
von Roberto de Mattei*
Mit Agostino Sanfratello, der am 28. Mai 2024 in Piacenza verstarb, stirbt eine der Hauptgestalten der katholischen Wiedergeburt in Italien in den Jahren der 68er Revolution.
Agostino wurde am 14. Oktober 1938 in Agazzano in der Provinz Piacenza in einer katholischen Familie geboren, fühlte sich aber zunächst zur extremen Linken hingezogen und gehörte zu den ersten Redakteuren der Quaderni Piacentini, einer 1962 von Piergiorgio Bellocchio gegründeten anarcho-marxistischen Zeitschrift. Seine Rückbesinnung auf die Katholizität ist einige Jahre später auf den Fall Braibanti zurückzuführen, der ihm die Augen für die Überzeugungsmechanismen revolutionärer Gruppen öffnete. Agostinos 20jähriger Bruder Giovanni war von Aldo Braibanti, einem kommunistischen Künstler mit einer Leidenschaft für Ameisen und „soziale Insekten“, in einen Zustand völliger psychischer Abhängigkeit versetzt worden, um ihn zu indoktrinieren und zu einer homosexuellen Beziehung zu verleiten. Agostino nahm an der Razzia teil, bei der sein Bruder gewaltsam aus Braibantis Absonderung befreit und in ein Pflegeheim gebracht wurde. Während des anschließenden Prozesses, der vier Jahre dauerte und in dem Braibanti zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wandte sich die Familie Sanfratello an den bedeutenden Strafverteidiger Alfredo De Marsico. Agostino half De Marsico bei der Vorbereitung seiner Plädoyers und war der eigentliche Verantwortliche der Prozeßstrategie, während zahlreiche linke Intellektuelle, von Moravia bis Pasolini, als Verteidiger des „Herrn der Ameisen“ auftraten, dem 2022 ein gleichnamiger apologetischer Film gewidmet wurde. Eine eindrucksvolle Begegnung mit Pater Pio besiegelte die tiefe Bekehrung von Agostino, der fortan sein Leben der katholischen Sache widmete.
Im Jahr 1969, als die Studentenrevolte gerade losgebrochen war, schloß Agostino sein Philosophiestudium an der Katholischen Universität Mailand mit einer Arbeit über Joseph de Maistre ab, dessen Considérations sur la France. 1796 (Betrachtungen über Frankreich. Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen) er später für den Verleger Vanni Scheiwiller ins Italienische übersetzte.
An der Katholischen Universität Mailand wurde Agostino zum Anführer des antikommunistischen Widerstands, dem eine Gruppe mutiger Anhänger folgte, darunter Graf Giuseppe Manzoni di Chiosca und der spätere Schauspieler Jack Basehart. Er gründete die Vereinigung Foedus Catholicum/Alleanza Cattolica und nahm den Kontakt zu seinem Zeitgenossen Giovanni Cantoni aus Piacenza wieder auf, mit dem er ein explosives Duo bildete. Cantoni, der geduldig und systematisch aufbaute, Sanfratello, ein faszinierendes und vielseitiges Zugpferd. Damals traf ich ihn in Rom, wo er zusammen mit Cristina Campo und Pater Guérard de Lauriers an der Kurzen kritischen Untersuchung des neuen „Ordo Missae“ arbeitete, die im Juni 1969 von den Kardinälen Antonio Bacci und Alfredo Ottaviani veröffentlicht wurde.

Am 9. Oktober 1970 wurde in Italien die Ehescheidung eingeführt. Drei Monate später, am 9. Januar 1971, stellte Alleanza Cattolica den ersten Antrag auf ein Referendum zur Aufhebung des Scheidungsgesetzes von Fortuna-Baslini1. Zu den elf Unterzeichnern gehörten neben Cantoni und Sanfratello auch Giuseppe Manzoni, Francesco Barbesino und Giovanni Costanzo. Im Gefolge dieser Initiative entstand das Komitee des Rechtsgelehrten Prof. Gabrio Lombardi, das zum Referendum vom 12. und 13. Mai 1974 führte, das wegen der Trägheit der Christdemokraten und der kirchlichen Hierarchie jedoch verloren wurde.
Am 3. Juni 1972 wurden die „Exerzitien“ von Alleanza Cattolica in Castelnuovo Fogliani durch die Anwesenheit von Msgr. Marcel Lefebvre geehrt, der am 7. Oktober 1970 mit der Zustimmung des Bischofs von Lausanne, Genf und Freiburg das Priesterseminar von Écône gegründet hatte. Die Begegnung mit Monsignore Lefebvre war für Cantoni und Sanfratello ebenso wichtig wie diejenige mit Prof. Plinio Corrêa de Oliveira, die im August 1972 in São Paulo (Brasilien) stattfand. Im September desselben Jahres trat Sanfratello unerwartet in das Priesterseminar in Ecône ein, während Cantoni die Leitung der Alleanza Cattolica übernahm. Zwei Jahre später verließ Agostino jedoch das Priesterseminar von Msgr. Lefebvre und zog nach Rom, um eine Zeitlang an der Päpstlichen Universität St. Thomas von Aquin (Angelicum) zu studieren. So kam es, daß ich in den Jahren von 1974 bis 1982 fast täglich mit Agostino zu tun hatte und seine außergewöhnlichen intellektuellen und menschlichen Qualitäten zu schätzen lernte. Ich kann sagen, daß ich nie jemand gekannt habe, der mit so vielen Talenten ausgestattet war und sie gleichzeitig mit so großzügiger Gleichgültigkeit verschwendete.
Agostino war in allen Disziplinen bewandert, von der Theologie bis zum Recht, von der Kunst bis zur Musik, aber er hatte auch einen ungewöhnlich praktischen Sinn. Im August 1980 empfing er zusammen mit einem seiner jungen Mitstreiter nach dem alten Ritual die Ritterweihe aus den Händen des Titularbischofs und Altabtes von Sankt Paul vor den Mauern, Monsignore Cesario D’Amato. Für die Zeremonie ließ er sich zwei echte Schwerter von einem alten römischen Handwerker schmieden, der über sein technisches Wissen erstaunt war.
In jenen Jahren hielt sich auch der junge Massimo Introvigne, der spätere Regent der Alleanza Cattolica, in Rom auf. Er studierte am Collegio Capranica und an der Gregoriana und schrieb unter einem Pseudonym für die Zeitschrift Il Borghese, in der er die lehrmäßigen und moralischen Skandale anprangerte, die die Kirche heimsuchten. Aus unserer Zusammenarbeit entstanden die Handreichungen von Alleanza Cattolica über den Kommunismus, die 2021 vom Verlag Fiducia neu aufgelegt wurden. Es waren die Jahre des „Historischen Kompromisses“, und wir waren entschieden gegen die Strategie des Sekretärs der Kommunistischen Partei (KPI), Enrico Berlinguer. Unter den vielen Vorträgen und Tagungen erinnere ich mich an jene, die am 3. März 1976 in Florenz von meinem Freund Pucci Cipriani organisiert wurde, am Vorabend der Parlamentswahlen vom 21. Juni, bei denen die KPI das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte.
Die italienische Linke versuchte mit der stillschweigenden Unterstützung eines Teils der christdemokratischen DC nach der Scheidung auch die Abtreibung durchzusetzen. Um sich diesem Manöver zu widersetzen, entwickelte Agostino eine beeindruckende Kampagne, in deren Rahmen in ganz Italien eine Anti-Abtreibungsbroschüre verteilt wurde, die eine nach Wahlbezirken gegliederte Liste mit Namen und Privatadressen der christdemokratischen Abgeordneten enthielt, die für die Abtreibung waren. Die Initiative verzögerte das unselige Abtreibungsgesetz Nr. 194, das am 22. Mai 1978 verabschiedet wurde, aber nur um zwei Jahre. Im selben Jahr wurde Agostino, damals Professor der Philosophie an der Universität Salerno, wegen seiner Vorlesungen gegen die Abtreibung von Feministinnen des „Nazismus“ und „Terrorismus“ bezichtigt. Er zeigte sie wegen Verleumdung an, und der Prozeß, in dem er sechs Stunden lang ohne Unterbrechung sprach, um seine Positionen zu bekräftigen, endete mit der Verurteilung der 45 Mitglieder der Feministischen Kollektive von Salerno.
Agostino gründete daraufhin den Verein Alleanza per la vita (Allianz für das Leben), in dessen Namen wir am 2. Februar 1980 den Antrag auf eine Volksabstimmung zur Aufhebung des Gesetzes 194 stellten. Unser Referendum, mit dem alle Artikel, die in direktem Widerspruch zum natürlichen und christlichen Recht stehen, abgeschafft werden sollten, unterschied sich deutlich von jenem, das die sogenannte therapeutische Abtreibung erlaubte und mit der Unterstützung der Bischofskonferenz vom Movimento per la vita (Bewegung für das Leben) nach unserem eingereicht wurde.
Um die kompromißlose Ablehnung der Abtreibung zu bekräftigen, organisierte Agostino vom 25. bis 27. April 1980 in Rom eine internationale Lebensrechtstagung, an der 500 Teilnehmer und zahlreiche illustre Persönlichkeiten teilnahmen, darunter Professor Jérôme Lejeune, dessen Seligsprechungsprozeß derzeit läuft, und Dr. Wanda Poltawska, Direktorin des Instituts für Theologie der Familie in Krakau und eng mit Johannes Paul II. befreundet. Diese Tagung bleibt die wichtigste Pro-Life-Veranstaltung, die bisher in Europa stattgefunden hat.
Dank Wanda Poltawska trafen wir, Agostino Sanfratello, Giovanni Cantoni und ich, Johannes Paul II. und am 22. Mai 1980 Msgr. Achille Silvestrini, den Sekretär des Rates für öffentliche Angelegenheiten der Kirche, faktisch der Außenminister, um ihm die Bedeutung eines Referendums gegen das Abtreibungsgesetz Nr. 194 zu erklären. Er antwortete, daß diese Initiative eine schädliche „Gegenkatechese“ der Abtreibungsgegner auslösen und als Reaktion die Verteidigung der mörderischen Normen durch die Abtreibungsgegner provozieren würde. Wir verstanden, daß die Entscheidung des Vatikans gefallen war.
Am 14. März 1981, nach der Entscheidung von Giovanni Cantoni, das Minimalreferendum der Bewegung für das Leben zu unterstützen, waren Agostino Sanfratello und ich, die wir gegen diese Entscheidung waren, gezwungen, die Vereinigung zu verlassen. Von da an schlug Alleanza Cattolica den Weg des „Entrismus“ ein, der Zusammenarbeit mit den Institutionen, ich gründete das Kulturzentrum Lepanto und Agostino folgte seiner geopolitischen Neigung, die ihn in den Libanon führte, wo er 1990 Jacqueline Amidi heiratete, eine treue Gefährtin für das Leben und für seine Ideale, die heute seine Erinnerungen hütet. Seit mehr als zehn Jahren war er in seine Heimatstadt Piacenza zurückgekehrt, wo er die Messe im überlieferten Ritus besuchte, die er immer geliebt hatte.
Wenige Tage vor Agostino Sanfratello ist in Turin am 24. Mai Pier Luigi Zoccatelli, der zusammen mit Oscar Sanguinetti begonnen hatte, mit großer intellektueller Strenge die Geschichte von Alleanza Cattolica bis 1974 zu schreiben, vorzeitig verstorben. Vielleicht soll es so sein, daß diese Geschichte bei den Anfangsjahren der Vereinigung stehenbliebe, die für jene, die sie erlebt haben, ein wahres Epos darstellen.
In jenen nun schon fernen Jahren verband mich mit Agostino Sanfratello eine Wertschätzung und Freundschaft, die heute, in liebevoller Erinnerung, zu einem Gebet wird. Er war ein großzügiger Kämpfer, der ein langes und bewegtes Leben lang Gerechtigkeit und Wahrheit suchte. Nun erntet er sicherlich seinen himmlischen Lohn.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung/Fußnote: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons
1 Loris Fortuna (1924–1985) gehörte 1945 bis 1956 der Kommunistischen Partei Italiens an, dann wechselte er nach der sowjetischen Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes zur Sozialistischen Partei Italiens, für die er von 1963 bis 1987 der italienischen Abgeordnetenkammer angehörte. In den 70er Jahren hatte er einige Jahre parallel auch die Mitgliedschaft in der kirchenfeindlichen radikalliberalen Radikalen Partei. 1982/83 und 1985 war er Minister der italienischen Regierung.
Antonio Baslini (1926–1995) war seit 1943 Mitglied der laizistischen rechtsliberalen Liberalen Partei Italiens. Wie Fortuna gehörte er von 1963 bis 1987 dem Italienischen Parlament an. Ab 1979 war er mehrfach Staatssekretär. Baslini war Mitglied der Freimaurerloge P2.