Von Riccardo Pedrizzi*
Das Hundertjahrjubiläum des Konzils von Schanghai, das vom 15. Mai bis zum 12. Juni 1924 stattfand, wurde mit zwei Tagungen in Mailand (20. Mai, Katholische Universität vom Heiligen Herzen) und in Rom (21. Mai, Päpstliche Universität Urbaniana) begangen, bei denen die chinesische Kirche im Mittelpunkt einer eingehenden Debatte stand, an der Bischöfe, Priester und Wissenschaftler aus China und Italien sowie auch die Verantwortlichen des Heiligen Stuhls teilnahmen, von Papst Franziskus bis zu Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und Kardinal Luis Antonio Tagle, dem Pro-Präfekten des Dikasteriums für die Evangelisierung.
Auf diesen Tagungen behaupteten einige Redner, daß das Konzil von Schanghai 1924 die schwierige Situation der durch den Kolonialismus geschädigten Missionen korrigiert hätte. Die Wahrheit ist aber vielmehr, daß die meisten Missionare sich immer großzügig für das Wohl des chinesischen Volkes eingesetzt haben und daß sie Architekten eines echten sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritts waren. Das heißt, sie bauten nicht nur Kirchen, sondern auch Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, die allen Menschen offen standen: Sie gründeten Kliniken, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Schulen und Armenhäuser. Das war schon vor dem genannten Konzil so. Ein Jahrhundert der Missionstätigkeit zu einem bloßen Ausdruck des Kolonialismus zu reduzieren scheint eine bequeme ideologische Umdeutung zu sein, um die aktuellen politischen Entscheidungen des Heiligen Stuhls zu rechtfertigen. Es scheint uns aber kein gutes Argument zu sein, um einseitig tatsächliche oder vermeintliche Fehler der Vergangenheit zu betonen.
Die Geschichte des Engagements der Päpste in China erstreckt sich über viele Jahrhunderte. Das Konzil von Schanghai wurde durch das Eingreifen zweier Päpste ermöglicht: Benedikt XV., der das am 30. November 1919 veröffentlichte apostolische Schreiben Maximum Illud verfaßt hatte, das als „Magna Charta“ des missionarischen Wirkens in unserer Zeit gilt, und sein Nachfolger Pius XI.
Letzterer sandte 1922 Monsignore Celso Costantini als ersten apostolischen Delegaten nach China, ließ 1924 das Konzil von Schanghai abhalten und nahm 1926 persönlich die Weihen der ersten sechs chinesischen Bischöfe in Rom vor. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1946, ernannte Pius XII. den ersten chinesischen Kardinal, den Steyler Missionar Thomas Tien Ken-sin, und etablierte die bischöfliche Hierarchie in China. Als Mao Tse-tung 1949 die Macht übernahm und die Volksrepublik China ausrief, verurteilte das Heilige Offizium am 1. Juli 1949 den Kommunismus, weil die Kirche die Ideologie des neuen chinesischen Regimes durchschaute.
Alle nachfolgenden Päpste haben sich für das Problem China interessiert, wo sich seit 1957 zwei bischöfliche Hierarchien gegenüberstanden, die eine offiziell und verbunden mit dem kommunistischen Regime, die andere im verborgenen und treu zu Rom. Das erste große Ereignis seither war der Brief an die Bischöfe, die Priester, die Personen des gottgeweihten Lebens und an die gläubigen Laien der katholischen Kirche in der Volksrepublik China von Benedikt XVI., der am 27. Mai 2007 veröffentlicht wurde. In diesem Dokument beharrte der Papst auf der Einheit der Kirche, hob alle Sonderbefugnisse (z. B. für „heimliche“ Bischofsweihen) auf und rief zum Dialog mit den staatlichen Behörden auf, wobei er das geistliche Element als Chance für eine Wiedergeburt und Versöhnung des chinesischen Volkes betonte. Es ging ihm um eine Versöhnung, die er vor allem der Kirche nahelegte, die in die vom Regime kontrollierte offizielle Kirche und die von der Regierung nicht anerkannte Untergrundkirche gespalten ist. In jenen Jahren haben viele chinesische Bischöfe, obwohl sie von der kommunistischen Regierung eingesetzt wurden, im geheimen dem Papst ihre Treue bekundet, und in vielen Diözesen kam es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den beiden Zweigen der Kirche für die Evangelisierung. Auf einer meiner Reisen nach Shanghai traf ich einen Bischof der regimehörigen „patriotischen“ Kirche, der mich bat, den Papst seiner Loyalität zu versichern, und der mir gestand, daß er einen großen Teil der von seinen Gläubigen gesammelten Spenden an Vertreter der verfolgten Untergrundkirche weiterleitete.
In demselben „Brief“ wandte sich Benedikt XVI. an die Regierungsbehörden und hoffte auf eine Einigung bei Bischofsernennungen, forderte aber gleichzeitig die Unabhängigkeit der Kirche im geistlichen Bereich.
In diesem Sinn rief er den Weltgebetstag für China ins Leben, der jedes Jahr am 24. Mai, dem Fest Unserer Lieben Frau von Sheshan, begangen wird, und gründete eine eigene China-Kommission. Leider war die Reaktion Pekings trotz dieses Engagements des Heiligen Stuhls alles andere als positiv.
Mit der Ankunft von Papst Franziskus wurden die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Dialogs mit der Volksrepublik China geschaffen, was zum provisorischen Geheimabkommen von 2018 führte. Papst Franziskus betonte, daß der Brief von Benedikt XVI. an die Katholiken in China ein Meilenstein ist, der das Engagement des Heiligen Stuhls für dieses große Land beflügelt. Es ist jedoch eine Tatsache, daß der Ansatz und die Perspektive, mit denen der derzeitige Pontifex an das Thema herangeht, sich von denen Papst Benedikts unterscheiden. Eine wesentliche Bedingung für eine wirksame Religionsfreiheit – die Benedikt XVI. sehr am Herzen lag – ist nicht nur, daß der Kirche die Freiheit gelassen wird, über den Glauben zu predigen, sondern auch, daß es ihr erlaubt wird, die „Kräfte in China, die sich negativ auf die Familie auswirken“, auf „eindringliche und strenge Weise“ zu benennen und anzuprangern. Diese Forderung nach Redefreiheit über das Leben und die Familie, die für Benedikt XVI. „nicht verhandelbar“ war, scheint von seinem Nachfolger fallengelassen worden zu sein. An dieser Stelle müssen wir uns fragen: Hat das Geheimabkommen mit China zu einem Ende der Katholikenverfolgung geführt? Haben sich Räume einer größeren religiösen Freiheit aufgetan?
Leider hat das Abkommen die Verfolgung von Priestern und Bischöfen, die sich nicht der Kommunistischen Partei unterordnen wollen, keineswegs beendet. Das chinesische Regime erwähnt bei allen Handlungen, die die katholische Kirche betreffen, niemals den Heiligen Stuhl und den Papst, geschweige denn Vereinbarungen. Auch im Fünfjahresplan für die Sinisierung der katholischen Kirche in China (2023–2027), der am 14. Dezember vom Katholischen Bischofsrat und der Patriotischen Vereinigung (zwei Institutionen, die der Kontrolle der Kommunistischen Partei unterliegen) verabschiedet wurde, werden weder der Papst noch der Heilige Stuhl noch das zwischen dem Vatikan und der Volksrepublik China geschlossene Abkommen erwähnt. Warum ist das so? Vielleicht, weil die Sinisierung offensichtlich die völlige Unterordnung der Kirche unter die Weisungen der Kommunistischen Partei bedeutet?
Der Heilige Stuhl ist jedoch darauf bedacht, das 2018 mit der Volksrepublik China geschlossene Geheimabkommen zu erneuern und alle zwei Jahre zu verlängern. Dies erklärte der vatikanische Staatssekretär Kardinal Pietro Parolin: „Das Abkommen läuft im Oktober aus (…) wir hoffen, es zu erneuern (…) über diesen Punkt führen wir Gespräche mit unseren Gesprächspartnern.“
Bis zur offiziellen endgültigen Entscheidung nach zwei bereits erfolgten Verlängerungen um jeweils zwei Jahre verbleiben jedoch noch einige Monate. Es wäre also noch Zeit, einer chinesischen Regierung, die unter diesen Bedingungen nur zu gewinnen hat, weil sie die katholische Kirche immer stärker kontrollieren kann, noch einige Zugeständnisse abzuringen. Es geht nicht nur um die Ernennung von Bischöfen, sondern auch um den Prozeß der Sinisierung der katholischen Kirche, der bis zur unverständlichen Weigerung, der Errichtung eines ständigen Büros des Heiligen Stuhls in China zuzustimmen, weiterverfolgt wird.
Das Konzil von Schanghai 1924 wurde als „erstes chinesisches Konzil“ bezeichnet. Es wurde daher erwartet und angenommen, daß es auch ein zweites Konzil über China geben könnte. Es gäbe viele dringende und offene Herausforderungen, die ein solches Konzil angehen könnte. Um nur einige zu nennen:
- die erste, über die Definition und den Umfang dessen, was in China unter Religionsfreiheit zu verstehen ist, hinaus, könnte die Überwindung des Konflikts zwischen der Katholizität auf dem Lande und in der Stadt sein;
- die zweite, die Einbeziehung der Laien in die Verpflichtung zur Evangelisierung;
- die dritte, die Aufnahme der Missionsarbeit auch für die vielen im Ausland lebenden Chinesen;
- und vor allem aber die Eroberung von Freiräumen für die Katholiken in China.
*Riccardo Pedrizzi, bis zur Pensionierung Bankfunktionär, von 1994 bis 2006 Senator und von 2006 bis 2008 Abgeordneter zum Italienischen Parlament für die Alleanza Nazionale (AN), wo sein Einsatz vor allem dem Lebensrecht, der Familie und der Schule galt; Autor mehrerer Bücher zu den genannten Themen sowie zu Fragen der Ökonomie und des Glaubens, zuletzt: „Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Die Vernunft des Menschen auf den Spuren Gottes“ (2024).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Zur Realität der Unterdrückung Katholischer Christen in China:
Radio Horeb Lebenshilfe
Höhepunkt 2023: Lebendiger Glaube – viele Herausforderungen: katholische Christen in China.
Datum: 06.01.2024 Dauer: 01:06:21
Ref.: Katharina Wenzel-Teuber, China-Zentrum e.V.
Standpunkt zum Weltgebetstag für die Kirche in China. Chinesische Katholiken zwischen Kreuz und roter Fahne.
Datum: 23.05.2021 Dauer: 01:29:03
Ref.: P. Martin Welling, Direktor des China Zentrums in Sankt Augustin