
Der Vatikanist Sandro Magister beleuchtet die 1968 gegründete Gemeinschaft Sant’Egidio und deren Aspirationen im bevorstehenden Konklave. Bereits im Drei-Päpste-Jahr 1978 hatte die damals noch junge Gemeinschaft Ambitionen, bei der Papstwahl mitzumischen. Damals mobilisierte sie für den damaligen Erzbischof von Neapel Kardinal Corrado Ursi, „um gleich darauf in demonstrativer Unterstützung für den gewählten Karol Wojtyla zu mobilisieren“.
Flexibilität bei klarer Grundausrichtung
Diese Flexibilität brachte der progressiv ausgerichteten Gemeinschaft dennoch den Ruf der Papsttreue ein und öffnete ihr auch in der von progressiven Kreisen verachteten „restaurativen Phase“ des „langen Pontifikats“ von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die Türen zum Vatikan. Im Heiligen Jahr 2000 forderte die Gemeinschaft eine Belohnung für ihre Positionierung und erhielt die erste Bischofsernennung. Johannes Paul II. ernannte den ersten geistlichen Assistenten der Gemeinschaft, Vincenzo Paglia, zum Bischof. Benedikt XVI. schenkte der Gemeinschaft 2012 mit Matteo Zuppi den zweiten Bischof und ernannte Msgr. Paglia, nach seinem unrühmlichen Abgang in der Diözese Terni, zum Vorsitzenden des Päpstlichen Familienrates. Beide wurden von Papst Franziskus in führende Positionen berufen und mit zentralen Aufgaben seines Pontifikats beauftragt.
Paglia erklärte sinngemäß im Zuge der bergoglianischen Familiensynode, als es um die Rechtfertigung von Scheidung und Zweitehe ging, daß die katholische Morallehre zweitausend Jahre die Menschen gequält habe. Dafür ernannte ihn Franziskus 2016 zum Großkanzler des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie und zum Vorsitzenden der Päpstlichen Akademie für das Leben. Beide vom polnischen Papst zur Verteidigung des Lebensrechts und von Ehe und Familie gedachten Institutionen hatte Paglia auf bergoglianischen Kurs zu bringen, was er wunschgemäß auch tat. Für weitere Karrieresprünge war der Italiener aber etwas zu ambitioniert und vor allem zu redselig.
Diesbezüglich zog Msgr. Zuppi, der zweite Bischof der Gemeinschaft Sant’Egidio, umso schneller an seinem Mitbruder vorbei. Zuppi, den Benedikt XVI. zu einem der Weihbischöfe für die Stadt Rom gemacht hatte, wo die Gemeinschaft ihren Sitz hat und besonders verankert ist, ernannte Franziskus zum Erzbischof von Bologna, dem Machtzentrum der politischen Linken, mit der Franziskus unübersehbar liebäugelte. Er kreierte ihn bald darauf zum Kardinal und ernannte ihn zum Mitglied verschiedener römischer Dikasterien, darunter auch der Güterverwaltung des Apostolischen Stuhls. 2022 setzte ihn Franziskus auch an die Spitze der Italienischen Bischofskonferenz.
Mit Zuppi wird der Gemeinschaft Sant’Egidio demnächst erstmals der Eintritt in ein Konklave gelingen. Magister schreibt dazu: „Noch mehr würde sie heute für eines ihrer eigenen Mitglieder, Kardinal Matteo Zuppi, mobilisieren, der von den Weltmedien einhellig als der von der Gemeinschaft vorbereitete und geförderte Papstkandidat bezeichnet wird“. Das sei aber nicht der Fall, so der Vatikanist.
Der Kandidat, auf den die Gemeinschaft Sant’Egidio setzt
Der Kandidat, auf den die Gemeinschaft Sant’Egidio setzt, ist der portugiesische Kardinal José Tolentino de Mendonça. Als Hauptgrund dafür nennt Magister die Mitgliedschaft Zuppis in der Gemeinschaft. Diese spreche nicht für, sondern gegen ihn, „da immer mehr Papstwähler einem Pontifikat mißtrauen, das die Gefahr birgt, von einer externen Oligarchie, ja einer Monokratie beherrscht zu werden“.
Dazu muß man wissen, daß die Gemeinschaft seit ihrer Gründung neben caritativen Werken vor allem eine Paralleldiplomatie aufgebaut hat, mit der sie neben und für Staaten in Konflikten in verschiedenen Weltgegenden interveniert hat. Laut eigenen Angaben sei diese besonders erfolgreich geschehen, doch darüber gibt es geteilte Meinungen.
Der Anfang 2023 verstorbene Kardinal George Pell, Autor der ersten Demos-Denkschrift, warnte vor einem Pontifikat Zuppi: „Vorsicht! Wenn Zuppi im Konklave gewählt wird, wird der wahre Papst Andrea Riccardi sein“.
Andrea Riccardi, heute 75 Jahre alt, gründete im Alter von 18 Jahren die Gemeinschaft Sant’Egidio. Er ist bis heute „der allmächtige Gründer und Leiter der Gemeinschaft“, so Magister. Über Riccardi schreibt der Vatikanist:
„Als renommierter Gelehrter der Kirchengeschichte, ehemaliger Minister für internationale Zusammenarbeit, 2009 Träger des Karlspreises und 2022 sogar Kandidat für das Amt des italienischen Staatspräsidenten, war er stets der einzige mit echter und unbestrittener Befehlsgewalt über die gewaltige Maschinerie von Sant’Egidio und über die Menschen, die sie bilden.“
Kardinal Tolentino hingegen gehört weder der Gemeinschaft an noch läßt er in der Öffentlichkeit eine besondere Verbundenheit mit ihr erkennen. Auch die Verantwortlichen der Gemeinschaft zeigen sich nicht als seine Anhänger. Warum sie dennoch auf ihn als künftigen Papst setzen, beschreibt Magister wie folgt:
„Zunächst einmal die Weite seines geografischen Horizonts zwischen der alten und der neuen Welt. Tolentino wurde 1965 auf der Insel Madeira im Atlantischen Ozean geboren und verbrachte seine Kindheit in Angola, das damals eine portugiesische Kolonie war, aber bereits um seine Unabhängigkeit kämpfte. An Afrika und seinen ‚vormodernen Zauber’ wird er sich immer mit Bewunderung erinnern. Nach seiner Rückkehr nach Madeira trat er sehr jung ins Priesterseminar ein und ließ sich nach seinem Studium, das er mit einer Promotion in Heiliger Schrift am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom abschloß, endgültig in Lissabon nieder, wo er zunächst als Dozent und dann als Dekan der Theologischen Fakultät der Portugiesischen Katholischen Universität tätig war, aber auch akademische Aufgaben im Ausland übernahm, in den Vereinigten Staaten an der New York University und in Brasilien in Pernambuco, Rio de Janeiro und Belo Horizonte.
Als Sohn Europas, aber auch Afrikas und der „Peripherien“ der Welt, als Literat und Dichter, aber auch als aufmerksamer Beobachter der Befreiungsprozesse war Tolentino lange Zeit Kaplan in Lissabon in der Capela do Rato, dem Epizentrum der oppositionellen Mahnwachen, die 1974 die ‚Nelkenrevolution‘ inspirierten und später zu einem Ort des kulturellen, politischen und religiösen Dialogs wurden, an dem auch António Guterres, der derzeitige Generalsekretär der Vereinten Nationen, mitwirkte.
In der Capela do Rato organisiert der portugiesische Zweig der Gemeinschaft Sant’Egidio seit einigen Jahren ein Weihnachtsessen für die Armen von Lissabon. Doch die Gemeinsamkeiten hören damit nicht auf. Zuppi ist bekannt für seine friedensstiftende Rolle bei den Abkommen von 1992 in Mosambik, einer weiteren ehemaligen portugiesischen Kolonie in Afrika. Und vor allem gibt es sowohl bei Tolentino als auch bei den Leitern der Gemeinschaft, von denen fast alle Universitätsprofessoren sind, angefangen bei Riccardi, den Vorrang der Kultur, bei ihm vor allem der Bibel, der Theologie und der zeitgenössischen Literatur, bei den anderen der Diplomatie und der Geschichte, vor allem der Kirchengeschichte.“
Zum besseren Verständnis: Die Nelkenrevolution war eine linksgerichtete Bewegung in Portugal, die sich gegen den christlich definierten und korporativistisch organisierten Estado Novo von António de Oliveira Salazar richtete, der 1970 verstorben war. Die Essen für Arme, für die Kirchen in Speisesäle verwandelt werden, gehören zu einem Markenzeichen der Gemeinschaft Sant’Egidio. So handhabt sie es seit langem in ihrer Mutterkirche Santa Maria in Trastevere. So empfing Kardinal Zuppi auch Papst Franziskus, als dieser ihn 2017 in Bologna besuchte und damit seine Verbundenheit signalisierte.
Affinität des Dialogs
Magister verweist aber besonders auf die „Affinität“ zwischen Kardinal Tolentino und der Gemeinschaft „im Bereich des Dialogs, der für Sant’Egidio vor allem zwischen den Religionen stattfindet, mit den jährlichen großen internationalen Konferenzen“, die ‚im Geiste von Assisi‘ gefeiert werden, mit der Parade der christlichen, jüdischen, muslimischen, hinduistischen, buddhistischen, schintoistischen usw. Führer“. Gemeint sind damit die Assisi-Treffen, deren erstes 1986 unter Johannes Paul II. stattfand und für einen großen Skandal sorgte. Die Erfinder und Organisatoren waren jedoch Riccardi und die Verantwortlichen der Gemeinschaft Sant’Egidio.
Für Tolentino findet der Dialog „vor allem zwischen den Kulturen statt, mit Büchern, mit gelehrten Vorträgen oder mit persönlichen Begegnungen zwischen ihm und einem führenden Intellektuellen, vorzugsweise einem, der dem Glauben fern steht, im Gefolge des von Kardinal Carlo Maria Martini erfundenen ‚Lehrstuhls der Ungläubigen‘ und des von Benedikt XVI. erdachten und Kardinal Gianfranco Ravasi anvertrauten Vorhofs der Völker“, womit biblisch die Heiden gemeint sind.
An der Römischen Kurie ist Tolentino heute als Nachfolger von Ravasi Präfekt des Dikasteriums für Kultur und Bildung. Seit Papst Franziskus ihn 2018, damals noch als einfachen Priester, in den Vatikan eingeladen hatte, um die Fastenexerzitien für die Kurie zu predigen, verlief seine Karriere kometenhaft: „Vier Monate später ernannte Franziskus ihn zum Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche, 2019 wurde er zum Kardinal ernannt und 2022 zur Nummer eins in Sachen Kultur“.
Das Komikertreffen für Papst Franziskus
Was war Tolentinos bisher bemerkenswerteste Leistung? Als Präfekt seines Dikasteriums lud er am Morgen des 14. Juni etwa hundert Komiker aus der ganzen Welt zu einem Treffen mit dem Papst ein, einige von ihnen mit großem Renommee, darunter allen voran Whoopi Goldberg. „Sie kamen in Scharen, obwohl einige stolze Antiklerikale sind.“ Es wurde sogar behauptet, Tolentino habe ihnen gar nicht gesagt, daß sie zu einer Begegnung mit dem Papst eingeladen waren.
„Mit Kompetenz und Raffinesse“ ergreife der Kardinal auch an Orten das Wort, die für einen Priester unüblich seien: „So zum Beispiel auf der Biennale von Venedig, wo er kürzlich einem ausgewählten Publikum an mehreren Abenden die ganzheitliche Lektüre eines Meisterwerks der mittelalterlichen Mystik wie Meister Eckarts ‚Kommentar zum Johannesevangelium‘ vorstellte.“
Zeichnet das aber einen Papst aus? Magister formuliert es so:
„Die Dialoge, in denen sich Tolentino und Zuppi hervortun, haben den Vorteil, daß sie die Kirche nicht spalten, sondern sie vielmehr trösten. Selbst wenn sie sich auf Minenfelder wagen, wie die andauernden Kriege in der Welt, sind die Friedensappelle, die aus ihnen hervorgehen, so vage, daß sie von allen unterschrieben werden können. Oder sie bewegen sich – wie im Fall von Zuppi nach seinen 2023 gescheiterten Missionen in Kiew, Moskau, Peking und Washington – nur auf dem humanitären Terrain des Gefangenenaustauschs und der Kinderrückführung, ebenfalls mit sehr geringem Ergebnis.
Bei den innerkirchlichen Lehrstreitigkeiten, deren Epizentrum der deutsche Synodale Weg ist und die von der neuen Sexualmoral bis zur kirchlichen Weihe der Frau reichen, hat die Gemeinschaft Sant’Egidio stets eine klare Haltung bewahrt, indem sie sich auf keine der beiden Seiten festgelegt hat.“
Die „klare Haltung“ besteht demnach darin, keine klare Haltung einzunehmen. Doch hören wir Magister:
„Zuppi ist der perfekte Vollstrecker dieser Linie, dank der Scharfsinnigkeit, mit der er sagt und nicht sagt, sich öffnet, ohne sich jemals zu öffnen, und sich bei den strittigsten Fragen immer zurückhält. Ein Beispiel dafür ist das sibyllinische Vorwort, das er für die italienische Ausgabe des Buches ‚Building a Bridge: How the Catholic Church and the LGBT Community Can Enter into a Relationship of Respect, Compassion, and Sensitivity‘ des Jesuiten und Papstfreundes James Martin geschrieben hat, eines sehr aktiven Verfechters einer neuen Pastoral- und Morallehre zur Homosexualität. Die These des Buches ist klar, aber das Vorwort ist es nicht.“
Und Tolentino? Zu ihm schreibt Magister:
„Auch er schließt sich dieser Linie an. Er predigt und praktiziert großzügig die Aufnahme von Homosexuellen in die Kirche, ohne jedoch jemals eine Änderung der Lehre zu fordern. Er läßt wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion zu, aber erst, nachdem Papst Franziskus dies in der Ermahnung Amoris laetitia erlaubt hat. Er hat sich weder für noch gegen die Erklärung Fiducia supplicans ausgesprochen, die die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare erlaubt und von fast der gesamten Kirche Afrikas kritisiert wird. Selbst zur kirchlichen Ordination von Frauen hat Tolentino nie seine Meinung geäußert. Er hat jedoch das Vorwort zu einem 2022 erschienenen Buch mit dem Titel ‚Women Religious, Women Diacons‘ der US-amerikanischen Theologin Phyllis Zagano verfaßt, die sich stark für die Frauenordination einsetzt und Mitglied der von Papst Franziskus eingesetzten Studienkommission zum Diakonat der Frau ist.
Tolentino hat auch das Vorwort zu einem Buch der spanischen Benediktinerin und feministischen Theologin Teresa Forcades i Vila geschrieben, die er mehrfach lobte, ohne jedoch jemals ausdrücklich ihre radikalen Thesen zu Abtreibung, Frauenordination, Homosexualität und der ‚queeren Revolution‘ in der Kirche zu vertreten.“
Die Hoffnung auf den „offenen Geist“
Die Gemeinschaft Sant’Egidio hofft, daß dieser „offene Geist“ Tolentinos, der jedoch nirgends zu offensichtlich anzuecken versucht, sondern die Praxis vor die Theorie stellt, indem die Lehre formal unverändert bleibt, durch eine geänderte Praxis aber umgekrempelt wird, Anklang im Konklave finden könnte. Dafür ist man bereit den Kandidaten aus den eigenen Reihen zurückzuziehen, um verschiedene Richtungen hinter Tolentino zu sammeln.
„Aber diese Beweglichkeit der Positionen könnte auch das Gegenteil bewirken. Nur wenige Kardinäle würden auf einen Kandidaten setzen, der so wenig klare Entscheidungen treffen kann“ und will, „und über so zweifelhafte Führungsqualitäten verfügt – Tolentino hat noch nie eine Diözese geleitet –, der zudem erst 59 Jahre alt ist, und das nach einem Pontifikat wie dem von Franziskus, das seinem Nachfolger eine Kirche in voller lehrmäßiger und pastoraler Verwirrung hinterläßt, sodaß alle, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite und in der Mitte, aus verschiedenen Gründen dramatisch verunsichert sind.“
Deshalb geht Magister davon aus, daß nicht nur Zuppi, sondern mehr noch Tolentino für die Mehrheit der Papstwähler keine geeignete Option sein dürfte. Er biete zu wenig Aussicht, „mit Umsicht und Weisheit ein Mindestmaß an Ordnung in der Leitung der Kirche wiederherzustellen“. Das gelte umso mehr, als Franziskus der Kirche ein Erbe „voller Unbekannten“ hinterläßt, die er bis 2028 umgesetzt haben möchte. Gemeint ist der Fahrplan zur Umsetzung der Synodalität in der Weltkirche, den Franziskus am 11. März in der Gemelli-Klinik diktierte und der in eine große und historisch beispiellose „kirchliche Versammlung“ münden soll.
Allerdings, was Magister nicht schreibt, ist ein künftiger Papst in keiner Weise an eine solche Vorgabe gebunden. Er kann sie ohne großes Aufsehen einfach mit Franziskus ins Grab versenken.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL