
Anfang 1970 schrieb der belgische Philosoph Marcel De Corte, Professor an der Katholischen Universität Lüttich, einen Brief an Jean Madiran, den Herausgeber der Zeitschrift „Itinéraires“, den dieser am 1. Februar 1970 in der Ausgabe Nr. 140 seiner Zeitschrift veröffentlichte. Die US-amerikanische Internetseite Rorate Caeli holte den Brief aus der Versenkung und veröffentlichte ihn in einer englischen Übersetzung von Gerhard Eger. Wie auch von Jean Madirans reichem publizistischem Wirken bisher nichts ins Deutsche übersetzt wurde, wurde auch Marcel De Cortes Werk im deutschen Sprachraum kaum beachtet. Hier der vollständige Wortlaut seines 1970 verfaßten Briefes über Papst Paul VI. und „die neue Messe“:
Über die neue Messe
Ich muß Ihnen gestehen, mein lieber Jean Madiran, daß ich mehr als einmal versucht war, die katholische Kirche, in die ich geboren wurde, zu verlassen. Wenn ich es nicht getan habe, so danke ich Gott und dem gesunden Menschenverstand des guten Bauern, mit dem er mich gesegnet hat. Die Kirche – das sage ich mir in einem solchen Moment – ist wie ein von Rüsselkäfern befallener Weizensack. Wie zahlreich die Parasiten auch sein mögen – es wimmelt auf den ersten Blick nur so von ihnen –, sie haben nicht alle Körner unfruchtbar gemacht. Einige, und seien es auch noch so wenige, bleiben fruchtbar. Sie werden sprießen, und die Rüsselkäfer werden sterben, sobald sie alle anderen verschlungen haben. Guten Appetit, meine Herren, Sie essen sich Ihren eigenen Tod.
Währenddessen leiden wir an einer Hungersnot. Wir hungern nach dem Übernatürlichen. Die Zahl der Priester, die das Brot der Seele an uns verteilen, schwindet in alarmierendem Tempo. In der Hierarchie ist es noch schlimmer. Und ganz oben, wo man Trost erwarten würde, ist die Lage katastrophal.
Ich gestehe, daß ich mich lange Zeit von Paul VI. täuschen ließ. Ich dachte, er würde versuchen, das Wesentliche zu bewahren. Ich habe mir immer wieder die Worte Ludwigs XIV. an den Dauphin vor Augen geführt: „Ich fürchte mich nicht, Ihnen zu sagen: Je höher die Position, desto mehr Dinge gibt es, die man nur sehen oder wissen kann, wenn man sie innehat.“ Da ich weder Papst noch Kleriker bin, sagte ich mir: Er sieht, was ich nicht sehen kann, weil er ein so hohes Amt innehat. Deshalb vertraue ich ihm, auch wenn mir die meisten seiner Taten, Haltungen und Äußerungen nicht gefallen und seine ständigen (scheinbar ständigen) Manöver mir Kopfzerbrechen bereiten. Armer Mann, er ist zu bemitleiden, zumal er der Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen ist… Aber dennoch, mit Gottes Hilfe…
Allerdings – und das gereicht der Menschheit zur Ehre – gibt es in der Geschichte kein Beispiel für einen Betrüger, der sich nicht irgendwann selbst entlarvt hat. Wenn man zu sehr versucht, das zu sein, was man nicht ist, offenbart man letztlich sein wahres Wesen. Zu viel Gerissenheit geht nach hinten los. Männer sind bereit, ein wenig List zu tolerieren, vor allem, wenn sie ein italienisches Flair hat. Aber es gibt eine Grenze, und darüber hinaus hört man auf, ein guter Schauspieler zu sein, und wird zum Gefangenen seiner eigenen Scharade, verstrickt in seine eigenen Täuschungsmanöver.
Der Wendepunkt kam für mich mit der Kontroverse um die Heilige Messe. Bis dahin konnte man sich täuschen, betrügen und hinters Licht führen lassen. Das war der Preis für die Ehrerbietung, die man den etablierten Mächten schuldete. Aber jetzt ist die Zeit des „Spiel Spielchen mit mir“, wie mein alter Lehrer zu sagen pflegte, vorbei. Das ist ein Ausdruck, den er benutzte, als wir auf dem Lande waren, wo solche Unverblümtheit ganz selbstverständlich ist, und er war viel energischer. Abbé Cardonnel, mit Literatur vollgestopft, die er jedem entgegenschleuderte, fehlte diese herrliche Spontaneität der Sprache, diese stolze und männliche Behauptung eines Menschen, der es nicht mehr ertragen kann, auch nur einen Moment länger getäuscht zu werden. „Es ist vorbei. Es ist. VOR-BEI. VORBEI“, würde er zu dem unvorsichtigen Kerl sagen, der es zu weit getrieben hat.

Ich sage das ganz ruhig und bedächtig, mit der ganzen Zuversicht eines Mannes aus bäuerlichen Verhältnissen, wo die Katholizität vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, wo das Übernatürliche selbst greifbar ist, der von der Bestellung von Feldern wie seine Vorfahren (deren er ganz und gar unwürdig ist) dazu übergegangen ist, den Geist zu pflegen, den Gott als einen der Kirche ergebenen Sohn herausgenommen hat, der sich von Kopf bis Fuß tief in der Kirche verwurzelt fühlt. Ich sage es mit aller Entschiedenheit und ohne das geringste Zögern: NEIN. Ich habe genug. Ich lasse mich nicht länger an der Nase herumführen. Ich lasse mich nicht auf den Holzweg führen. Ich werde nicht so tun, als sei Paul VI. ein neuer heiliger Pius X., tiefgreifend gewandelt, natürlich zum Besseren, wie es sich für unsere progressive Zeit gehört.
Wie kann man es wagen zu verkünden, daß es keine „neue Messe“ gibt, daß „sich nichts geändert hat“, daß „alles beim Alten bleibt“, wenn nichts oder fast nichts von der Messe übriggeblieben ist, die so viele Heilige mit Liebe gehegt haben? Wenn die „Experten“, die aus Gründen des Gemeinwohls mit der Arbeit an diesem Abrißprojekt beauftragt wurden, es immer wieder als eine wahre liturgische „Revolution“ bezeichnet haben? Wenn die einfachen Gewissen der einfachen Gläubigen durch diese Umwälzung erschüttert wurden? Wie eine alte Dame beim Verlassen der Kirche am ersten Adventssonntag ausrief, erdrückt vom „neuen Ritus“ (das Adjektiv stammt von Paul VI.): „Das ist eine Messe? Man kann sie nicht mehr erkennen!“ Das war so offensichtlich, daß der Zelebrant, entweder durch Ablenkung oder durch Eile, die Konsekration des Weines ausgelassen hatte! Aber was spielt das für eine Rolle in einer Messe, in der der Begriff des Opfers per definitionem nicht vorhanden ist?
Ich werde die Argumente gegen diese neue Liturgie hier nicht wiederholen. Andere, die gut informiert, kompetent und zuverlässig sind, haben dies bereits getan, und sie haben es gut getan. Wenn Expertenmeinungen mit dem gesunden Menschenverstand eines gewöhnlichen Christen übereinstimmen, ist es nicht nötig, eigene Kommentare hinzuzufügen. Alles ist bereits gesagt worden, von angesehenen Spezialisten, erfahrenen Theologen und Kanonisten, Priestern und frommen Ordensleuten und sogar von jener guten, einfachen Frau, die den tiefsten und herzlichsten Protest der christlichen Massen gegen diese „Transformation“ zum Ausdruck brachte: „Man kann sie nicht mehr erkennen!“ Das faßt es perfekt zusammen: „Man kann sie nicht mehr erkennen.“ Die Gläubigen spüren es instinktiv: „Da ist nichts Katholisches mehr dran.“
„Diese Messe stellt sowohl als Ganzes als auch in ihren Einzelheiten eine eklatante Abweichung von der katholischen Theologie der Heiligen Messe dar, wie sie auf der zweiundzwanzigsten Sitzung des Konzils von Trient formuliert wurde, das durch die endgültige Festlegung der ‚Canones‘ des Ritus eine unüberwindliche Barriere gegen jede Häresie errichtet hat, die die Integrität des Mysteriums angreifen könnte.“ Die strengen Worte von Kardinal Ottaviani können kaum von jemandem guten Glaubens bestritten werden, der den neuen Ordo Missæ studiert und alle seine Einzelheiten berücksichtigt hat. Niemand, der guten Willens ist, kann ihre düstere Realität ignorieren, nachdem er, wie wir in Belgien nach dem 30. November, jeden Sonntag und an Weihnachten, „die neue Messe“ gehört hat, die von den Technokraten des Glaubens vorgefertigt wurde. Eingezwängt zwischen einem pompösen und theatralischen Wortgottesdienst und einer „Selbstbedienungs“-Liturgie des Mahls wird das HEILIGE OFFER DER MESSE, mit anderen Worten das WESENTLICHE, im Handumdrehen von einem Kleriker abgefertigt, der nach meiner Erfahrung in neun von zehn Fällen nicht einen einzigen Moment lang an das zu glauben scheint, was er tut.
Ich wiederhole: Dies wurde gründlich bewiesen, und gegen diese Beweise und Argumente wurde nichts anderes als schlangenhafte Rhetorik und Jeremiaden vorgebracht.
●
Diese „neue Messe“ MUSS ABGELEHNT WERDEN mit der ganzen Energie und dem Mut von Pater Roger-Thomas Calmel OP, und gemäß den von Jean Madiran aufgestellten Richtlinien, auch wenn sie je nach Bedarf, mit der gebotenen Vorsicht und je nach den Umständen individuell angepaßt werden müssen, mit der doppelten Absicht, die immer präsent ist, das Häretische im Amt abzulehnen und nur das Orthodoxe zu akzeptieren.
●
Ich für meinen Teil verstopfe meine Ohren sorgfältig mit Wachs. Ich verstecke mich im hinteren Teil der Kirche hinter einem Vorhang, dessen Sichtschutz ich verdichte, indem ich mich auf den niedrigsten Stuhl setze, den ich finden kann. Ich lese die Heilige Messe in dem Meßbuch, das mir meine heiligmäßige Mutter geschenkt hat, nachdem das vorherige, das sie mir geschenkt hatte, völlig abgenutzt war. Ich lese die Nachfolge Christi auf Latein während des Gefasels, das heute als Predigt durchgeht. Ich nehme mit ganzem Herzen an der Erneuerung des Opfers von Golgatha teil. Ich zwinge den Priester, der die Kommunion in die Hände der „Schafe“ austeilt, die er zähmen soll, sie mir an der Kommunionbank, wo ich knie, in den Mund zu reichen. Und während des letzten Lärms gehe ich nach draußen, um zu meditieren und zu beten, daß der Herr mich noch tauber machen möge für den Lärm der Welt, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne.
●
Ich muß zugeben, daß ich manchmal wütend werde, wenn ich irgendeinen Blödsinn höre, wie diesen, für dessen Echtheit ich garantiere: „Laßt uns beten, meine Brüder, daß es unter den jungen Männern und Frauen, die durch ihre ähnliche Frisur und Kleidung zusammengebracht werden, keinen Unterschied mehr zwischen den Geschlechtern gibt.“ Aber man kann sich an alles gewöhnen, selbst an den lächerlichsten Blödsinn. Wie Léon Bloy zu Recht sagte, muß man mit seiner Verachtung sparsam sein, denn es gibt so viele, die sie verdienen.
Machen wir keinen Hehl aus der Wahrheit. Unsere Weigerung impliziert ein Urteil über die Taten und Worte Pauls VI. und sogar über seine Person, mit der wir gegen unseren Willen die Tugend der „brüderlichen Zurechtweisung“ praktizieren müssen, die der heilige Thomas von Aquin als eine Erweiterung der Tugenden des Almosengebens und der Nächstenliebe ansieht und die man, wie er sagt, sogar öffentlich mit seinen Vorgesetzten ausüben muß, nachdem man alle verborgenen Mittel dazu ausgeschöpft hat (II-IIae, q. 33). Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß ein Untergebener, der die päpstliche Autorität so sehr respektiert wie Kardinal Ottaviani, sein Memoriale an Paul VI. nicht veröffentlicht hat, ohne zuvor alle mögliche diplomatische Vorsicht walten zu lassen. „Wenn ein Oberer tugendhaft ist“, schreibt ein Kommentator der Summa, “wird er jede Warnung, die ihm Klarheit verschaffen könnte, dankbar annehmen. Er wird der erste sein, der zugibt, daß es richtig ist, ihn zu warnen, und daß er nicht in jeder Hinsicht unantastbar ist“. Und er fügt in Anlehnung an den heiligen Thomas hinzu, daß die Warnung öffentlich sein muß, „wenn zum Beispiel ein Oberer öffentlich offensichtliche Irrlehren verkündet oder einen großen Skandal verursacht und damit den Glauben und das Heil seiner Untergebenen gefährdet“.
Kardinal Ottaviani ist sicherlich nicht der einzige, der der Meinung ist, daß Paul VI. durch seine Worte und Taten „eklatant von der katholischen Theologie der Heiligen Messe abweicht“. Es ist in der Tat unvorstellbar, daß der Papst ein so wichtiges Dokument nur überflogen und achtlos unterzeichnet hat. Der Ordo Missæ und die Neue Messe, die wir energisch ablehnen, sind von Paul VI. gewollt und allen Katholiken aufgezwungen.
Wie ist eine solche Haltung eines Papstes in einer so kritischen Zeit in der Geschichte der Kirche möglich? Ich komme nicht umhin, mir diese Frage zu stellen. Und ich kann meine Antwort nicht länger verschweigen. Es steht zu viel auf dem Spiel, als daß die Laien die Priester aller Ränge allein, ohne die Unterstützung eines Teils der Gläubigen, die sie vor der Gefahr gewarnt haben, gegen den „Skandal“ der neuen Messe kämpfen lassen könnten.
Es geht nicht darum, sich zu empören – so verlockend das auch sein mag –, sondern zu verstehen.
●
Paul VI. ist ein Mann voller Widersprüche. Ein Mann, der in seinem „Credo des Gottesvolkes“ das heilige Meßopfer in großen und traditionellen Worten preist, es aber in der neuen Messe, die er der katholischen Christenheit aufzwingt, herunterspielt. Ein Mann, der die offiziellen Erklärungen des Konzils zur lateinischen Sprache, „der liturgischen Sprache schlechthin“, und zum Gregorianischen Choral, einem Schatz, den es eifrig zu bewahren gilt, unterzeichnet und verkündet und sich darüber hinaus öffentlich zu ihrer Bewahrung verpflichtet, der aber seine Unterschrift und sein Wort bricht, nachdem er in einer so wichtigen Angelegenheit wie der Ausdrucksweise des Gott dargebrachten Gottesdienstes nur Liturgieexperten konsultiert hat, von denen einige verdächtig sind und andere zu dissidenten christlichen Gemeinschaften gehören. Das ist der Mann, der dafür sorgt, daß der niederländische Katechismus zensiert wird, der aber die Verbreitung der darin enthaltenen dogmatischen Irrtümer duldet. Das ist der Mann, der den französischen Katechismus genehmigt, dessen Fehler, Auslassungen und Entstellungen der geoffenbarten Wahrheit umso schwerwiegender sind, als er für Kinder bestimmt ist, der aber Abweichungen vom Glauben in anderen Teilen der ganzen Welt untersucht. Das ist der Mann, der Maria als Mutter der Kirche verkündet, aber zahllosen Klerikern aller Ränge erlaubt, die Reinheit ihres Namens zu beflecken. Dies ist der Mann, der auf dem Petersplatz und in der freimaurerisch geprägten Reflexionskammer der Vereinten Nationen betet. Das ist der Mann, der zwei Schauspielerinnen, die absichtlich und aufreizend in Miniröcken gekleidet sind, eine Audienz gibt, sich dann aber gegen die wachsende Sexualisierungswelle in der Welt ausspricht. Das ist der Mann, der Pastor Boegner1 sagt, Katholiken seien nicht reif genug für die Geburtenkontrolle mit „der Pille“, der aber Humanæ vitæ veröffentlicht, während er zuläßt, daß diese Enzyklika von ganzen Bischofskonferenzen in Frage gestellt wird.
Das ist der Mann, der verkündet, daß das Gesetz über den klerikalen Zölibat niemals abgeschafft werden wird, aber zuläßt, daß es endlos in Frage gestellt wird, während er es Priestern, die heiraten wollen, leicht macht, dies zu tun. Das ist der Mann, der die Handkommunion verbietet, sie aber zuläßt und sogar einigen Kirchen durch ein besonderes Indult erlaubt, die heiligen Hostien von Laien austeilen zu lassen. Das ist der Mann, der die „Selbstzerstörung der Kirche“ beklagt, der aber, obwohl er ihr Oberhaupt ist, nichts dagegen unternimmt und sie somit mit seiner eigenen Zustimmung geschehen läßt. Das ist der Mann, der die Nota prævia über seine Befugnisse herausgibt, der aber zuläßt, daß sie auf der Synode von Rom als überholt abgetan und in Vergessenheit geraten wird, usw.
Man könnte die Widersprüche des Papstes endlos aufzählen. Der Mann selbst ist ein permanenter Widerspruch sowie von grundlegender Zweideutigkeit.
Es gibt also zwei Möglichkeiten.
Ein Mann, der seine inneren Widersprüche nicht überwinden kann und sie offen zur Schau stellt, kann auch die äußeren Widersprüche nicht überwinden, denen er bei der Leitung der Kirche begegnet. Er ist ein schwacher und unentschlossener Papst, wie andere in der Geschichte der Kirche, der seine Schwankungen hinter einer Flut von Rhetorik verbirgt, die der Kaiser Julian, genannt der Abtrünnige, mit Blick auf die arianischen Bischöfe seiner Zeit, die sie so geschickt praktizierten, „die Kunst, das Wesentliche herunterzuspielen, das Unwesentliche zu übertreiben und die Wirklichkeit der Dinge durch die Kunst der Worte zu ersetzen“, nannte. Manchmal werden in einer einzigen Phrase einer päpstlichen Ansprache Schwarz und Weiß kombiniert und durch syntaktische Tricks miteinander versöhnt.
Die zweite Hypothese ist nicht weniger wahrscheinlich: Der Papst weiß, was er will, und die Widersprüche, die er zeigt, sind lediglich solche, auf die ein Mann der Tat, getrieben von dem Ziel, das er erreichen will, auf seinem Weg stößt und sich nicht im geringsten darum kümmert, da er von der Kraft seines Ehrgeizes mitgerissen wird.
In dieser Hinsicht kann man, vor allem nach dem neuen Ordo Missæ und der neuen Messe, davon ausgehen, daß Paul VI. die Absicht hatte, Kleriker und Laien der verschiedenen christlichen Denominationen in einer einzigen liturgischen Aktion zusammenzuführen. Wie jeder erfahrene Politiker weiß auch der Papst, daß es möglich ist, Menschen mit grundlegend unterschiedlichen „philosophischen und religiösen Ansichten“ zu vereinen, wie wir bei Treffen in meiner Jugend sagten. Wenn dies der Fall ist, können wir in naher Zukunft weitere Manifestationen päpstlichen ökumenischen Handelns nach dem Vorbild politischer Manöver erwarten.
Es stimmt, daß sich die beiden Interpretationen des Verhaltens von Paul VI. verbinden lassen. Ein schwacher Mensch flieht vor seiner Schwäche oder, genauer gesagt, vor sich selbst, und stürzt sich in eine Aktion, bei der die Widersprüche nur verschiedene Phasen der für die Aktion selbst wesentlichen Veränderungen sind. Solche Temperamente sind ganz klar auf die Welt und die damit verbundenen Veränderungen ausgerichtet, die das eigene Handeln in ihr beeinflussen. Man kann dann ohne Schwierigkeiten einen „neuen Katechismus“ akzeptieren, der mit dem alten Katechismus unvereinbar ist, „weil es eine neue Welt gibt“, wie die französischen Bischöfe sagen, und in der Sprache der Welt hat „eine neue Welt“ nichts mit der früheren gemein, so wie eine neue Mode nichts mit einer alten gemein hat. „Es ist daher nicht mehr möglich“, fügen sie hinzu, „die Riten in einer sich schnell entwickelnden Welt als dauerhaft feststehend zu betrachten“. Wir sind gewarnt: Die neue Messe gleicht der permanenten Revolution, die alle Jugendlichen und Erwachsenen anspricht, die ihre Pubertätskrisen noch nicht überwunden haben, weil sie die Widersprüche verdeckt, die sie nicht überwinden können, gerade weil diese Widersprüche zu ihnen gehören.
Bei den Epigonen kommt dies am deutlichsten, wenn auch in übertriebener Weise, zum Ausdruck. Marx sagte, daß die Geschichte die Tragödie von Napoleon I. als Komödie unter Napoleon III. wiederholte. Ebenso hat ein gewisser belgischer Bischof, der mir wie eine Art Mini-Paul VI. erscheint, gerade die Aufgabe erhalten, die neue Messe der verblüfften Öffentlichkeit vorzustellen. „Dies“, so erklärte er lachend, „ist das erste abschließende Kapitel der seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil laufenden Liturgiereform“. Man versichert uns, daß es ein zweites Schlußkapitel geben wird, und dann ein drittes, und so weiter ohne Ende. Der Mann, der versucht, vor sich selbst zu fliehen, indem er sich verändert, schafft das trotz seiner manchmal komischen Bemühungen nie.
●
Unter diesem Gesichtspunkt ist es schwierig, zwei Päpste in der Geschichte zu finden, die sich radikaler unterscheiden als der heilige Pius X. und Paul VI.
Vor kurzem habe ich die Enzyklika Pascendi2 erneut gelesen. Auf fast jeder Seite stelle ich fest, daß das, was der erste ablehnt, der zweite akzeptiert, toleriert und gutheißt.
Der heilige Pius X. war der Fels in der Brandung, ein Mann, der weder sein Amt noch sein Volk im Stich gelassen hat und der sich keiner seiner Verantwortungen entzogen hat, wie Paul VI. in seiner bemerkenswerten Rede vom 7. Dezember 1968 zugab: „Viele erwarten vom Papst dramatische Gesten und energische und entschiedene Interventionen. Der Papst glaubt nicht, daß er eine andere Linie verfolgen sollte als die des Vertrauens in Jesus Christus, dem seine Kirche mehr als jedem anderen anvertraut ist. Er ist es, der den Sturm beruhigen wird.“
Der heilige Pius X. war nicht der Mann der allein pastoralen Regierung, als den sich Paul VI. in seiner Rede vom 17. Februar 1969 bezeichnete, in der er sagte, er sei „offen für Verständnis und Nachsicht“. Vielmehr war er ein Papst, der das Beispiel seiner Vorgänger beherzigte, der die gesunde Lehre mit äußerster Wachsamkeit und unerschütterlicher Festigkeit verteidigte, um sie vor jeglichem Schaden zu bewahren, eingedenk des Gebots des Apostels: „Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut“ (2 Timotheus 1,14).
Für den heiligen Pius X. „hat Jesus Christus gelehrt, daß es die erste Pflicht der Päpste ist, mit größter Wachsamkeit das überlieferte Glaubensgut zu bewahren und die profanen Wortneuschöpfungen abzulehnen“, und zwar gegen „jene, die jede Autorität verachten und unter Berufung auf ein falsches Gewissen versuchen, einer Wahrheitsliebe das zuzuschreiben, was in Wirklichkeit das Ergebnis von Stolz und Eigensinn ist“. Er hätte niemals zugegeben, wie Paul VI. oft angedeutet hat, daß „die Wahrheit auch in den religiösen Erfahrungen“ anderer Religionen zu finden ist und daß Juden, Muslimen und Christen derselbe Gott gemeinsam sei. Niemals hätte er „die Lehrer des Irrtums“ wie Marie-Dominique Chenu und Konsorten „so geehrt, daß man glauben könnte, die Bewunderung gelte nicht nur den Personen, die vielleicht nicht unverdient ist, sondern vielmehr den Irrtümern, die sie offen bekennen und vertreten“.
Der heilige Pius X. hätte niemals behauptet, daß „die Anbetung aus einem Bedürfnis geboren wird, denn alles im System der Modernisten erklärt sich aus inneren Impulsen oder Notwendigkeiten“. Wie viele Texte Pauls VI. könnten wir hier aufzählen, die genau das Gegenteil aussagen, vor allem seine Rede vom 26. November 1969, in der er seine Ablehnung des Latein und des Gregorianischen Chorals in der neuen Messe mit dem angeblichen Bedürfnis des Volkes rechtfertigt, sein Gebet zu verstehen und am Amt „in seiner Alltagssprache“ teilzunehmen. Der heilige Pius X. billigte nicht die „große Besorgnis der Modernisten, einen Weg der Versöhnung zwischen der Autorität der Kirche und der Freiheit der Gläubigen zu finden“, wie es Paul VI. ständig tut. Er bekannte sich weder zu „jener höchst verderblichen Lehre, die aus den Laien einen Faktor des Fortschritts in der Kirche machen würde“, noch suchte er „Kompromisse und Transaktionen zwischen den Kräften der Bewahrung und des Fortschritts in der Kirche, um die von unserer Zeit geforderten Veränderungen und Fortschritte herbeizuführen“. Pius X. folgte auch nicht der „rein subjektiven“ Methode, die die Modernisten dazu treibt, „sich in die Position und die Person Christi zu versetzen und ihm dann das zuzuschreiben, was sie unter ähnlichen Umständen getan hätten“, wie Paul VI. es tut, wenn er, nachdem er einseitig den Gebrauch der neuen Messe verfügt hat, behauptet, sein Wille sei „der Wille Christi, der Hauch des Geistes, der die Kirche zu dieser Wandlung ruft“, und fügt pathetisch hinzu, um zu zeigen, daß seine Inspiration mit der göttlichen übereinstimmt (obwohl er in seinem Credo betont, daß dies nicht der Fall ist), daß „dieser prophetische Augenblick, der den mystischen Leib Christi, der die Kirche ist, durchdringt, sie erschüttert, sie aufrüttelt und sie zwingt, die geheimnisvolle Kunst ihres Gebets zu erneuern“ (26. November 1969). Johannes vom Kreuz sagte: „Am sichersten ist es, Prophezeiungen und Offenbarungen zu fliehen, und wenn uns etwas Neues in bezug auf den Glauben offenbart wird [die lex orandi ist auch lex credendi, und jede offensichtliche Neuheit im Gottesdienst ist eine Neuheit im Glauben], darf man dem auf keinen Fall zustimmen“ (Aufstieg zum Berg Karmel, 1. II, Kap. 19 und 27).
Ist es schließlich nicht offensichtlich, daß sich hinter den Interventionen Pauls VI. auf der Weltbühne die vom heiligen Pius X. als verderblich abgelehnte Überzeugung verbirgt, daß „das Reich Gottes sich im Laufe der Geschichte langsam weiterentwickelt hat, indem es sich nach und nach den verschiedenen Phasen anpaßte, die es durchlief, und von ihnen durch lebendige Assimilation alle […] Formen übernahm, die seinem Zweck dienten“?
Wie John H. Knox in einem eindringlichen Artikel in der National Review (21. Oktober 1969) bemerkte, besteht kein Zweifel daran, daß „es nie einen Papst gab und wahrscheinlich auch nie mehr geben wird, der sich so sehr bemüht hat, den Liberalen zu gefallen, und der so aufrichtig so viele ihrer Überzeugungen teilt“. Und doch tadelt Paul VI. in einem Akt größten Widerspruchs diesen Progressivismus als Modernismus redivivus!
Auf jeden Fall teilt Paul VI. offensichtlich das Hauptziel der Modernisten, die katholische Kirche für nichtkatholische Kirchen und sogar für alle atheistischen Regime akzeptabel zu machen, wie seine jüngste Weihnachtsansprache (und viele frühere) nahelegt: China und Rußland verdienen jetzt die Achtung und Wertschätzung der Katholiken! Erinnern wir uns an seine begeisterte Unterstützung für die chinesische Jugend, die Mao in der „Kulturrevolution“ mobilisierte!
Das ist ein Traum, eine Illusion, deren Eitelkeit uns das Evangelium selbst offenbart: Die Kirche wird niemals von der Welt geliebt werden, egal wie attraktiv sie sich zu machen versucht. So hart unser Urteil über Paul VI. auch ausfallen mag, so müssen wir doch letztlich feststellen, daß der jetzige Papst trotz der unbestreitbaren Qualitäten seines Herzens die Dinge immer wieder anders sieht, als sie sind. Er ist ein falscher Geist.
Wie alle falschen Geister ist er unbewußt grausam. Während ein Kontemplativer sanftmütig ist, ist ein Mann der Tat, der wie Paul VI. das Ziel seines Handelns durch eine träumerische Linse sieht, mitleidlos gegenüber den armen Seelen aus Fleisch und Blut, die er nicht zu sehen vermag oder, wenn er sie sieht, als Hindernisse betrachtet. Dies erklärt die Unnachgiebigkeit des Charakters von Paul VI., die scheinbar im Widerspruch zu seiner Unfähigkeit steht, die Kirche zu regieren. Ein Mann der Tat ist fast immer unmenschlich, wenn er sich aber in einer tausendjährigen und spirituell triumphalen Atmosphäre bewegt, dann muß man Angst haben… Paul VI. wird vorwärts gehen, ohne zurückzuschauen, und jeden Widerstand brechen…
Es sei denn, Gott öffnet ihm die Augen… Das wäre ein Wunder…
●
So bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Verpflichtung, die der heilige Johannes vom Kreuz in einem seiner Briefe erwähnt, in unser Leben einzubauen: „Um Gott in allen Dingen zu haben, müssen wir in allen Dingen nichts haben.“ Die Kirche ist in die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes eingetreten, die Pforte zum Abgrund. Ihr Zustand lädt uns ein, in unseren eigenen einzutreten.
Diese ewige Quelle ist tief verborgen,
Ich weiß wohl, wo sie entspringt,
Auch wenn es Nacht ist!
Marcel De Corte
Professor an der Universität Lüttich
*Marcel De Corte wurde 1905 in Brabant in Belgien geboren und starb 1994. Der 1928 promovierte Philosoph und klassische Philologe war ein Erbe der großen aristotelischen Tradition und Zeitgenosse von Jacques Maritain, Étienne Gilson, Gabriel Marcel und Gustave Thibon. 1934 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Intellektlehre bei Aristoteles. Als ordentlicher Professor lehrte er an der Universität Lüttich bis 1975 Geschichte der antiken Philosophie und Moralphilosophie. Er verfaßte mehr als zwanzig Bücher zu philosophischen Themen. Sein besonderes Interesse galt den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich aus der Französischen und der Industriellen Revolution ergaben, vor allem dem moralischen und sozialen Zerfall des modernen Menschen. Ins Deutsche übersetzt wurde nur „Essai sur la fin d’une civilisation“ (1950) „Das Ende einer Kultur“ (1957).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
1 Marc Roger Boegner (1891–1970), Pastor der Reformierten Kirche von Frankreich.
2 Die Enzyklika Pascendi Dominici gregis wurde vom heiligen Papst Pius X. am 8. September 1907 veröffentlicht.
Endlich mal eine leidlich klare Verurteilung des zweiten vatikanischen Konsils, aber wird katholisches.info diesen Erkenntnissen, die hier eigentlich nicht so neu sind, folgen, und den Bischof, der seine Schädlichkeit erkannt hat, sprich Bischof Vigano unterstützen?
Dazu noch einmal am Rande: Wo sagt der heilige Paulus zu seinen Freunden und Schülern, wie z.B. Timotheus, oder zu dem ihn anvertrauten Schäfchen iegentlich, dass man unbedingt mit jedem sprechen, und auch immer wieder mal die Gegenseite zu Wort kommen lassen müsse?
Dass man „um der Sachlichkeit und Ausgewogenheit willen“ ständig Artikel veröffetnlichen muss, von denen man weiss, dass sie widerliche Lügen enthalten?
Freilich ohne ein Gegenbeispiel daneben zu stellen?
Maranatha Herr Jesus, bitte!