„Jenseits der Aufklärung“ – das neue Buch des Freimaurer-Großmeisters Fabio Venzi

Die Unvereinbarkeit von katholischer Kirche und Freimaurerei – auch der englischen


Ständige Versuche, die Grundlagen der Freimaurerei zu verschleiern und die Vereinbarkeit mit der katholischen Kirche zu behaupten, die es jedoch nicht gibt.
Ständige Versuche, die Grundlagen der Freimaurerei zu verschleiern und die Vereinbarkeit mit der katholischen Kirche zu behaupten, die es jedoch nicht gibt.

Von Pater Pao­lo M. Siano*

Anzei­ge

Im Jahr 2024 ver­öf­fent­lich­te der Ver­lag Queen Kri­sti­an­ka aus Rom das Buch „Olt­re l’Illuminismo Trat­ta­to sul­la Libe­ra Mura­to­ria Tra­di­zio­na­le“ („Jen­seits der Auf­klä­rung. Abhand­lung über die tra­di­tio­nel­le Frei­mau­re­rei“, acht Kapi­tel, 479 Sei­ten), ver­faßt vom Groß­mei­ster der Regu­lä­ren Groß­lo­ge von Ita­li­en (GLRI) Fabio Ven­zi. Auf der Umschlags­in­nen­sei­te ist zu lesen, daß der Autor die „Opus“-Reihe des Ver­lags Set­ti­mo Sigil­lo lei­tet und außer­dem Mit­glied der Loge Qua­tu­or Coro­na­ti Nr. 2076 in Lon­don ist, der ersten frei­mau­re­ri­schen For­schungs­lo­ge der Welt, die der Ver­ei­nig­ten Groß­lo­ge von Eng­land (UGLE) untersteht.

Es ist erwäh­nens­wert, daß die­ses Buch von Groß­mei­ster Ven­zi bereits meh­re­re Aus­zeich­nun­gen erhal­ten hat. Am 28. Sep­tem­ber 2024 erhielt es in Sar­z­a­na (Pro­vinz La Spe­zia) den 12. Inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­preis für Poe­sie und Bel­le­tri­stik, eine Ehrung, die unter der Schirm­herr­schaft der Ita­lie­ni­schen Abge­ord­ne­ten­kam­mer ver­ge­ben wird. Der Arti­kel von Susan­na Muset­ti kann von der GLRI-Web­site her­un­ter­ge­la­den wer­den, die das Buch von Fabio Ven­zi als „dich­ten und muti­gen Essay“ lobt, der mit „der Geduld eines Archäo­lo­gen und der Weis­heit eines Ein­ge­weih­ten“ geschrie­ben wur­de. Ven­zi stellt in sei­nem Buch fest, daß die Frei­mau­re­rei kein Kind der Auf­klä­rung ist, son­dern ein „Initia­ti­ons­weg, der aus Sym­bo­len, Hei­lig­keit, Stil­le und vor allem Ver­ti­ka­li­tät besteht“. Muset­ti schreibt, die­ses Buch sei „ein Akt der Lie­be zur Tradition“.

Eini­ge Mona­te zuvor, am 23. Juni 2024, wur­de Fabio Ven­zis Essay „Jen­seits der Auf­klä­rung“ beim 49. Casen­ti­no-Lite­ra­tur­preis für Poe­sie, Bel­le­tri­stik, Sach­buch, Theater/​Kino in der Kate­go­rie „Histo­rio­gra­phie, Tra­di­ti­on und Eso­te­rikaus­ge­zeich­net. Auf You­tube sieht man im Video der Sen­dung „Maga­zi­ne“ vom 28. Juni 2024, die von Tele­tru­ria aus­ge­strahlt wur­de, die Höhe­punk­te der Preis­ver­lei­hung, dar­un­ter die Rede von Groß­mei­ster Ven­zi (ab Minu­te 44:29), der „die Ver­fol­gun­gen der katho­li­schen Kir­che“ gegen die Frei­mau­re­rei erwähnt (vgl. ab Min. 45:00) und sich dabei ins­be­son­de­re auf den Frei­mau­rer Tom­ma­so Cru­deli aus dem 18. Jahr­hun­dert bezieht (die Abtei von Pop­pi, in der die Ver­an­stal­tung statt­fand, befin­det sich nur weni­ge Meter von Cru­del­is Haus ent­fernt) und ihn als „ersten Mär­ty­rer der Frei­mau­re­rei“ bezeich­net (vgl. Min. 45:08 –45:12). Kurz dar­auf fügt Ven­zi über den Frei­mau­rer Cru­deli hinzu:

„Und Pater Ambro­gio Ambro­gi, der Inqui­si­tor, beschul­dig­te ihn im Pro­zeß der Häre­si­en in Glau­bens- und Reli­gi­ons­an­ge­le­gen­hei­ten. In der Tat ist die Frei­mau­re­rei, wie ich sie in die­sem Essay dar­stel­le, ein Aus­druck der christ­li­chen Eso­te­rik, die im 17. und 18. Jahr­hun­dert vie­le Ver­tre­ter in der west­li­chen Kul­tur hat­te“ (Min. 45:16–45:43).

Wen­den wir uns nun dem Buch von Groß­mei­ster Ven­zi zu und schau­en wir uns eini­ge Begrif­fe und Aus­sa­gen an, die an sich schon die Unver­ein­bar­keit zwi­schen der katho­li­schen Kir­che und der Frei­mau­re­rei deut­lich machen (obwohl der Groß­mei­ster selbst von der “Ver­ein­bar­keit“ über­zeugt ist und die­se auch betont…).

1. An den Ursprüngen der Freimaurerei: der theistische Rationalismus der Cambridge-Neuplatoniker

Das neue Buch des Groß­mei­sters
der Regu­lä­ren Groß­lo­ge von Italien

Der Deis­mus ist der Glau­be an einen Schöp­fer­gott, einen Ord­ner, der sich aber nicht offen­bart und nicht Vor­se­hung ist… Der Deis­mus ist eine Art Natur­re­li­gi­on (vgl. S. 108–110). Groß­mei­ster Ven­zi ist über­zeugt, daß die eng­li­sche Frei­mau­re­rei weder auf­klä­re­risch noch dei­stisch, son­dern the­istisch ist, d. h. sie glaubt an Gott als per­sön­li­ches Wesen, das sich offen­bart… Der The­is­mus der Frei­mau­re­rei (Glau­be an das höch­ste Wesen) ist der der Cam­bridge-Neu­pla­to­ni­ker oder „Lati­tu­di­na­ri­er“ (16./17. Jhdt.), d. h. der „the­isti­sche Ratio­na­lis­mus“ (vgl. S. 151, 169), der im Namen der „reli­giö­sen Inklu­si­vi­tät“ und damit der Tole­ranz gegen­über Reli­gio­nen, für die die Diver­genz der Leh­ren als Gut gewer­tet wird, auf Dog­men ver­zich­tet (vgl. S. 170). Sowohl die huma­ni­sti­schen Renais­sance-Neu­pla­to­ni­ker als auch die Cam­bridge-Neu­pla­to­ni­ker beja­hen auch „eine ‚Sophia Peren­ne‘, die die Ein­heit der ver­schie­de­nen histo­ri­schen Dar­stel­lun­gen der Wahr­heit auf­recht­erhält“ (S. 171f)… Die Cam­bridge-Neu­pla­to­ni­ker wol­len Frei­heit von Dog­men (vgl. S. 182) und stel­len „das Chri­sten­tum, die neu­pla­to­ni­sche Tra­di­ti­on und den Her­me­tis­mus der Renais­sance auf die­sel­be Ebe­ne“ (S. 190).

Ven­zi ist sich sehr wohl bewußt, daß „die Bezü­ge des Neu­pla­to­nis­mus auf die ‚Immer­wäh­ren­de Phi­lo­so­phie‘ vom katho­li­schen kirch­li­chen Appa­rat, aber auch vom pro­te­stan­ti­schen, nie begrüßt wur­den“ (S. 197).

Ich möch­te dar­auf hin­wei­sen, daß – selbst wenn wir (1) den the­isti­schen Ratio­na­lis­mus der Cam­bridge-Neu­pla­to­ni­ker (2) vom eng­li­schen Deis­mus und (3) von der Auf­klä­rung unter­schei­den wol­len –, es unbe­streit­bar ist, daß selbst der erste­re mit dem Glau­ben der katho­li­schen Kir­che unver­ein­bar ist. Die drei vor­ge­nann­ten phi­lo­so­phi­schen Strö­mun­gen ver­bin­det die Ableh­nung des Dogmas.

Zu Recht betont Groß­mei­ster Ven­zi das Vor­han­den­sein von Kon­zep­ten des Neo­pla­to­nis­mus (und damit des Her­me­tis­mus) in der Ritua­li­tät und Sym­bo­lo­gie der Frei­mau­re­rei des eng­li­schen Typs (Emu­la­ti­ons­ri­tu­al): „Weg der Ver­fei­ne­rung und des Auf­stiegs des Frei­mau­rers zum Gött­li­chen… Gott, der Archi­tekt und Geo­me­tri­ker des Uni­ver­sums… Licht als Ziel des Frei­mau­rers… Kon­tem­pla­ti­on der tran­szen­den­ten und mysti­schen Ver­ei­ni­gung… Die See­le der Welt… Die Kor­re­spon­denz zwi­schen Makro- und Mikro­kos­mos“ (s. S. 223–233).

2. Die transzendente Einheit der Religionen, oder Esoterik: coniunctio oppositorum

Groß­mei­ster Ven­zi erklärt, daß im „frei­mau­re­ri­schen Den­ken […] das Kon­zept der Reli­gio Peren­nis (eine tran­szen­den­te Ein­heit oder ein Zen­trum, eine ursprüng­li­che Sophia, in der die ver­schie­de­nen reli­giö­sen For­men, in denen sich das Gött­li­che mani­fe­stiert, sich nicht gegen­sei­tig aus­schlie­ßen, son­dern eine ein­zi­ge Wahr­heit aus­drücken), auf die sich der Frei­mau­rer bezieht, aus­ge­hend von der Annah­me einer ange­bo­re­nen Prä­dis­po­si­ti­on des Men­schen für das ‚Hei­li­ge‘ (in die­sem Sin­ne ist jeder Mensch homo reli­gio­sus), und von der folg­lich der Grund­satz der Tole­ranz des Frei­mau­rers gegen­über allen Glau­bens­rich­tun­gen aus­geht“ (S. 31).

Ven­zi ist über­zeugt, daß die Frei­mau­re­rei, die regu­lä­re und die tra­di­tio­nel­le Frei­mau­re­rei, kein Kind der Auf­klä­rung ist, son­dern „eine ‚Initia­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on‘ schlecht­hin“ (S. 47), die auf einer „initia­to­ri­schen und spi­ri­tu­el­len Ebe­ne wir­ken will und ihre Grund­la­ge in einer alten Weis­heit fin­det“ (S. 47). Die Frei­mau­re­rei ist „eine ‚sum­ma‘ der Initia­ti­schen Tra­di­tio­nen“ (S. 47). Die Frei­mau­re­rei ver­folgt „den Ent­wurf eines gött­li­chen Men­schen, der die rei­ne und rohe Mate­rie tran­szen­diert hat, um sein eige­ner erfüll­ter Aus­druck zu wer­den“ (S. 47)… Ven­zi präzisiert:

„Grund­le­gend für das Ver­ständ­nis des Wesens der frei­mau­re­ri­schen Ritua­le ist daher die Annah­me der Aus­gangs­idee einer Tra­di­ti­on, in der die ver­schie­de­nen meta­phy­si­schen und reli­giö­sen Tra­di­tio­nen nichts ande­res sind als die beson­de­ren Pro­jek­tio­nen, die auf ver­schie­de­nen Ebe­nen ihre spi­ri­tu­el­le Sub­stanz wie­der­ge­ben; das frei­mau­re­ri­sche Prin­zip, das Mit­glie­der aller Reli­gio­nen in sei­nen Tem­peln auf­nimmt, ist eine direk­te Fol­ge die­ser Aus­gangs­hy­po­the­se“ (S. 59).

3. Die Einweihung in die Freimaurerei

Ven­zi erklärt, daß die Initia­ti­on „der Über­gang von einem ‚pro­fa­nen‘ Zustand der Erstar­rung zu einem Zustand des Wach­seins ist, von dem aus der Ein­ge­weih­te zu einer Bewußt­wer­dung gelangt, die ihn erleuch­tet, ein Zustand, der in gewis­sem Sin­ne einer ‚Neu­ge­burt‘, einer ech­ten onto­lo­gi­schen Ver­än­de­rung ent­spricht“ (S. 59f). Die Ein­wei­hung ist auch „die Mög­lich­keit, den Fun­ken des Gött­li­chen in uns wie­der­zu­ent­decken“ (S. 60).

Der Groß­mei­ster erklärt:

„In der Welt der Tra­di­ti­on wird die Ein­wei­hung in ihren höch­sten For­men immer als eine höchst rea­le Ope­ra­ti­on ver­stan­den, die fähig ist, wie gesagt, den onto­lo­gi­schen Zustand des Indi­vi­du­ums zu ver­än­dern und ihm Kräf­te aus der Welt des Seins oder, wie Evo­la sagen wür­de, aus der Über­welt ein­zu­ver­lei­ben“ (S. 60).

4. Gnosis in der Freimaurerei

Indem er die „Weis­heit“ der Tex­te des Her­mes Tris­me­gi­stos (Her­me­tik) erwähnt und sie mit eini­gen Tex­ten der Frei­mau­re­rei des ‚Emulationsritus‘(der auch in der GLRI prak­ti­ziert wird) ver­gleicht, stellt Groß­mei­ster Ven­zi fest, daß „die her­me­ti­sche Weis­heit, von der auch die Frei­mau­re­rei inspi­riert ist, als eine beson­de­re Form der Gno­sis kon­fi­gu­riert wer­den kann“ (S. 96). Ein wenig wei­ter schreibt Venzi:

„Unse­re Suche auf die okkul­ten Geheim­nis­se der Natur und der Wis­sen­schaft aus­deh­nen“ ist eine Pas­sa­ge unse­res Ritu­als, wie lei­der vie­le ande­re, die gewohn­heits­mä­ßig gele­sen, oft aus­wen­dig gelernt, aber nicht ver­stan­den und daher viel weni­ger ange­wandt wird. Wenn man die zitier­ten Tei­le des Ritu­als liest, schei­nen die Ana­lo­gien mit den Prin­zi­pi­en der her­me­ti­schen Tra­di­ti­on […] offen­sicht­lich“ (S. 97).

Authen­ti­sche Initia­ti­sche Schu­len suchen die „‚gött­li­che‘ Essenz des Indi­vi­du­ums“ (S. 248) durch „eine authen­ti­sche ‚Trans­for­ma­ti­on‘ (oder ‚Ver­wirk­li­chung‘)“ (S. 248).

5. Die rituelle Emulation zwischen Theismus (rationalistisch, neuplatonisch) und Esoterik (Gnosis, Kabbala)

Groß­mei­ster Fabio Venzi

Samu­el Hem­ming (1767–1828), angli­ka­ni­scher Geist­li­cher, Frei­mau­rer, Mei­ster der Loge der Ver­söh­nung (UGLE), ist der Haupt­schöp­fer des berühm­ten frei­mau­re­ri­schen Ritu­als, das als „Emu­la­ti­on“ bekannt ist (vgl. S. 253–272). Groß­mei­ster Ven­zi bekräf­tigt, daß „die Ent­christ­li­chung des Ritu­als“ (S. 252) zu „einem ech­ten ‚Para­dig­men­wech­sel‘ in den Bezie­hun­gen zwi­schen dem Befrei­er und dem ‚Hei­li­gen‘“ (S. 252) geführt hat. Die Emu­la­ti­on führt die fol­gen­de Drei­tei­lung ein:

  • Der 1. Grad (Lehr­ling) ist der Grad der Ethik.
  • Der 2. Grad (Gesel­le) ist der Grad der „Gött­li­chen Wis­sen­schaft“ (im Ritu­al steht geschrie­ben, daß der Befrei­er den Thron Got­tes errei­chen kann).
  • Der 3. Grad (Frei­mau­rer­mei­ster) ist der Grad der Meta­phy­sik oder „Intui­ti­ves Wis­sen“, ver­stan­den als eine neu erwor­be­ne Fähig­keit (vgl. S. 273–275). Der Ein­ge­weih­te kann den „Fun­ken des Gött­li­chen“ in sich ent­decken (vgl. S. 274).

Groß­mei­ster Ven­zi glaubt, daß Hem­ming den The­is­mus in das Emu­la­ti­ons­ri­tu­al ein­ge­führt hat (vgl. S. 277–279). Im Lich­te der bis­her gefun­de­nen Ele­men­te ist es jedoch leicht zu erken­nen, daß es sich um einen eso­te­ri­schen, neo­pla­to­ni­schen „The­is­mus“ han­delt… Gewiß, im Emu­la­ti­ons­ri­tu­al von Hem­ming sind auch die „Gebe­te“, die Ver­wei­se auf die gött­li­che „Gna­de“, die ritu­el­le Anwe­sen­heit des Logen­ka­plans (vgl. S. 278–292) und dann die Ver­wei­se auf die Kar­di­nal­tu­gen­den (vgl. S. 309–325) inter­es­sant, wo Ven­zi auch mit dem Kate­chis­mus der katho­li­schen Kir­che und Tex­ten von Gelehr­ten oder Theo­lo­gen jon­gliert… Aber das Grund­pro­blem bleibt: Das eso­te­ri­sche, gno­sti­sche, „lati­tu­di­nä­re“ Wesen der tra­di­tio­nel­len Frei­mau­re­rei und ihrer Ritua­le (ein­schließ­lich der Emu­la­ti­on) ist offen­sicht­lich mit dem Glau­ben der katho­li­schen Kir­che unvereinbar.

Zum The­ma „Gna­de“ erwähnt Ven­zi auch den Jesui­ten­theo­lo­gen Karl Rah­ner (vgl. S. 286f), der aller­dings gegen Lehr­kri­tik nicht gefeit ist, dann den fran­zö­si­schen Eso­te­ri­ker und Frei­mau­rer René Gué­non (vgl. S. 280), den peren­nia­li­sti­schen Phi­lo­so­phen Aldous Hux­ley (vgl. S. 286), die hin­du­isti­sche Tra­di­ti­on (vgl. S. 291). Im Abschnitt über die „Gna­de“ im Emu­la­ti­ons­ri­tu­al erwähnt Ven­zi leicht­fer­tig den Begriff des Initia­ti­ons- oder mysti­schen Todes, den er lei­der nicht näher aus­führt und auch in sei­nem Buch nicht aus­drück­lich erwähnt (vgl. S. 280f).

Ven­zi glaubt, daß die frei­mau­re­ri­sche Moral nicht rela­ti­vi­stisch ist, daß die Frei­mau­re­rei kei­nen reli­giö­sen und mora­li­schen Rela­ti­vis­mus befür­wor­tet und daß das Emu­la­ti­ons­ri­tu­al nichts Rela­ti­vi­sti­sches ent­hält (vgl. S. 308f). Im Lich­te des­sen, was bis­her aus dem Buch von Ven­zi her­vor­ge­gan­gen ist, steht jedoch fest, daß der the­isti­sche Ratio­na­lis­mus von Cam­bridge, der in der Frei­mau­re­rei und im Emu­la­ti­ons­ri­tu­al vor­aus­ge­setzt wird, die von der katho­li­schen Kir­che defi­nier­ten Glau­bens- und Moral­dog­men per se ablehnt… Kurz gesagt, der Rela­ti­vis­mus wird in der Tat auch durch den bereits erwähn­ten „Lati­tu­di­na­ris­mus“ der Cam­bridge-Neu­pla­to­ni­ker geför­dert, sowie durch die Tat­sa­che, daß es jedem Frei­mau­rer frei­steht, das Höch­ste Wesen oder den Gro­ßen Bau­mei­ster des Uni­ver­sums gemäß sei­nem eige­nen Glau­ben oder sei­ner eige­nen reli­giö­sen Über­zeu­gung zu verstehen…

Im Abschnitt III.14. „Der Thron Got­tes“ schreibt Groß­mei­ster Venzi:

“Auf dem Weg der ‚spi­ri­tu­el­len‘ Ver­voll­komm­nung des Frei­mau­rers kann man aus­schließ­lich durch die ‚sym­bo­li­sche‘ Spra­che zur ‚Erkennt­nis‘, oder bes­ser gesagt, zur ‚Erfah­rung‘ des Gött­li­chen gelan­gen. Unter den ver­schie­de­nen von Rev. Hem­ming ein­ge­füg­ten Sym­bo­len ist das des Throns Got­tes zwei­fel­los eines der wich­tig­sten, um die Dyna­mik des mysti­schen frei­mau­re­ri­schen Weges dar­zu­stel­len. Um die­se Sym­bo­lik bes­ser zu ver­ste­hen, ist ein Ver­weis auf die jüdi­sche Mystik der Mer­ka­ba uner­läß­lich“ (S. 326).

Kurz gesagt, wenn man Mer­ka­ba sagt, sagt man jüdi­sche Kab­ba­la. Ven­zi räumt den gno­sti­schen Cha­rak­ter der „jüdi­schen Mystik“ der Mer­ka­ba ein:

„[…] die Ein­ge­weih­ten müs­sen den Auf­stieg zur Mer­ka­ba errei­chen, indem sie sie­ben himm­li­sche Palä­ste durch­lau­fen und dabei zahl­rei­che Schwie­rig­kei­ten über­win­den; die Dyna­mik eines sol­chen Weges hat einen offen­sicht­li­chen gno­sti­schen Cha­rak­ter, auch wenn er in einem mono­the­isti­schen Kon­text hebräi­siert wird“ (S. 327).

Sogar in der Ver­wen­dung des Begriffs ‚Ele­va­ti­on‘ für die Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nie des drit­ten Gra­des der Frei­mau­rer (gemäß dem Emu­la­ti­ons­ri­tu­al) sieht Ven­zi eine Neue­rung von Hem­ming in einem mysti­schen Sinn: „[…] In den Schrif­ten der Mysti­ker wird der Weg der Got­tes­er­kennt­nis, die Got­tes­er­fah­rung, oft genau durch den Begriff ‚Ele­va­ti­on‘ defi­niert“ (S. 329). In die­sem Zusam­men­hang zitiert Ven­zi die hei­li­ge Ange­la von Foli­g­no und Karl Rah­ner… Am Ende des Kapi­tels bemerkt Ven­zi, daß die Ein­füh­rung des Begriffs „Ele­va­ti­on“ durch Hem­ming nicht zufäl­lig sei, „son­dern bewußt ver­wen­det wur­de, um den beson­de­ren spi­ri­tu­el­len Weg zu Gott zu bezeich­nen, der zur Erlan­gung des Mei­ster­gra­des führt“ (S. 330).

6. Hemming und das Emulationsritual: das Zentrum, die Einheit der Religionen

Fabio Ven­zi wid­met ein eige­nes Kapi­tel (das 6., S. 341–384) der Sym­bo­lik des „Zen­trums“, d. h. des Punk­tes in der Mit­te eines Krei­ses, der min­de­stens vier­mal (vom 1. bis zum 3. Grad) im Emu­la­ti­ons­ri­tu­al von Hem­ming erwähnt wird (vgl. S. 342f). Nach Ven­zi ist das „‚Zen­trum‘“ „der sym­bo­li­sche ‚Schlüs­sel‘ zum Ver­ständ­nis von Hem­mings Absich­ten in bezug auf die Inklu­si­vi­tät der Frei­mau­re­rei in reli­giö­sen Fra­gen“ (S. 342).

Wei­ter führt Groß­mei­ster Ven­zi aus:

„Mei­ner Mei­nung nach sind Hem­mings Absich­ten klar: Aus dem Zen­trum (Gott) gehen die Reli­gio­nen, oder bes­ser gesagt, die ‚Glau­bens­be­kennt­nis­se‘ her­vor und lau­fen im Zen­trum zusam­men, und nur mit dem Zen­trum fin­det die Ver­ei­ni­gung der ursprüng­li­chen Tra­di­ti­on, der Reli­gio Peren­nis, statt; alle ihre histo­ri­schen Mani­fe­sta­tio­nen (die ver­schie­de­nen Glau­bens­be­kennt­nis­se), obwohl sie unter­schied­lich und ver­schie­den blei­ben, offen­ba­ren daher das Wesen einer gött­li­chen und unteil­ba­ren Wahr­heit […]. Mei­ner Mei­nung nach haben wir es hier mit einer Inter­pre­ta­ti­on des Ritu­als zu tun, die ich als „peren­nia­li­stisch“ ante lit­teram bezeich­nen wür­de: Mehr als ein Jahr­hun­dert vor Gué­non, Schuon, Coo­ma­ras­wa­my und ande­ren Autoren, die zu der als ‚peren­nia­li­stisch‘ defi­nier­ten Strö­mung gehö­ren, schlug Hem­ming ein Kon­zept von Gott als ‚Zen­trum‘ vor (d. h. als Sophia Peren­nis, aus der alle tra­di­tio­nel­len ‚For­men‘ der Reli­gio­si­tät her­vor­ge­hen), das im Lau­fe der Jahr­hun­der­te in allen mysti­schen und tra­di­tio­nel­len Strö­mun­gen ver­wen­det wur­de, eine Visi­on, die, wie der Schwei­zer Eso­te­ri­ker Frith­jof Schuon sagen wür­de, auf der ‚tran­szen­den­ten Ein­heit der Reli­gio­nen‘ beruht“ (S. 343).

Wei­ter weist Ven­zi dar­auf hin, daß: „[…] das ‚Zen­trum‘ in unse­rem Fall tran­szen­diert die ein­zel­nen histo­ri­schen Erschei­nungs­for­men; in die­ser ‚Visi­on‘ eröff­net sich not­wen­di­ger­wei­se ein Dia­log zwi­schen allen Reli­gio­nen. Im wesent­li­chen inter­pre­tie­ren die Frei­mau­rer­brü­der Gott nicht als ‚ihren‘ Gott oder als den Gott ‚der ande­ren‘, son­dern als Gott in sich selbst. Dies ist die von Samu­el Hem­ming vor­ge­schla­ge­ne frei­mau­re­ri­sche Inter­pre­ta­ti­on von GADU (Gre­at Archi­tect of the Uni­ver­se, Gro­ßer Bau­mei­ster des Uni­ver­sums)“ (S. 344).

Frei­mau­re­ri­sche „Initia­ti­on“ (Buch des Hol­stei­ner
Alche­mi­sten Micha­el Mai­er (1569–1622)

Indem er die frei­mau­re­ri­sche Sym­bo­lik des Zen­trums (des Emu­la­ti­ons­ri­tu­als von Hem­ming) erklärt, bekräf­tigt Ven­zi, daß „die Wahr­heit Got­tes nur eine sein kann“, für die die ver­schie­de­nen Reli­gio­nen so vie­le „Wege“ wären, die zum Zen­trum, zu Gott, füh­ren… Die Frei­mau­re­rei ist eine Form der ‚Tra­di­ti­on‘, die den Zusam­men­fluß aller „Wege“ in Gott lehrt (vgl. S. 346)…

Unter Beru­fung auf das Ritu­al des König­li­chen Bogens (Voll­endung des 3. Gra­des der Frei­mau­rer) bekräf­tigt Ven­zi, daß die Frei­mau­re­rei „eine Art ‚Mysti­zis­mus‘“ sei, wes­halb sie „jeden exklu­si­ven Anspruch“ aus­schlie­ße, im Besitz der Wahr­heit zu sein (vgl. S. 346)… Unter Mysti­zis­mus ver­steht Ven­zi die coin­ci­den­tia oppo­si­torum, d. h. die Fähig­keit, „die Wahr­heit des Glei­chen und des Ver­schie­de­nen in ihrer über­ge­ord­ne­ten Ein­heit zu erfas­sen, die auch die Gleich­gül­tig­keit gegen­über end­li­chen For­men ist“ (S. 346).

Die „Mit­te“, von der die ritu­el­le Nach­ah­mung spricht, drückt die „‚Inklu­si­vi­tät‘ und Tole­ranz zwi­schen den ver­schie­de­nen Reli­gio­nen“ (S. 348) aus, sie bringt alle Men­schen zusam­men, „indem sie sie in den glei­chen Abstand zu einem Gott stellt, der sie glei­cher­ma­ßen als sei­ne Geschöp­fe betrach­tet“ (S. 348)… „Ziel und Zweck der Tra­di­ti­on ist die Auf­he­bung des illu­so­ri­schen Abstands zwi­schen Gott und Mensch […], die Wie­der­ver­ei­ni­gung von Gott und Mensch […]“ (S. 348). Ven­zi macht deut­lich, daß das Fest­hal­ten an der eige­nen Reli­gi­on als der ein­zi­gen, die die Wahr­heit besitzt, „reli­giö­ser Fun­da­men­ta­lis­mus und Exklu­si­vis­mus“ ist (vgl. S. 349).

Ven­zi stellt fest, daß die so ver­stan­de­ne Sym­bo­lik der Mit­te auch im Hin­du­is­mus (vgl. S. 350–355), im Den­ken des neu­pla­to­ni­schen Huma­ni­sten Niko­laus Cus­a­nus (vgl. S. 355f), in der Kab­ba­la (vgl. S. 358f), im Tao­is­mus (vgl. S. 359), im Rosen­kreu­zer­tum (vgl. S. 360) und in der Alche­mie (vgl. S. 361–369) zu fin­den ist. Das Zen­trum errei­chen zu wol­len, kann aus alche­mi­sti­scher Sicht auch bedeu­ten, „sich selbst zu Gott zu machen“ (vgl. S. 368), d. h. „zu ver­su­chen, die “Ähn­lich­keit“ mit Gott zu erlan­gen, an der Schöp­fung der Welt teil­zu­ha­ben und das Gött­li­che wie­der­zu­ent­decken, das bereits in uns vor­han­den ist. Das „Zen­trum“ zu ver­lie­ren, bedeu­tet also vor allem, das Bewußt­sein unse­rer gött­li­chen Natur zu ver­lie­ren“ (S. 369, Fettdruck).

Am Ende des Kapi­tels bekräf­tigt Ven­zi, daß „das Gött­li­che in uns selbst ist“ (S. 380) und daß „die Initia­ti­schen Schu­len, und unter ihnen die Frei­mau­re­rei, […] sich immer die Auf­ga­be gestellt haben, den Men­schen zu sei­nem gött­li­chen Wesen zurück­zu­brin­gen, ihm zu hel­fen, sei­ne ‚Mit­te‘ wie­der­zu­fin­den“ (S. 380).

7. Das Heilige und die Weihe in der freimaurerischen Ritualität: freimaurerische Magie

Im 7. Kapi­tel „Die Reli­gi­on und das Hei­li­ge“ (S. 385–436) schreibt Groß­mei­ster Venzi:

„Die Erfah­rung des Hei­li­gen erlaubt dem Men­schen, sei­ne Begeg­nung mit der Tran­szen­denz, mit dem Gött­li­chen, mit Gott zu rea­li­sie­ren. […] Uner­setz­li­che Ele­men­te die­ser Rei­se sind Sym­bol und Ritu­al, denn nur durch sie ist eine Ver­mitt­lung mög­lich. Für Elia­de stellt jeder Ritus, jeder Mythos, jede Kosmo­go­nie oder jeder Gott eine Mani­fe­sta­ti­on des Hei­li­gen im men­ta­len Uni­ver­sum derer dar, die es emp­fan­gen haben“ (S. 391).

Ven­zi fährt fort: „Folg­lich könn­te sogar ein frei­mau­re­ri­sches Ritu­al (aber das hängt natür­lich vom Ritu­al ab) in jeder Hin­sicht als eine Hiero­pha­nie, d.h. als eine Mani­fe­sta­ti­on des Hei­li­gen, betrach­tet wer­den. In eini­gen Ritua­len, wie zum Bei­spiel der Emu­la­ti­on, ist dies deut­li­cher zu erken­nen, und dies geschieht auch im Alders­gate-Ritu­al des Roy­al Arch, in dem wir in dem Moment, in dem die Gefähr­ten den zuvor ver­deck­ten Namen Got­tes ent­hül­len, mit einem regel­rech­ten ‚Ein­bruch des Gött­li­chen‘ kon­fron­tiert wer­den“ (S. 391f).

Dar­über hin­aus gibt es in der Frei­mau­re­rei „die Zere­mo­nie der Ein­wei­hung einer Loge, bei der die­se Schaf­fung eines ‚hei­li­gen‘ Rau­mes, wo vor­her ein pro­fa­ner war, sehr offen­sicht­lich ist“ (S. 392).

„Sym­bo­le und Ritua­le sind bekannt­lich die Instru­men­te des frei­mau­re­ri­schen Ein­wei­hungs­we­ges, und die Zere­mo­nien, die wir ‚Wei­hen‘ nen­nen, sind grund­le­gen­de Ele­men­te sol­cher Riten. Dar­aus ergibt sich die Schluß­fol­ge­rung, daß die Frei­mau­re­rei zwar nicht als Reli­gi­on zu betrach­ten ist, der völ­lig in das Hei­li­ge ein­ge­tauch­te Befrei­er aber ein­deu­tig ein homo reli­gio­sus ist. Wenn wir uns in der Gegen­wart des geleb­ten Hei­li­gen befin­den, befin­den wir uns in der Tat in der Gegen­wart einer reli­giö­sen Erfah­rung, im Grun­de mani­fe­stiert sich das Hei­li­ge aus­schließ­lich im reli­giö­sen Men­schen“ (S. 403).

Das Hei­li­ge „ver­ei­nigt, was in der pro­fa­nen Welt getrennt ist […]: das Nied­ri­ge und das Hohe, das Männ­li­che und das Weib­li­che, den Him­mel und die Erde“ (S. 408).

In dem Abschnitt über den „Hei­li­gen Raum“ in der Frei­mau­re­rei stellt Groß­mei­ster Ven­zi fest: „In der Ritua­li­tät der Frei­mau­re­rei sind die soge­nann­ten ‚Wei­he­ri­ten‘ von grund­le­gen­der Bedeu­tung. Die ‚Riten der Wei­he‘ füh­ren ein Wesen oder eine Sache in die Welt des Hei­li­gen ein; umge­kehrt füh­ren die Riten der ‚Ent­wei­hung‘ oder der Süh­ne eine rei­ne oder unrei­ne Per­son oder Sache in die ‚pro­fa­ne‘ Welt zurück“ (S. 415).

Wei­ter führt Ven­zi aus: 

„Die Wei­he, die Errich­tung eines sakra­len Raums, folg­te in archai­schen und tra­di­tio­nel­len Gesell­schaf­ten stets anti­ken Vor­schrif­ten und bezog sich vor allem auf eine ursprüng­li­che Offen­ba­rung, die ‚am Anfang‘ den Arche­typ des sakra­len Raums ent­hüll­te, einen Arche­typ, der dann bei der Errich­tung jedes neu­en Tem­pels ad infi­ni­tum wie­der­holt wur­de und von dem auch die Befrei­ungs­ri­tua­le ihren Aus­gang nah­men“ (S. 415).

Ven­zi fährt fort: „Einen Raum mit einer Tech­nik der ritu­el­len Aus­rich­tung zu wei­hen bedeu­tet, ihn zu ‚kos­mo­ti­sie­ren‘, da der Kos­mos als gött­li­ches Werk in sei­ner Struk­tur selbst hei­lig ist. ‚Kos­mo­ti­sie­ren‘ bedeu­tet, vom Cha­os zur Ord­nung über­zu­ge­hen (in der Erhö­hungs­ze­re­mo­nie des König­li­chen Bogens steht geschrie­ben: „Ewi­ger Gott, auf des­sen Geheiß die Welt aus dem Cha­os ent­stand und jedes Ding der Natur sei­nen Ursprung hat­te“), so kann die Ein­wei­hung eines Tem­pels oder einer Loge als Nach­ah­mung der kosmo­go­ni­schen Geste, als Wie­der­ho­lung der ersten Hand­lung (eben des ‚Ritus‘) gestal­tet wer­den, inso­fern sie den gött­li­chen Akt der bei­spiel­haf­ten Errich­tung der Schöp­fung wie­der­holt“ (S. 415f6).

Wei­he eines Freimaurertempels

Dazu möch­te ich eini­ge Bemer­kun­gen machen. Aus den oben erwähn­ten Pas­sa­gen von Groß­mei­ster Ven­zi gehen ritu­el­le Magie und demi­ur­gi­sche Gno­sis her­vor, die ein­deu­tig mit­ein­an­der ver­floch­ten sind: Der Frei­mau­rer, der den Raum (die Loge) weiht und sakra­li­siert, wiederholt/​imitiert den gött­li­chen oder demi­ur­gi­schen Akt… Man beden­ke, daß der bibli­sche Gott nur die jüdi­sche Lit­ur­gie (zuerst) und die christ­li­che Lit­ur­gie (spä­ter) geof­fen­bart, gewollt und inspi­riert hat, aber nie­mals außer- oder über­kon­fes­sio­nel­le initiatorische/„heilige“ Riten wie die frei­mau­re­ri­schen… Daher erscheint der Frei­mau­rer als Magi­er und Gno­sti­ker, d. h. als jemand, der weiß (oder zu wis­sen behaup­tet), wie man den Demi­ur­gen ritu­ell und sym­bo­lisch nachahmt…

Wir fah­ren fort mit dem Text von Fabio Ven­zi, der die Ein­wei­hung der Frei­mau­rer­lo­ge illustriert.

„Die erste Geste ist die Wei­he des Bodens, sei­ne Ver­wand­lung in ein ‚Zen­trum‘, in einen pro­fa­nen Raum. Dann folgt die Schaf­fung eines ‚Sub­jekts‘, der Loge, die eben­falls geweiht wird, um die­sen Raum nut­zen zu kön­nen, in einer Zeit, die eben­falls hei­lig ist, wie die Datie­rung der Grün­dungs­bul­le jeder Loge zeigt (die 4.000 Jah­re zurück­reicht), was die meta­hi­sto­ri­sche und zeit­lo­se Dimen­si­on bedeu­tet, in der das Ritu­al jedes Mal erfüllt wird“ (S. 416).

Wei­ter heißt es bei Venzi:

„Im wei­te­ren Ver­lauf der Zere­mo­nie sind es die mehr­fa­chen Umrun­dun­gen, die den Ort wei­ter in Téme­nos, einen hei­li­gen Ort, ver­wan­deln, oder, alche­mi­stisch gespro­chen, in das alche­mi­sti­sche Gefäß, d. h. in das trans­for­ma­ti­ve Gefäß, in dem sich das Werk voll­zieht. Die Umrun­dung führt also zur Kon­struk­ti­on jener ‚Umhül­lung‘ (eben des Téme­nos), die nicht nur einen Raum dar­stellt, in dem die hei­li­ge Funk­ti­on aus­ge­übt wird, der den Raum des Hei­li­gen abgrenzt und gleich­zei­tig bestehen läßt, son­dern auch ein ‚Gefäß‘, in dem die ursprüng­lich chao­ti­schen und gegen­sätz­li­chen Ener­gien frei­ge­setzt wer­den, um sie zu ihrer Wie­der­ver­ei­ni­gung zu brin­gen: das ist die alche­mi­sti­sche Dyna­mik von sol­ve et coagu­la. Aus die­sem Grund stellt das Sym­bol des Téme­nos nicht nur eine Aus­drucks­form dar, son­dern übt auch eine Wir­kung aus, näm­lich einen sul­cus pri­mi­ge­ni­us, eine magi­sche Fur­che um das Zen­trum der inner­sten Per­sön­lich­keit zu zie­hen, um ihre Zer­streu­ung zu ver­hin­dern oder sie von den Ablen­kun­gen der Außen­welt fern­zu­hal­ten“ (S. 416f).

Ven­zi weist dar­auf hin, daß bereits in der Anti­ke Wei­he­ri­ten und Umschrei­tun­gen zele­briert wur­den (vgl. S. 400–408, 417–419), die spä­ter wie­der von der Frei­mau­re­rei prak­ti­ziert wor­den seien.

Ven­zi betont, daß „in einem frei­mau­re­ri­schen Tem­pel, wie in jedem ‚geweih­ten Raum‘, kei­ne ande­ren Tätig­kei­ten als die streng initia­to­ri­schen aus­ge­übt wer­den dür­fen“ (S. 420).

Der Groß­mei­ster fährt fort: „Die Grün­dung eines frei­mau­re­ri­schen Tem­pels erscheint daher als eine Zere­mo­nie mit aus­ge­präg­ten eso­te­ri­schen Merk­ma­len, deren Ritu­al, wie wir gese­hen haben, folg­lich als Ein­wei­hung defi­niert ist. Der Tem­pel hat­te schon immer ein himm­li­sches Vor­bild, wor­auf das Alte Testa­ment immer wie­der hin­weist, ange­fan­gen damit, daß Jah­we Moses auf dem Berg Sinai die genaue Form des Hei­lig­tums zeigt, das er für ihn errich­ten soll […]“ (S. 420–421).

Ein wenig wei­ter führt Ven­zi aus: „Aus der Not­wen­dig­keit, den hei­li­gen Raum abzu­gren­zen, in dem das Ritu­al statt­fin­det, ergibt sich ein wei­te­res Merk­mal der Frei­mau­re­rei und aller initia­ti­schen Gesell­schaf­ten: die Geheim­hal­tung, wobei die­ser Begriff nicht das Agie­ren im Ver­bor­ge­nen bezeich­nen soll, son­dern viel­mehr die Not­wen­dig­keit, sich vom Rest der Welt abzu­son­dern, sich auf einen hei­li­gen Ort zu beschrän­ken, an dem man den Kon­takt mit einer höhe­ren Dimen­si­on sucht, weit weg vom Rest der Welt, die in einem Zustand des Cha­os und der Insta­bi­li­tät ver­harrt“ (S. 421).

„Die Kosmo­go­nie ist das typo­lo­gi­sche Modell aller Bau­ten; jeder Tem­pel ahmt die Erschaf­fung der Welt nach und wie­der­holt sie in gewis­sem Sin­ne: Jeder Tem­pel steht in der Tat im ‚Zen­trum des Uni­ver­sums‘, und in die­sem Sin­ne war sei­ne Errich­tung nur mög­lich, indem man den pro­fa­nen Raum und die Zeit abschaff­te und einen hei­li­gen Raum, einen tran­szen­den­ten Raum schuf“ (S. 421).

Mit der „Erschaf­fung“ des Tem­pels, auch des frei­mau­re­ri­schen, wie­der­holt sich also die ‚Erschaf­fung‘ der Welt, der Tem­pel wird zum „Zen­trum“ der Welt und die Sym­bo­lik des Zen­trums ist grund­le­gend in den Grün­dungs­ri­ten und damit auch in den frei­mau­re­ri­schen (vgl. S. 422).

Ven­zi fährt fort: „Die anti­ke Vor­stel­lung vom Tem­pel als ima­go mun­di, die Idee, daß er das Uni­ver­sum in sei­nem Wesen wie­der­gibt, wur­de in der Tat auf die sakra­le Archi­tek­tur des christ­li­chen Euro­pas über­tra­gen, auf die Basi­li­ka der ersten Jahr­hun­der­te nach Chri­stus, auf die mit­tel­al­ter­li­chen Kathe­dra­len, auf den frei­mau­re­ri­schen Tem­pel, die sym­bo­lisch das himm­li­sche Jeru­sa­lem wie­der­ge­ben“ (S. 422).

In bezug auf die Jakobs­lei­ter, die im Ritu­al der „Emu­la­ti­on“ sym­bo­li­siert wird, und zwar in der Zei­chen­ta­fel des ersten Lehr­lings­gra­des, stellt Ven­zi fest: „Unter den Sym­bo­len stellt die Lei­ter also mehr als jedes ande­re die Ver­bin­dung mit der höhe­ren Welt dar, die Unter­bre­chung der Ebe­ne, die den Über­gang von einer Dimen­si­on zur ande­ren, von der Erde zum Him­mel ermög­licht. In den archai­schen Riten ging die Lei­ter gewöhn­lich von einem ‚Zen­trum‘ aus, das die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den ver­schie­de­nen Ebe­nen des Seins ermög­lich­te, so wie sie in der Tafel der Spu­ren­su­che auf dem Band des Hei­li­gen Geset­zes ruht, dem hei­li­gen ‚Zen­trum‘ der Frei­mau­re­rei“ (S. 422f).

Zur Ein­wei­hung der Loge oder des frei­mau­re­ri­schen Tem­pels schreibt Ven­zi: „Zur Bestä­ti­gung der zutiefst eso­te­ri­schen und hei­li­gen Bedeu­tung der Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nie eines Tem­pels oder eines ande­ren Ortes, der für die Durch­füh­rung von Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nien genutzt wird, gibt es den inter­es­san­ten Zusatz, daß die Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nie auch für die ritu­el­le Nut­zung eines ein­zel­nen Rau­mes durch­ge­führt wer­den soll­te, in dem die frei­mau­re­ri­sche Arbeit statt­fin­den soll. Das bedeu­tet, daß ohne eine ritu­el­le Hand­lung, die den Raum in einen ande­ren ver­wan­delt und ihn für eine Art der Nut­zung mit initia­to­ri­schem Cha­rak­ter vor­be­rei­tet, ein sol­cher Raum nicht für frei­mau­re­ri­sche Arbei­ten ver­wen­det wer­den kann“ (S. 428).

Auch die­ses Ein­ge­ständ­nis des Groß­mei­sters Ven­zi ist sehr inter­es­sant: „Die Ein­wei­hung einer Kir­che kann zum Zeit­punkt ihrer Grün­dung erfol­gen, und zwar mit der Absicht, die Kir­che in einem fei­er­li­chen Ritus dem Herrn zu wei­hen, wie es der uralte Brauch der Kir­che ist. Es ist Auf­ga­be des Bischofs, der mit der Betreu­ung einer Teil­kir­che betraut ist, die in sei­ner Diö­ze­se neu errich­te­ten Kir­chen Gott zu wei­hen. Der Ein­wei­hungs­ri­tus hat, abge­se­hen von der Bespren­gung mit Weih­rauch, nichts mit dem frei­mau­re­ri­schen Ritus der Ein­wei­hung eines Tem­pels gemein“ (S. 429).

In den Schluß­fol­ge­run­gen des sieb­ten Kapi­tels über die frei­mau­re­ri­schen Riten und Ritua­le wie­der­holt Ven­zi: „Die ‚Initia­ti­ons­ri­ten‘, zu denen auch der frei­mau­re­ri­sche Ritus zu zäh­len ist, haben als Ziel den Über­gang des ‚pro­fa­nen‘ Men­schen zu einer neu­en Exi­stenz, die nun vom Hei­li­gen geprägt ist. Im frei­mau­re­ri­schen Ritu­al fin­den wir die drei Ele­men­te des Hei­li­gen, die für das Vor­han­den­sein des homo reli­gio­sus wesent­lich sind: das Sym­bol, das Ritu­al und der Mythos. […] Jedes Initia­ti­ons­ri­tu­al impli­ziert eine Schöp­fungs­sym­bo­lik, die das kosmo­go­ni­sche und anthro­po­lo­gi­sche Urer­eig­nis reak­tua­li­siert, und dies zeigt sich in unse­rer Ritua­li­tät in der Wei­he­ze­re­mo­nie eines Tem­pels oder einer Loge. Aber um den Anfang zu repro­du­zie­ren, muß man zuerst das Bestehen­de abschaf­fen, was den regres­sus ad uter­um und die ritu­el­le Sym­bo­lik des Todes erklärt. Man muß den mensch­li­chen Zustand tran­szen­die­ren, um sich sinn­voll in den Kos­mos ein­zu­fü­gen. Abschlie­ßend kön­nen wir in Anleh­nung an die Dicho­to­mie ‚Sakral-Pro­fan‘ fest­stel­len, daß die Frei­mau­re­rei zwar kei­ne Reli­gi­on ist, wir aber ihr Ritu­al als sakral (das, was sakra­len Cha­rak­ter hat) defi­nie­ren kön­nen“ (S. 431f).

Fazit: Unvereinbarkeit zwischen Kirche und Freimaurerei „English Style

Im 8. und letz­ten Kapi­tel, „Die frei­mau­re­ri­sche ‚Häre­sie‘“ (S. 437–464), ver­sucht Groß­mei­ster Ven­zi sei­nen Lesern ver­ständ­lich zu machen, daß die anti­frei­mau­re­ri­schen Ankla­gen und Ver­ur­tei­lun­gen durch den Hei­li­gen Stuhl (seit 1738) nicht fun­diert sei­en… Es muß jedoch gesagt wer­den, daß die päpst­li­chen oder kirch­li­chen Doku­men­te, die die Frei­mau­re­rei ver­ur­tei­len, nie­mals den inhä­rent magi­schen Cha­rak­ter der frei­mau­re­ri­schen Ritua­le unter­sucht und erläu­tert haben. Eine klei­ne und ober­fläch­li­che Erwäh­nung fin­det sich viel­leicht im Doku­ment der deut­schen Bischö­fe von 1980 über die Unver­ein­bar­keit von Kir­che und Frei­mau­re­rei, in dem es heißt, daß das frei­mau­re­ri­sche Ritu­al einen pseu­do-sakra­men­ta­len Cha­rak­ter hat, d. h. eine Art Ähn­lich­keit und Kon­kur­renz zu den Sakra­men­ten der Kir­che… Nun, wenn man die vor­an­ge­gan­ge­nen Kapi­tel die­ses Buches von Fabio Ven­zi betrach­tet, ist die Unver­ein­bar­keit zwi­schen Kir­che und Frei­mau­re­rei auf der Ebe­ne des Sym­bo­lik und der Ritua­li­tät („Nach­ah­mung“) der Frei­mau­re­rei klar und tief­grei­fend, ins­be­son­de­re in bezug auf das frei­mau­re­ri­sche Kon­zept der tran­szen­den­ten Ein­heit der Reli­gio­nen (sie­he die Sym­bo­lik des Zen­trums) und auf die frei­mau­re­ri­schen Über­zeu­gun­gen, nach denen:

  • a) das frei­mau­re­ri­sche Ritu­al den ritu­el­len Raum hei­lig macht, indem es ihn in einen Tem­pel oder eine Loge verwandelt,
  • b) die Ein­ge­weih­ten, die Frei­mau­rer, in ihrem hei­li­gen Raum mit dem Hei­li­gen, mit einer höhe­ren und tran­szen­den­ten Dimen­si­on in Berüh­rung kom­men und das Gött­li­che in sich wiederentdecken…

Kurz gesagt, wir haben hier: Esoterik, Gnosis, Magie

Ich schlie­ße mit einer metho­do­lo­gi­schen Bemer­kung. Beim Durch­blät­tern des Per­so­nen­ver­zeich­nis­ses (S. 465–472) sehen wir, daß Groß­mei­ster Ven­zi mehr­mals die ‚peren­nia­li­sti­schen‘ Phi­lo­so­phen des 20. Jahr­hun­derts erwähnt. Die­se drücken in der Tat in phi­lo­so­phi­schen und moder­nen Begrif­fen das aus, was bereits in der frei­mau­re­ri­schen Ritua­li­tät der „Emu­la­ti­on“ des 19. Jhdts. (wie sie noch heu­te von der UGLE und der GLRI prak­ti­ziert wird) ent­hal­ten ist. Coo­ma­ras­wa­my wird neun­mal zitiert; René Gué­non zehn­mal; Juli­us Evo­la siebenmal.

Der Reli­gi­ons­hi­sto­ri­ker Mir­cea Elia­de wird für sei­ne Über­le­gun­gen zum Sakra­len, die Ven­zi dann auf die Frei­mau­re­rei anwen­det, min­de­stens zwan­zig­mal zitiert. Dage­gen wird der bekann­te eng­li­sche Frei­mau­rer und Eso­te­ri­ker Wal­ter Les­lie Wilmshurst (UGLE) nur ein­mal zitiert (S. 332, Fuß­no­te 10).

*Pater Pao­lo Maria Sia­no gehört dem Orden der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta (FFI) an; der pro­mo­vier­te Kir­chen­hi­sto­ri­ker gilt als einer der besten katho­li­schen Ken­ner der Frei­mau­re­rei, der er meh­re­re Stan­dard­wer­ke und zahl­rei­che Auf­sät­ze gewid­met hat. In sei­ner jüng­sten Ver­öf­fent­li­chung geht es ihm dar­um, den Nach­weis zu erbrin­gen, daß die Frei­mau­re­rei von Anfang an eso­te­ri­sche und gno­sti­sche Ele­men­te ent­hielt, die bis heu­te ihre Unver­ein­bar­keit mit der kirch­li­chen Glau­bens­leh­re begründen.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​GLRI/​MiL (Screen­shots)

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