Philosophen Max Scheler5, nichts anderes als ein ‚findiges Tier‘. Diese Würde ist zugleich des Menschen eigentliche Bedürftigkeit, denn er ist zur Erfüllung seiner eigenen Natur auf die freie Gnade Gottes angewiesen, die Gott ihm in Christus gewährt und die ihn über das Reich dieser Natur unendlich hinaushebt und Gott verähnlicht. Das meint Augustins ‚unruhiges Herz‘, das erst in Gott seine Ruhe findet. Und das ersehnte In-Gott-Sein ist das In-Christus-Sein: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14, 6). Das, was Leo wie Bergoglio verschweigen, ist also die für den Menschen – und zwar als Menschen – entscheidende christologische Sphäre. Denn erst in der Gnade Christi und durch die Eingliederung in den corpus Christi mysticum erlangt der Mensch jene „Fülle“, auf die er immer schon hingeordnet ist: Von Anfang an hat der Vater beschlossen, in Christus „alles zu vereinen, was im Himmel und auf Erden ist“, um so „die Fülle der Zeiten heraufzuführen“ (Eph 1, 10). Außerhalb Christi ist die bloße Welt lediglich das, als was Paulus sie bezeichnet: „Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen“ (Phil 3, 8).
Deswegen muß man dem Papst gegenüber zur Geltung bringen, dass im Blick auf die anderen Religionen und die vorgebliche „Menschheitsfamilie“ nicht die Konfliktvermeidung und „der Friede unser sehnlichster Traum“ sein kann. Der sehnlichste alle Träume muß sich auf den Sieg der Wahrheit Christi richten, mit dem es erst das wahre Menschsein des Menschen und so erst den echten Frieden gibt. Wer, wie Papst Leo in dem Interviewbuch, von sich sagt: „Ich glaube fest an Jesus Christus, und das ist meine Priorität, denn ich bin der Bischof von Rom und Nachfolger Petri, und der Papst muß den Menschen helfen zu verstehen, besonders den Christen, den Katholiken, daß genau das unser Wesen ist“, darf weder derartige interreligiöse Grußworte formulieren noch die Botschaft des Glaubens mit der bloß natürlichen Sittlichkeitssphäre identifizieren. Der Papst soll vielmehr um des menschlichen Heiles willen genau das tun, was Leo selber sagt: er soll lehren, dass der Mensch nur in der Gnade Christi in seiner eigenen Wahrheit ist. Deswegen ist allein die inkarnierte zweite Person der Gottheit der wahre Mensch, und wir selber werden wahre Menschen im Maße unserer Vereinigung mit Christus. Der Papst muß stringent sein und davon sprechen, dass außer in Jesus Christus „in keinem anderen das Heil zu finden ist. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.“ (Apg 4, 12) Deshalb müssen „alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu“ (Phil 2,10).
Auf genau die beschriebene Selbstaufhebung der christlichen Botschaft läuft die ganze liberale Theologie hinaus, die Bergoglio auf die Spitze getrieben hat. An dieser Stelle kann ich nur noch einmal die ungeheure Dringlichkeit dieses Punktes hervorheben. Mit ihm steht und fällt die Identität des christlichen Glaubens; der Christ kann gar nicht mehr von einer von Christus abstrahierenden ‚Natürlichkeit‘ sprechen. Dem Christus geht es um nichts weniger als diese Natürlichkeit. Ihm geht es vielmehr um unsere Integration in das innergöttliche Leben, durch die er den Vater verherrlicht. Wir sind entweder in Christus und damit in seinem mystischen Leibe, oder wir sind schlechterdings verloren. Die leoninische Rhetorik der zitierten Ansprachen ist signifikanterweise von Bischof Bätzing, der den übernatürlichen Glauben komplett hinter sich gelassen hat, bei seiner Eröffnungspredigt der Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe begierig aufgegriffen worden. Das Christusbekenntnis des Robert Francis Prevost hilft den Gläubigen wenig, wenn seine päpstlichen Statements doch immer wieder in jenem theologischen Sumpf landen, der das angestammte Habitat seines Vorgängers war.
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Nun zur liturgischen Frage. Es scheint in traditionalistischen Kreisen eine verbreitete Meinung zu sein, dass der Papst keine Autorität besitzt, den Ritus zu ändern. Vorzüglich wird die Montini-Reform des Messritus als ein illegitimer Vorgang zurückgewiesen, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern eben auch hinsichtlich des formalen Kompetenzaspektes. Allerdings wird der formale Gesichtspunkt hier deswegen so vehement betont, weil der Novus Ordo aus theologischen (und ästhetischen) Gründen abgelehnt wird. Das vorgebrachte primäre Argument gegen die Reform durch die kirchliche Autorität ist jedoch zumeist der autoritäre Gesichtspunkt, dass die Liturgie ein verbindliches, unwandelbares Moment der Tradition und eine letztlich vom Heiligen Geist der Kirche gegebene normative Größe sei, die reformerische Zugriffe verbiete. Um das zu unterstreichen, ist es bei Altrituellen beliebt, von der ‚Messe aller Zeiten‘ zu reden.
Ich halte diese Unwandelbarkeitsemphase für inkorrekt. Wenngleich die Liturgie in deren theologischem Wesen in der Tat etwas Empfangenes ist, gibt es doch die beschworene ‚Messe aller Zeiten‘ nicht. Sie gibt es nicht nur historisch, sondern auch logisch nicht. Die Liturgie ist kein deduktives mathematisches oder philosophisches System, sondern eine Größe, deren Bestimmungen nicht apriori trennscharf gemacht werden können. Die Gestaltung der Liturgie gehört zur Sphäre der von den Griechen sogenannten ‚synadeischen‘ Erwägungen, also in den Bereich der Angemessenheitsurteile. Diese Urteile, die sich auf die vielzähligen Einzelmomente der Liturgie in deren möglichst kohärenter Zusammenfügung beziehen, sind ihrer Natur nach schon deshalb fluide, weil ihre Bildung innerhalb prinzipiell kontingenter, historischer Zusammenhänge wie sprachlicher Semantiken und kultureller Symboliken erfolgt, die sich in komplexen inner- und interkulturellen Prozessen ständig, wenngleich zumeist langsam transformieren. Die Liturgie ist fundamental bereits von den epistemischen Voraussetzungen her kein monolithischer Block, der unmittelbar vom Himmel auf die Erde gefallen ist und uns nun für alle Zeiten unbeweglich vorgegeben ist. Solche Vorstellungen sind bloße Imaginationen. Ich habe den leisen Verdacht, dass etwa die Apostel noch nicht im Ritus der ‚Messe aller Zeiten‘ zelebriert haben könnten.
Schon aus dem genannten epistemischen Grund finde ich die Auffassung nicht einsichtig, dass die kirchliche Autorität schlechterdings keinen reformerischen Zugriff auf die Liturgie haben darf. Die Zugriffsmöglichkeit des Weiheamtes auf den Ritus muß es meines Erachtens sogar geben, weil diese Kompetenz ja nicht nur mit Mißbräuchen durch den ideologischen Liberalismus identifiziert werden darf, sondern ebenfalls bekömmliche Korrekturen schleichender Hypertrophierungen und Kolonialisierungen der Liturgie beispielsweise durch volkstümliche Sentimentalitäten vornehmen kann. Viele Väter des letzten Konzils wollten etwa, das ist den Eingaben der Bischöfe an die Vorbereitungskommission entnehmbar, die allmählich gewachsene Überladenheit der alten Pontifikalämter reduzieren. So etwas ist doch ein gut nachvollziehbarer, völlig legitimer Vorgang. Ich denke, dass man das Problem, das es offenkundig mit dem Novus Ordo gibt, nicht dadurch lösen kann, dass man dem kirchlichen Amt generell jede Modifikationskompetenz des Ritus abspricht. Diese Forderung ist zwar vor dem Hintergrund der nachkonziliaren liturgischen Traumata psychologisch nachvollziehbar, aber die Idee ist zu unterkomplex. Es wird auch in der Zukunft kein formales Prinzip geben, das in liturgischen Fragen Fehlentscheidungen und Mißbräuche durch das Amt definitiv verhindern kann.
Damit komme ich zu Prevosts Begriff der Liturgie und des Ritenkonfliktes. Der entscheidende Passus des Leo-Interviews lautet: „Ich weiß, dass dieses Thema – leider – wieder Teil eines Polarisierungsprozesses geworden ist. Die Liturgie wird von manchen als Vorwand benutzt, um andere Themen voranzutreiben. Sie ist zu einem politischen Instrument geworden, und das ist sehr bedauerlich. Ich denke, dass etwa der – sagen wir – mißbräuchliche Umgang mit der Liturgie des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht hilfreich war für Menschen, die eine tiefere Gebetserfahrung suchten, … die sie offenbar in der Feier der tridentinischen Messe zu finden glaubten. Wieder einmal sind wir in eine Polarisierung geraten, statt zu sagen: Wenn wir die Liturgie des Zweiten Vatikanischen Konzils richtig feiern, stellen wir dann wirklich so große Unterschiede zwischen dieser und jener Erfahrung fest?“
An diesen Ausführungen stört mich nicht, dass Papst Leo Modifikationen des Ritus prinzipiell für legitim hält, sondern der anthropozentrische Funktionalismus, mit dem er den Ritus und die rituellen Gestaltungsfragen betrachtet. Und mit diesem Funktionalismus ist die gesamte Pathologie der modernen, allemal der spätmodernen Kirche thematisch. Hier muß ich einräumen, dass dieser Krankheitszusammenhang von kaum jemandem schärfer erkannt worden ist als von Joseph Ratzinger, an dessen Theologie ich ansonsten einiges auszusetzen habe. Ratzinger hat die Krise der Liturgie mit der Krise der Kirche überhaupt identifiziert, und das zu Recht. Denn der Verfall der Liturgie rührt primär daher, dass die rituellen Änderungen nach dem Konzil stets unter der die Liturgie vorgeblich definierenden Maßgabe des funktionalistischen Kalküls vorgenommen wurden, was wohl im Blick auf die „Erfahrungen“, das heißt die unmittelbaren Bedürfnislagen der Menschen jeweils „hilfreicher“ ist. Und genau so denkt Leo ja auch noch, wenn er vermutet, dass manche dieser Modifikationen für die Befriedigung der spirituellen Bedürfnisse vielleicht doch nicht „hilfreich“ waren und es effizienter gewesen wäre, man hätte an anderen Stellschrauben rumgedreht oder ab bestimmten Punkten mit der Rumdreherei aufgehört. Wir treffen in dieser Argumentationskette immer auf den identischen Kategorienzusammenhang, auch dort, wo Leo den Novus Ordo auf Latein anpreist, weil er vermutet, dass das erhabenere Latein doch auch in der Montini-Messe zu guten „Erfahrungen“ führen könne.
Zu Recht diagnostiziert Papst Leo, dass die Liturgie „von manchen als Vorwand benutzt wird, um andere Themen voranzutreiben“. Aus dem Bergoglio-Lager wird dieser Vorwurf gern gegen die Altrituellen erhoben, und weiland war bereits Marcel Lefebvre mit ihm konfrontiert. Das ist aber in hohem Maße ungerecht, denn wenn der Ritus irgendwo an sich selbst wertgeschätzt wird, dann hier. Um das zu erkennen, muß man selber gar kein leidenschaftlicher Parteigänger des Ordo Antiquus sein. Die Politisierung der Liturgie ist vielmehr ein nahezu originäres Geschäft des links-liberalen Blocks. Sie rührt vorzüglich daher, dass die Liturgie wie keine andere kirchliche Praxis wiederum Einfluß auf das Glaubensbewußtsein der Gläubigen besitzt. Bei einem heftigen Streit mit einer amerikanischen feministischen Theologin sagte mir die Dame vor großem Publikum ganz ungeniert, dass man sich von revolutionärer Seite deswegen so stark auf die Liturgie kapriziere, weil vom Ritus ungleich stärkere Veränderungsimpulse in die Breite des Kirchenvolkes ausgehen würden als von tausend Büchern, die die meisten ohnehin nicht lesen. Da hat sie Recht.
Um zu Leo zurückzukommen: So sehr Leos Diagnose der politischen Instrumentalisierung der Liturgie also berechtigt ist, muß man doch zugleich sagen, dass er selber bedauerlicherweise ebenso mit instrumentell-funktionalistischen Erwägungen operiert. Weil dieser Punkt des Funktionalismus von zentraler Relevanz ist, möchte ich ihn noch etwas näher erläutern.
Funktionalismus bedeutet, dass eine Sache in ihrem Wesen durch die Funktion definiert wird, die sie für Zwecksetzungen außerhalb ihrer selbst besitzt. Die Kritik an funktionalistischen Begründungen bei theologischen Gegenständen bedeutet jedoch nicht, in Abrede zu stellen, dass es in unserem Gottesverhältnis und so auch im Bereich der Liturgie für den Menschen bedeutsame Effekte gibt und geben darf. Natürlich besitzt Gott für uns unverzichtbare Funktionen. Es gibt, das hat Kierkegaard berechtigterweise scharf kritisiert, ein Verständnis von Theozentrik, in dem der Mensch meint, er selber sei völlig gleichgültig und müsse sich in seinem Gottesverhältnis gewissermaßen eliminieren. Demgegenüber bringt Kierkegaard zur Geltung, dass er gerade im religiösen Verhältnis niemals von der „unendlichen Leidenschaft für sich selbst“ und von der sich aus dieser Leidenschaft notwendig ergebenden Frage „Was wird aus mir in Ewigkeit?“ ablassen würde. Tatsächlich können wir dieses Interesse für uns selbst gar nicht preisgeben, weil wir uns selber definitiv gegeben sind und als Personen niemals hinter uns selber zurückschreiten können. Ein solcher Versuch wäre das Programm einer schlechten Selbstlosigkeit.
Die Sache ist aber komplex und kann nur dialektisch formuliert werden. Ein gutes Verdeutlichungsbeispiel ist die Freundschaft, von der Aristoteles ganz richtig sagt, sie halte für uns so wichtige Güter bereit, dass ein Leben ohne Freunde gar nicht lebenswert sei. Und oftmals, so Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, „vermögen wir nur durch unsere Freunde, was wir aus uns selbst nicht vermögen“. Jetzt gibt es Leute, die ahnen das und wollen wegen dieser in der Freundschaft liegenden Güter unbedingt Freunde haben. Sie werden niemals Freunde finden. Denn einen Freund findet man nur, wenn man, wie Aristoteles sagt, „dem Freund um des Freundes willen das Gute wünscht“. Das ist der dialektische Zusammenhang: Die wohltätigen, dringend benötigten Funktionen stellen sich nur dann ein, wenn man es im Begründungsansatz etwa der Freundschaft gar nicht auf diese Effekte abgesehen hat. Freundschaft entsteht durch Liebe, also durch Selbstlosigkeit, nicht durch funktionalistisches Kalkül. Das Benötigte darf im Ansatz der Sachbestimmung nur ein nichtintendierter Nebeneffekt sein. Die „unendliche Leidenschaft für sich selbst“ kommt erst dann zu ihrem eigenen Ziel, wenn sie den Schritt über sich hinaus macht und den anderen um des anderen selber willen bejaht. Erst dann, wenn der Andere selber nicht durch seine Funktion für mich bestimmt ist, ist der des Anderen gleichwohl konstitutiv bedürftige Eine, um mit Hegel zu reden, im Anderen bei sich selbst.
Und genau dieses dialektische Gesetz gilt zuhöchst im Blick auf Gott. Der Mensch benötigt Gott, aber er benötigt ihn gerade als einen solchen, der nicht durch seine Funktion für mich definiert ist. Die Tradition bringt das dadurch zum Ausdruck, dass sie sagt, Gott sei des Menschen unbedürftig und er verherrliche sich in all seinen Akten selber. Und deswegen muß Gott um seiner selbst willen dem Menschen interessant werden. Das ist präzise die Botschaft der christlichen Mystik: Die egozentrische Funktionalisierung Gottes zu lassen und Gott einfach um seiner selbst willen zu verherrlichen. Und wenn ein Mensch diesen Schritt über sich hinaus vollzieht und das anthropozentrisch-funktionalistische Paradigma hinter sich läßt, wird er frei und mit dem unendlichen Reichtum der Gottheit beschenkt – aber nur dann. Unter dieser Voraussetzung der dialektischen Einheit von Selbstbezüglichkeit und Selbstlosigkeit, die das Wesen der Liebe definiert, könnte Kierkegaard die Antwort auf seine Frage „was wird aus mir in Ewigkeit?“ am Glasschrein der unverwesten Bernadette Soubirous in Nevers finden. Sie hat die Gottesmutter leidenschaftlich geliebt und ist in eben diesem Modus der Selbsttranszendenz in ihrem Anderen umfänglich bei sich selbst.
Die Konsequenzen für den Begriff der Liturgie sind ziemlich evident. Die Messe ist substantiell die Vergegenwärtigung des Opfers Christi, das die inkarnierte zweite Person der Gottheit im Heiligen Geist zur Verherrlichung des Vaters darbringt und in das Gott uns integrieren will. Darum darf auch das Wesen der Liturgie nicht durch deren anthropologische Funktionalität definiert werden. Vielmehr müssen die gesamten liturgischen Erwägungen darum kreisen, welche rituellen Elemente dieses innertrinitarische Geschehen der Selbstverherrlichung Gottes im Opfer des Lammes, in das die Kirche aufgenommen wird, kultisch am angemessensten realisieren. Es geht um Gottes Verherrlichung, um die Anbetung dessen, der, ich möchte das wiederholen, nicht durch seine Funktionalität für uns bestimmt ist. Und erst dann kann die Liturgie für den Menschen überhaupt heilsam werden, weil er in ihr dem selbstzwecklichen Mysterium der Gottheit begegnet. Die Kirche ist mittlerweile aber so sehr von der Anthropozentrik und dem funktionalistischen Paradigma des modernen Bewußtseins infiltriert, dass auch die Päpste seit Montini – mit Ausnahme Ratzingers – und oftmals selbst die traditionalistischen Verteidiger des Ordo Antiquus in den Bahnen dieses Paradigmas laufen. Die Gesundung der Kirche wird jedoch davon abhängen, ob der Gedanke der Selbstzwecklichkeit Gottes wieder ganz gedacht wird.
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Ich komme zu meinem letzten Punkt, mit dem ich mich direkt auf Caminante beziehe. Er ist der Ansicht, dass Prevost der Papst ist, den die Kirche heute benötigt. Und zwar hält Caminante ihn deswegen für die beste Wahl, weil Leo zurückhaltend, zuhörend, ausgleichend und mit seinem „gemäßigten Progressismus“ schismaverhindernd sei. Denn, so Caminante, bei einem pointiert progressistischen Papst wären die Konservativen ins Schisma gegangen und bei einem pointiert konservativen Papst „hätten die Progressiven das Weite gesucht“. Dieser Pontifex ist nach dem nun ebenfalls brückenbauenden Caminante also „womöglich die letzte Chance, um eine neue Reformation zu verhindern“.
In einem nachfolgenden Artikel hat Caminante das Motiv für sein bemerkenswertes Schutzplädoyer für Papst Leo aufgeklärt.6 Er möchte mit seiner begütigenden Sicht auf Leo dazu beitragen, dass die Altrituellen ihre massiv anwachsende Leo-Kritik jetzt aus Klugheitsgründen mäßigen, um die angekündigten Gespräche über den tridentinischen Ritus nicht zu gefährden. In der Tat wäre es etwas ungünstig, wenn diese Gespräche von lautstarken Anfeindungen des Papstes just aus dem traditionalistischen Feld begleitet würden.
So sehr ich im Blick auf die Ritusgespräche die Klugheitsforderung Caminantes nachvollziehen kann, bin ich mit der Schisma-Phobie nicht einverstanden. Wir müssen doch, um nochmals Kierkegaard zu bemühen, den Mut aufbringen, auch unsere eigenen Gedanken ganz zu denken. Worüber haben wir denn die letzten Jahre immer und immer wieder gepredigt? Was ist denn der Gegenstand der ebenso scharfsinnigen wir zornigen Analytiken Caminantes, die etwa den argentinischen Bischöfen gelten? Wir haben substantiell von nichts geringerem gehandelt als davon, dass das Schisma in der Sache längst existiert. In den elementaren Fragen des katholischen Glaubens, vorzüglich der Christologie, der Opferlehre, des Ritusbegriffs und der Ekklesiologie, gibt es zwischen uns und den Links-Liberalen wie Bätzing, Tucho, Cupich, Marx, Hollerich und den unzähligen gleichgearteten Klerikern und Theologen bei nüchterner Betrachtung doch gar keine Gemeinsamkeit mehr. Wir leben in völlig verschiedenen Kosmen, die – aus der traditionellen Perspektive – nur noch durch die Sakramentenobjektivität des ‚ex opere operato‘ dürftig zusammengehalten werden.
Bislang ist dieses faktische Schisma nur noch nicht formell ausgesprochen und institutionell manifest worden. Ist das aber ein Vorteil? Ich denke nicht. Es handelt sich dabei vielmehr um eine verzweifelte Verschleierung des Grabens, die dessen zerstörerische Wirkungen auf die Kirche lediglich verstetigt und intensiviert. Die Kirche hatte bis zum letzten Konzil immer den Mut, ihre Gedanken ganz zu denken und faule Glieder abzuschneiden. Die Anathematisierung gehört schon für Paulus zum Auftrag des Amtes. Ich selber würde mir sehr wünschen, dass die fraglichen Leute endlich als das förmlich qualifiziert werden, was sie sind, und daraufhin „das Weite suchen“. Die zahlreichen Mitglieder dieses Milieus werden sich, vielleicht bis auf wenige Ausnahmen, geistig niemals mehr verändern – und sie haben mittlerweile, das wird in der Kirche in Deutschland besonders anschaulich, repressive Machtstrukturen und Seilschaften etabliert, die dringend zerschlagen werden müssen. Ich meine, es wäre gerade an der Zeit, dass das päpstliche Amt all diese gräßlichen Gestalten formell exkommuniziert und eine echte Re-formation der Kirche betreibt.
Passierte das, was vermutlich nicht passieren wird, würde es eine erhebliche Bewegung geben, und die katholische Kirche würde effektiv vermutlich deutlich kleiner. Große Verwirrungen entstünden zunächst. Möglicherweise müßte ein kompromißloser und kämpferischer Papst, der das vierte Kapitel des zweiten Timotheusbriefes wieder ernst nähme, unter dem Druck der politischen Verhältnisse irgendwann sogar den Vatikan verlassen. Mir ist uneinsichtig, warum solche Verwerfungen unbedingt verhindert werden sollen. Wir dürfen diese Dinge nicht aus dem Blickwinkel des bürgerlichen Bewußtseins betrachten. Bestandserhaltung und Harmonie sind keine religiösen Kategorien, und der Begriff der Einheit ist ein logischer, kein politisch-psychologischer. Und fragt der Herr nicht selber: „Wird der Menschensohn, wenn er wiederkommt, noch Glauben finden auf der Erde?“ (Lk 18, 8) Der Kirche ist offenbar keine blühende Zukunft in der Zeit garantiert.
In der Summe möchte ich sagen: Ich kann nicht valide beurteilen, ob Robert Prevost der geeignete Papst für die gegenwärtige Kirche ist. Bekanntlich sind die Wege des Herrn unergründlich, und der Heilige Geist wählt durchaus auch krumme Zeilen, um auf ihnen gerade zu schreiben. In meiner begrenzten Sicht kann ich jedoch Caminantes Einschätzung, jedenfalls momentan, nicht teilen; die Datenlage gibt das nicht her. Ich habe durchaus den Eindruck, dass Leo im Unterschied zu Bergoglio tatsächlich ein Christ im Sinne der Tradition sein will. Aber das Unheil kommt aus der Unfähigkeit oder dem fehlenden Mut, Gedanken ganz zu denken. Nicht zu erkennen, dass in einem System, und ein solches hat die Tradition genialerweise hervorgebracht, die Veränderung eines Momentes das gesamte Gefüge verändert. Ich befürchte, dass die ziemlich offensichtliche Neigung dieses Mannes zur gedanklichen Inkonsequenz das Substrat seines Ausgleichshabitus‘ ist, so dass dieser Habitus bei näherer Betrachtung weit weniger vorteilhaft ist als er zunächst erscheinen mag. In gewisser Weise ist das viel gefährlicher als die bergoglianische Grobheit, die auf ihre Weise klare Verhältnisse geschaffen hat. Leo wird, so vermute ich, vor allem dazu beitragen, die massiven Bruchlinien, die die Kirche durchziehen, eher zu übertünchen als wirklich aufzuarbeiten.
Bestehen möchte ich aber auf jeden Fall darauf, dass der Konflikt und die Krisis, also die Unterscheidung und womöglich auch die Trennung, das zentrale Existential der Kirche in der Zeit bilden. Bis Christus sie zur Gänze vollendet, muß sie, koste es, was es wolle, mit ihrem Herrn in dessen Krieg ziehen und diesen Krieg zu ihrem eigenen machen. Gerade dann, wenn sie um der Harmonie willen den Kampf verweigert, wird sie mit Sicherheit die schlimmsten Verluste erleiden. Wir sollten nicht vergessen, dass der Kriegsherr keine Mittelmäßigkeit schätzt: „Weil du lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ (Off 3, 16)
*Vigilius ist ein deutscher Philosoph und Blogger auf www.einsprueche.substack.com, wo diese Analyse auch erstveröffentlicht wurde.
Bild: bassilicasanpietro.va (Screenshot)
1 Caminante Wanderer, El libro sobre León XIV.: la-biografia und La entrevista a León XIV.
2 Diese Allianz wird gut beschrieben von Noam Petri und Franziska Sittig, Die intellektuelle Selbstzerstörung. Wie der Westen seine eigene Zukunft verspielt, Hannover 2025.
3 Joseph Ratzinger, Demokratisierung in der Kirche?, in: Joseph Ratzinger/Hans Maier, Demooratie in der Kirche, Limburg 1970, 31f.
4 So in seiner „Botschaft zur Fastenzeit“ 2024 „Durch die Wüste führt uns Gott zur Freiheit“.
Siehe die bisherigen Artikel von Vigilius zum Thema:
- Der große Verlust. Das Pontifikat des Jorge Bergoglio
- Ist Jorge Bergoglio ein Stratege?
- Papst Franziskus im „Tunnel der Freundschaft“
5 Max Scheler, Zur Idee des Menschen, in: Gesammelte Werke Bd. 3, Bern 1955, 174–193.
6 Caminante Wanderer, La prudencia, más necesaria que nunca en la defensa de la Misa.
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