
Pater Clodovis Boff übt in einem offenen Brief an die Bischöfe des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM scharfe Kritik. Er wirft den Bischöfen vor, das soziale Engagement über Christus, das religiöse Zentrum des Glaubens, zu stellen. Christus, so Boff, komme in ihren Botschaften kaum noch vor; zentrale christliche Wahrheiten wie die Auferstehung, die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, das ewige Leben oder die Gottesfrage würden vernachlässigt oder nur oberflächlich behandelt. Clodovis Boff sagte sich vor fast 20 Jahren, während des Pontifikats von Benedikt XVI., von der marxistischen Befreiungstheologie los, der sein Bruder Leonardo Boff noch immer anhängt.
Clodovis Boff warnt in seinem offenen Brief vor einer Kirche, die – losgelöst von Christus – zu einer „frommen NGO“ verkomme. Die Folgen seien sichtbar: leere Kirchen, schwindende Katholikenzahlen, geistlicher Verfall – ohne erkennbare Reaktion der Bischöfe.
Boff erkennt zwar an, daß manche Bischöfe in der Praxis geistlich differenzierter agieren, als es offizielle Texte zeigen. Dennoch identifiziert er drei Dissonanzen im CELAM-System: zwischen Bischöfen und Institution, zwischen Generalkonferenzen und Alltagspraxis sowie zwischen Bischöfen und den Autoren ihrer Dokumente.
Er appelliert leidenschaftlich an die Bischöfe, zur klaren, kraftvollen Christozentrik zurückzukehren – weil nur Christus als Zentrum die Kirche erneuern und retten könne. Er schließt mit einem sehr persönlichen Bekenntnis: Wie schon vor 20 Jahren beim Bruch mit der marxistischen Befreiungstheologie und seinem Bruder Leonardo Boff sei es ein innerer geistlicher Impuls, der ihn heute zum Schreiben gezwungen habe: „Genug! Ich muß sprechen.“
„Wenn ich es gewagt habe, mich direkt an euch zu wenden, liebe Bischöfe, dann deshalb, weil ich seit langem mit Bestürzung wiederholt erkenne, daß unsere geliebte Kirche in eine ernste Gefahr läuft: sich von ihrem geistlichen Wesen zu entfernen, was ihr selbst und der Welt schadet. Wenn ein Haus brennt, darf jeder rufen.“
Im Jahr 2007 markierte sein Text „Theologie der Befreiung und Rückkehr zum Fundament“ seine Abkehr von der marxistischen Befreiungstheologie: Darin kritisierte er, daß der Christusbezug durch ein rein soziologisches Verständnis der „Armen“ ersetzt wurde.
Seitdem vertritt Boff eine kritische Haltung gegenüber dem, was er als „innere Säkularisierung“ der Kirche bezeichnet, und warnt vor der Gefahr, sie auf eine bloße NGO zu reduzieren. In seinem offenen Brief warnt er die Bischöfe, daß sie sich seit 40 Jahren auf einem abschüssigen Pfad befinden, der die Kirche auf dem amerikanischen Kontinent in die tiefste Krise ihrer Geschichte geführt habe.
Die Kirche wirke nicht mehr geistlich oder religiös, sondern nur noch soziopolitisch wie eine NGO. „Die Kinder bitten um Brot – und ihr gebt ihnen Steine“ (vgl. Mt 7,9). Der weltliche Mensch sehne sich nach Spiritualität, doch die Bischöfe böten nur noch „das Soziale“ – das geistliche Angebot sei minimal, „gerade einmal ein paar Krümel“.
Damit nicht genug. So schriebt Clodovis M. Boff:
„Während die Laien sich freuen, Zeichen ihrer katholischen Identität zu zeigen (Kreuze, Medaillen, Schleier und Blusen mit religiösen Aufdrucken), gehen Priester und Ordensschwestern in die entgegengesetzte Richtung und erscheinen ohne jedes Erkennungszeichen.“
Boff bezweifelt, daß die Bischöfe wirklich den „Schrei des Volkes“ hören, von dem sie reden: Ihre Aussagen ähnelten mehr den Meinungen von Journalisten und Soziologen als einem Ruf nach Gott. Die Kirche rede nicht mehr von Christus und Erlösung, sondern von Ökologie, sozialer Gerechtigkeit, Frieden und anderen weltlichen Themen.
Boff stellt fest, daß die Bischöfe des CELAM nicht einmal dem folgen, was Papst Franziskus ihnen aufgezeigt hat, als er ihnen schrieb und betonte:
„Die dringende Notwendigkeit, daran zu erinnern, daß es der Auferstandene ist, gegenwärtig mitten unter uns, der die Kirche schützt und führt und sie in der Hoffnung stärkt.“
In dem Schreiben, mit dem der Bischofsrat Leo XIV. antwortete, finden sich keinerlei Hinweise auf diese päpstlichen Mahnungen. „Im Gegenteil: Anstatt ihn zu bitten, ihnen dabei zu helfen, in der Kirche die Erinnerung an den Auferstandenen lebendig zu halten und ihren Brüdern das Heil in Christus zu bringen, baten sie ihn darum, sie in ihrem Kampf für die Förderung von Gerechtigkeit und Frieden und bei der Anprangerung jeglicher Form von Ungerechtigkeit zu unterstützen. Kurz gesagt: Was sie dem Papst sagten, war die altbekannte Leier: ‚Soziales, Soziales …‘, als hätte er, der jahrzehntelang unter uns gewirkt hat, das nie gehört“.“
Pater Clodovis kritisiert den oberflächlichen Gebrauch religiöser Begriffe in den CELAM-Dokumenten. Zwar würden Begriffe wie „Gott“, „Christus“ oder „Evangelisierung“ erwähnt, doch es fehle ihnen an konkretem geistlichem Inhalt. Sie wirkten eher wie schmückende Zugaben in einem rein soziopolitisch zentrierten Diskurs. Christus werde so gut wie gar nicht erwähnt. Er verweist dazu auf das Konzil von Nicäa.
Boff beklagt, daß die Katholizität in Lateinamerika auf dem Rückzug sei, doch die Bischöfe würden schweigen. Er kritisiert ihr Schweigen angesichts des Niedergangs und erinnert an die prophetische Klage des Amos sowie an das Bild der „stummen Hunde“, wie es von Gregor dem Großen und Bonifatius gebraucht wurde.
Bevor er sich der Gottesmutter Maria anvertraut, schreibt Boff:
„Da wir unter Brüdern sind, will ich Euch ein letztes persönliches Bekenntnis machen. Nach der Lektüre Eures Schreibens geschah mit mir etwas, das ich vor fast 20 Jahren bereits erlebte: Als ich die ständigen Irrtümer der Befreiungstheologie nicht länger ertragen konnte, entstand tief in meiner Seele ein solcher innerer Drang, daß ich mit der Hand auf den Tisch schlug und sagte: ‚Genug! Ich muß sprechen‘. Es ist ein ähnlicher innerer Impuls, der mich heute veranlaßt, diesen Brief zu schreiben.“
Offener Brief an die Bischöfe des Lateinamerikanischen und Karibischen Bischofsrates (CELAM)
Liebe Brüder Bischöfe!
Ich habe die Botschaft gelesen, die Ihr am Ende der 40. Generalversammlung in Rio, Ende Mai, veröffentlicht habt. Welche frohe Botschaft habe ich darin gefunden? Verzeiht meine Offenheit: keine. Ihr, die Bischöfe des CELAM, wiederholt die immer gleiche Leier: sozial, sozial, sozial. Das macht Ihr seit über fünfzig Jahren. Liebe alte Brüder, merkt Ihr denn nicht, daß diese „Musik“ längst ermüdet? Wann werdet Ihr uns endlich die Frohe Botschaft von Gott dem Vater, Christus und seinem Geist verkünden? Von der Gnade und vom Heil? Von der Bekehrung des Herzens und der Betrachtung des Wortes? Vom Gebet und der Anbetung, von der Verehrung der Mutter des Herrn und ähnlichen Themen? Wann endlich werdet Ihr uns eine wahrhaft religiöse und geistliche Botschaft bringen?
Genau das ist es, was wir heute am meisten brauchen und worauf wir schon so lange warten. Mir kommen die Worte Christi in den Sinn: „Wenn die Kinder um Brot bitten, gebt ihr ihnen einen Stein?“ (Mt 7,9). Selbst die säkulare Welt ist der Säkularisierung überdrüssig und sucht nach Spiritualität. Doch nein – Ihr bietet ihr weiterhin nur das Soziale, immer wieder das Soziale. Und vom Geistlichen gebt ihr bloß ein paar Krümel. Dabei seid Ihr doch die Hüter des größten Schatzes – jenes, den die Welt am meisten braucht und den Ihr ihr verweigert. Die Seelen dürsten nach dem Übernatürlichen, und Ihr gebt ihnen das Natürliche. Dieses Paradox zeigt sich auch in unseren Pfarreien: Während Laien stolz ihre katholische Identität zeigen (Kreuze, Medaillen, Schleier oder Blusen mit religiösen Motiven), treten Priester und Ordensleute ohne jedes äußere Erkennungszeichen auf.
Und dennoch behauptet Ihr überzeugt, daß Ihr auf den „Schrei“ des Volkes hört und Euch der „Herausforderungen“ der heutigen Zeit bewußt seid. Hört Ihr wirklich zu – oder bleibt Ihr an der Oberfläche? Ich lese Eure Liste der heutigen „Schreie“ und „Herausforderungen“ und sehe nur das, was gewöhnliche Journalisten und Soziologen auch sagen. Hört Ihr nicht, wie aus den Tiefen der Welt ein gewaltiger Schrei zu Gott aufsteigt? Ein Schrei, den sogar viele nicht-katholische Analytiker schon vernehmen? Ist es nicht gerade Aufgabe der Kirche und ihrer Diener, diesen Schrei zu hören und ihm eine echte, umfassende Antwort zu geben? Die sozialen Schreie sind Sache von Regierungen und NGOs. Die Kirche darf sich dieser nicht entziehen – aber sie ist nicht die Hauptakteurin auf diesem Feld. Ihre eigentliche Aufgabe ist höher: nämlich gerade auf den Schrei nach Gott zu antworten.
Ich weiß, daß Ihr als Bischöfe Tag und Nacht unter dem Druck der öffentlichen Meinung steht, euch als „progressiv“ oder „traditionalistisch“, „links“ oder „rechts“ zu positionieren. Aber sind das angemessene Kategorien für Bischöfe? Sind sie nicht vielmehr „Männer Gottes“ und „Diener Christi“? Der heilige Paulus ist hier eindeutig: „Man soll uns betrachten als Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes“ (1 Kor 4,1). Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß die Kirche in erster Linie ein „Sakrament des Heils“ ist – und nicht bloß eine soziale Institution, ob progressiv oder nicht. Sie existiert, um Christus und seine Gnade zu verkünden. Das ist ihr Hauptziel, ihre größte und dauerhafte Verpflichtung. Alles andere ist zweitrangig. Verzeiht, liebe Bischöfe, wenn ich Euch an das erinnere, was Ihr längst wißt. Aber wenn Ihr es wißt – warum taucht es dann nicht in Eurer Botschaft oder allgemein in den CELAM-Dokumenten auf? Wer sie liest, kommt fast zwangsläufig zu dem Schluß, daß die Hauptsorge der Kirche auf unserem Kontinent nicht mehr die Sache Christi und seines Heils ist, sondern soziale Themen wie Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie – Themen, die Ihr in Eurer Botschaft wie eine Litanei herunterbetet.
Selbst das Schreiben, das Papst Franziskus über euren Präsidenten an den CELAM gesandt hat, spricht unmißverständlich von der „dringenden Notwendigkeit, sich daran zu erinnern, daß es der Auferstandene ist, der mitten unter uns lebt, die Kirche beschützt und führt und sie in der Hoffnung stärkt“, usw. Der Heilige Vater erinnert Euch auch daran, daß der eigentliche Auftrag der Kirche darin besteht, mit seinen eigenen Worten, „auf unsere Brüder und Schwestern zuzugehen, um ihnen die Heilsbotschaft Jesu Christi zu verkünden“. Aber was war Eure Antwort an den Papst? In eurem Antwortschreiben habt Ihr kein einziges Wort über diese Mahnungen verloren. Stattdessen habt Ihr ihn gebeten, euch zu unterstützen im Kampf für „Gerechtigkeit und Frieden“ und „gegen alle Formen der Ungerechtigkeit“. Kurz gesagt: Wieder die alte Leier – „Soziales, Soziales…“ –, als hätte er sie nicht schon unzählige Male gehört. Ihr sagt vielleicht: „Diese Wahrheiten sind selbstverständlich – man muß sie nicht ständig wiederholen.“ Das stimmt nicht, liebe Bischöfe. Man muß sie täglich mit neuem Eifer wiederholen, sonst geraten sie in Vergessenheit. Wenn es nicht nötig wäre, sie immer wieder zu sagen – warum hat Papst Franziskus sie dann betont? Wir wissen, was passiert, wenn ein Mann die Liebe seiner Frau für selbstverständlich hält und sie nicht mehr nährt. Umso mehr gilt das für den Glauben und die Liebe zu Christus.
Natürlich fehlen in Eurer Botschaft nicht die Vokabeln des Glaubens. Ich lese darin: „Gott“, „Christus“, „Evangelisierung“, „Auferstehung“, „Reich“, „Mission“ und „Hoffnung“. Aber sie stehen nur als allgemeine Begriffe im Text – ohne klaren geistlichen Inhalt. Vielmehr erinnern sie an die bekannte Leier: „Soziales, Soziales und Soziales“. Nehmen wir die zwei zentralsten Begriffe unseres Glaubens: „Gott“ und „Christus“. Das Wort „Gott“ taucht nur in Floskeln wie „Sohn Gottes“ und „Volk Gottes“ auf. Ist das nicht erstaunlich, Brüder? Das Wort „Christus“ erscheint nur zweimal – und beide Male am Rande. Einmal etwa im Zusammenhang mit dem Gedenken an das Konzil von Nicäa: „unser Glaube an Christus den Erlöser“ – ein in sich gewichtiger Satz, der jedoch in Eurem Text keinerlei Bedeutung erhält. Warum nützen wir diese dogmatische Wahrheit nicht, um mit neuem Feuer die Vorrangstellung Christi als Gott zu bezeugen – gerade heute, wo er in Verkündigung und kirchlichem Leben so wenig präsent ist?
Ihr erklärt zu Recht, daß Ihr eine Kirche wollt, die „Haus und Schule der Gemeinschaft“ ist, außerdem „barmherzig, synodal und im Aufbruch“. Wer wollte das nicht? Aber wo ist Christus in diesem idealen Kirchenbild? Eine Kirche, die nicht Christus als Grund ihres Daseins und Redens hat, ist – um es mit Papst Franziskus zu sagen – nichts anderes als eine „fromme NGO“. Ist das nicht der Weg, den unsere Kirche derzeit einschlägt? Im besten Fall werden Gläubige nicht agnostisch, sondern evangelikal. Jedenfalls verliert unsere Kirche ihre Schafe. Wir sehen leere Kirchen, Seminare und Klöster. In Lateinamerika gibt es sieben oder acht Länder, in denen Katholiken nicht mehr die Mehrheit bilden. Selbst Brasilien ist laut einem bekannten brasilianischen Autor [Nelson Rodrigues] „auf dem besten Weg, das größte ehemals katholische Land der Welt zu werden“. Und dennoch scheint Euch dieser stetige Niedergang nicht sehr zu beunruhigen. Mir fällt die Klage des Propheten Amos ein: „Ihr sorgt euch nicht um den Untergang Josefs“ (Am 6,6). Merkwürdig, daß Ihr in Eurer Botschaft zu diesem offenkundigen Rückgang kein Wort sagt. Noch erschreckender: Die nicht-katholische Welt spricht mehr über dieses Phänomen als die Bischöfe – die lieber schweigen. Man denkt dabei an den Vorwurf des heiligen Gregor des Großen über die „stummen Hunde“, den auch der heilige Bonifatius wiederholte.
Natürlich gibt es in unserer Kirche nicht nur Niedergang, sondern auch Aufbruch. Ihr selbst schreibt, daß die Kirche „kraftvoll weiterlebt“ und „Samen der Auferstehung und Hoffnung“ hervorbringt. Aber wo sind diese Samen, liebe Bischöfe? Sie sind nicht im sozialen Bereich, wie Ihr vielleicht denkt, sondern im religiösen. Besonders in erneuerten Pfarreien sowie in neuen Bewegungen und Gemeinschaften – beseelt von dem, was Papst Franziskus die „Strömung der charismatischen Gnade“ nennt, deren bekanntester Ausdruck die katholische charismatische Erneuerung ist. Obwohl diese geistlichen Bewegungen unsere Kirchen – und die Herzen – am meisten füllen, wurden sie in Eurer Botschaft nicht einmal erwähnt. Doch dort, in diesem geistlichen Biotop, liegt die Zukunft unserer Kirche. Ein deutliches Zeichen dafür ist: Im sozialen Bereich sehen wir fast nur „graue Köpfe“ – im geistlichen Bereich hingegen strömen die Jugendlichen herbei.
Liebe Bischöfe, ich höre Euch schon innerlich empört reagieren: „Sollen wir etwa wegen solcher ‚spirituellen‘ Reden die Armen, die soziale Gewalt, die ökologische Zerstörung und andere soziale Dramen ignorieren? Wäre das nicht blind und sogar zynisch?“ Natürlich nicht; daß die Kirche sich solchen Nöten widmen muß, ist unbestritten. Aber die entscheidende Frage lautet: Tut sie das im Namen Christi? Wird ihr soziales Engagement wirklich vom Glauben getragen – ausdrücklich: vom christlichen Glauben? Wenn die Kirche sich in soziale Kämpfe einmischt, ohne daß ihr Tun von lebendigem christologischem Glauben durchdrungen ist, tut sie nichts anderes als das, was eine NGO tut. Dann wird sie noch „mehr vom Gleichen“ tun – und am Ende wird es schlimmer: Ihr soziales Engagement wird inkohärent. Denn ohne den Sauerteig eines lebendigen Glaubens verkommt der soziale Kampf – er wird ideologisch, dann repressiv. Genau davor hat Papst Paul VI. in Evangelii nuntiandi, Nr. 35 eindringlich gewarnt, als die „Befreiungstheologie“ aufkam – eine Warnung, die diese Theologie leider nicht verstanden hat.
Liebe alte Brüder, erlaubt mir, Euch zu fragen: Wohin wollt Ihr unsere Kirche führen?
Ihr sprecht viel vom „Reich“, aber was ist der konkrete Inhalt dieses „Reiches“? Da Ihr so oft davon redet, eine „gerechte und geschwisterliche Gesellschaft“ aufzubauen (eine weitere Eurer Litaneien), könnte man meinen, daß gerade diese Gesellschaft der zentrale Inhalt des von Euch beschworenen „Reiches“ sei. Ich verkenne nicht, daß darin ein Teil der Wahrheit liegt. Doch über den eigentlichen, zentralen Inhalt des „Reiches“ sagt Ihr nichts – nämlich daß es sowohl heute, in unseren Herzen, als auch morgen, in seiner Vollendung, gegenwärtig ist. In eurer Rede fehlt jede Eschatologie.
Zwar sprecht Ihr zweimal von „Hoffnung“, aber in einer derart vagen Weise, daß – angesichts der sozialen Ausrichtung Eurer Botschaft – wohl niemand, der dieses Wort aus Eurem Mund hört, dabei den Blick zum Himmel erheben würde. Ich bestreite nicht, liebe Brüder, daß auch für Euch der Himmel die „große Hoffnung“ ist. Aber warum diese Scheu, so offen und klar darüber zu sprechen, wie es viele Bischöfe der Vergangenheit getan haben – über das „Himmelreich“, über die „Hölle“, die „Auferstehung der Toten“, das „ewige Leben“ und andere eschatologische Wahrheiten, die dem Kampf in der Gegenwart so viel Licht und Kraft schenken und allem seinen letzten Sinn geben?
Natürlich ist das irdische Ideal einer „gerechten und geschwisterlichen Gesellschaft“ schön und großartig. Aber nichts läßt sich mit der himmlischen Stadt vergleichen (Phil 3,20; Hebr 11,10.16), deren Bürger wir durch unseren Glauben sind – glücklicherweise! –, und an der wir mitarbeiten. Ihr aber seid als Bischöfe sogar ihre hauptsächlichen Architekten. Ja, Ihr tragt auch zum Aufbau der irdischen Stadt bei, aber das ist nicht Eure eigentliche Kompetenz – diese liegt vielmehr bei Politikern und sozialen Aktivisten.
Ich möchte glauben, daß die pastorale Erfahrung vieler von Euch Bischöfen reicher und vielleicht auch vielfältiger ist als das, was aus Eurer Botschaft hervorgeht. Denn die Bischöfe unterstehen nicht dem CELAM (der ja lediglich ein Organ zu ihrem Dienst ist), sondern einzig dem Heiligen Stuhl – und selbstverständlich Gott. Sie haben daher die Freiheit, in ihren jeweiligen Diözesen jene pastorale Linie durchzusetzen, die sie für richtig halten. Das führt manchmal zu einer legitimen Dissonanz gegenüber der Linie des CELAM.
Man muß noch eine weitere Dissonanz erwähnen: die zwischen den umfangreichen Dokumenten der Generalversammlungen des CELAM und der engeren Linie des CELAM selbst. Und – mit Eurer Erlaubnis – füge ich eine dritte Dissonanz hinzu, die Euch noch näher betrifft: jene, die sich oft zwischen dem bischöflichen Lehramt und den theologischen Beratergremien ergibt – also zwischen den Bischöfen und den Redakteuren ihrer Dokumente.
Doch auch mit all diesen Differenzen, die uns ein sehr vielschichtiges Bild der Lage unserer Kirche vermitteln, scheint Eure Botschaft zum 70. Jubiläum des CELAM ein getreues Spiegelbild der Gesamtsituation unserer Kirche zu sein: einer Kirche, die das Soziale über das Religiöse stellt. Und Ihr, die Bischöfe des CELAM, habt Eure 40. Generalversammlung nutzen wollen, um Euren „Einsatz“ zu „erneuern“, auf genau diesem Kurs zu bleiben – das heißt, dem Sozialen Vorrang zu geben. Und Ihr habt beschlossen, diese Option mit aller Entschlossenheit und ausdrücklich wiederaufzunehmen, wie die dreifache Wiederholung der Wörter „erneuern“ und „Verpflichtung“ zeigt.
Ich verstehe, liebe Bischöfe – ohne irgendetwas rechtfertigen zu wollen –, daß Ihr Euch bei Eurer begründeten Sorge um das Soziale und dessen schmerzliche Dramen so stark darauf konzentriert habt, daß das Religiöse in den Hintergrund gerückt ist, ohne daß Ihr seine Vorrangstellung ausdrücklich leugnet. Doch dies war ein Prozeß, der fast unbemerkt und nicht ohne große Gefahr begann – schon in Medellín (auf der zweiten Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates 1968) – und bis heute andauert.
Ihr wißt jedoch aus Erfahrung, daß, wenn man das Religiöse nicht möglichst bald wieder aus dem Schatten herausholt und es durch Worte und Taten ins Licht stellt, seine Vorrangstellung unweigerlich verlorengeht. Genau das ist mit der Zentralfigur Christus geschehen: Sie wurde ins zweite Glied verdrängt. Wenn man Ihn heute noch als Herrn und Haupt der Kirche und der Welt bekennt, dann tut man es meist nur oberflächlich – wenn überhaupt. Der Beweis für diesen schleichenden Verfall liegt vor unseren Augen: der Niedergang unserer Kirche. Wenn wir auf diesem Weg weitermachen, werden wir weiter verfallen. Alles begann nicht etwa mit dem Rückgang der Gläubigenzahlen, sondern mit dem Rückgang des Glaubensfeuers – des Glaubens an Christus, das dynamische Zentrum der Kirche.
Wie Ihr seht, Brüder: Es sind die Zahlen, die uns alle herausfordern – Euch, die Bischöfe des CELAM, aber ganz besonders. Sie fordern Euch heraus, die allgemeine Linie unserer Kirche zu korrigieren, damit wir – durch eine erneuerte, glühende Option für Christus – in Qualität und Zahl wieder wachsen.
Deshalb: Es ist Zeit – und mehr als Zeit –, Christus aus dem Schatten zu holen und ihn ins volle Licht zu stellen.
Es ist an der Zeit, Ihm erneut den absoluten Vorrang zu geben: sowohl in der Kirche nach innen (im persönlichen Gewissen, in der Spiritualität und der Theologie) als auch nach außen (in der Evangelisierung, der Ethik und der Politik). Die Kirche unseres Kontinents muß dringend zu ihrem wahren Zentrum zurückkehren – zu ihrer „ersten Liebe“ (Offb 2,4). Einer Eurer Vorgänger, der heilige Bischof Cyprian, mahnte in prägnanten Worten: „Christus darf nichts vorgezogen werden“ (Christo nihil omnino praeponere). Wenn ich Euch das sage, liebe Bischöfe – verlange ich da etwas Neues? Ganz und gar nicht. Ich erinnere Euch einfach an das Grundlegendste unseres Glaubens, des „alten und immer neuen“ Glaubens: an die absolute Option für Christus, den Herrn; an die bedingungslose Liebe zu ihm, die von euch in besonderer Weise verlangt wird – so wie Christus es von Petrus verlangte (vgl. Joh 21,15–17).
Deshalb ist es dringend nötig, klar und entschlossen eine starke, systematische Christozentrik zu bezeugen und zu leben – eine wahrhaft überwältigende Christozentrik, wie es der heilige Johannes Paul II. formulierte. Es geht dabei keineswegs um einen entfremdenden „Christomonismus“ (bitte beachte diesen Begriff). Es geht vielmehr darum, eine offene Christozentrik zu leben, die alles durchdringt und verwandelt: die Menschen, die Kirche und die Gesellschaft.
Wenn ich mir erlaubt habe, mich direkt an Euch zu wenden, liebe Bischöfe, dann deshalb, weil ich schon seit langem – mit Bestürzung – wiederholt Signale wahrnehme, daß unsere geliebte Kirche in Gefahr ist, sich von ihrem geistlichen Wesenskern zu entfernen – zum Schaden für sie selbst und für die Welt. Wenn das Haus brennt, darf jeder schreien.
Da wir unter Brüdern sind, vertraue ich euch zum Schluß noch etwas Persönliches an:
Nachdem ich Eure Botschaft gelesen hatte, geschah in mir etwas Ähnliches wie vor fast zwanzig Jahren, als ich – unfähig, die ständigen Irrtümer der Befreiungstheologie länger zu ertragen – plötzlich tief im Innersten den Impuls verspürte, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und zu sagen: „Genug! Ich muß sprechen“.
Ein solcher innerer Antrieb veranlaßt mich heute, diesen Brief zu schreiben – in der Hoffnung, daß der Heilige Geist darin seine Hand im Spiel hat.
Indem ich die Mutter Gottes bitte, für Euch das Licht desselben Geistes zu erbitten, unterschreibe ich als Bruder und Diener:
P. Clodovis M. Boff OSM
Rio Branco (Acre), 13. Juni 2025, Fest des heiligen Antonius, Kirchenlehrer.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Portal Divina Misericordia (Screenshot)