
Von Roberto de Mattei*
Mit dem Begriff der „Offenbarungen“ ist es üblich, das ungeordnete Vertrauen anzuzeigen, das einige Seelen in Privatoffenbarungen haben (und noch allgemeiner in außergewöhnliche, mystische Phänomene), und die daraus folgende, irrationale Suche nach solchen Phänomenen. Wir beziehen uns dabei natürlich nicht auf öffentliche Offenbarungen, die durch Wunder bezeugt und von der Kirche anerkannt sind.

Vom Urteil über wahre und falsche Offenbarungen abgesehen, das nur der Kirche zusteht, soll vor allem vor der maßlosen Suche nach Offenbarungen gewarnt werden, die eine Art von „mystischer“ Abkürzung zu sein scheinen, um die asketischen Bemühungen von Vernunft und Willen zu vermeiden, die heute aber mehr denn je für die Seele notwendig sind, um der Überlieferung der Kirche treu zu bleiben. Niemand hat – soweit bekannt – das Thema mit größerer Genauigkeit untersucht als der heilige Johannes vom Kreuz (1542–1591), der mystische Arzt schlechthin.
In seiner Schule erfährt man eine durch und durch solide Lehre, die nicht in eitlen Sentimentalitäten schwelgt, sondern den geistlichen Weg auf das theologische Leben lenkt, aus dem allein die Heiligkeit hervorkommen kann.
In seinem Werk Aufstieg auf den Berg Karmel verwendet der große Karmeliter ein langes Kapitel (Bd. 2, Kapitel 22), um einen Zweifel aufzulösen: Ob es nach dem Kommen Christi und der Errichtung des Gnadengesetzes erlaubt ist, „Gott auf übernatürlichem Weg zu befragen, wie es unter dem Alten Gesetz war“. Im vorhergehenden Kapitel hatte er bereits gezeigt, daß es nicht der Wille Gottes ist, daß die Seelen den Wunsch haben, Visionen, innere Ansprachen, und was es noch alles an Wunderbarem und Außergewöhnlichem gibt, zu erhalten.
„Die Wahrheit ist aber, daß dies kein gutes noch Gott wohlgefälliges Mittel ist, vielmehr mißfällt es ihm, auch wenn er ihnen antwortet; und nicht nur das, sondern oftmals ist er verärgert und sehr beleidigt. Der Grund dafür ist, daß es keinem Geschöpf erlaubt ist, die Grenzen, die Gott ihm naturgemäß für seine Führung verbindlich angeordnet hat, zu überschreiten. Dem Menschen hat er für seine Führung naturgemäße und vernunftgemäße Grenzen gesetzt; folglich ist es nicht erlaubt, sie überschreiten zu wollen; und Dinge auf übernatürlichem Weg erforschen und erreichen zu wollen, bedeutet, über die naturgemäßen Grenzen hinauszugehen; folglich ist das etwas Unerlaubtes; und folglich hat Gott kein Gefallen daran, denn alles Unerlaubte beleidigt ihn.“
Er sagt, daß es für eine Seele sehr gefährlich ist, Wissen auf übernatürliche Weise zu begehren und erklärt die Ursache:
„Denn es besteht dafür keinerlei Notwendigkeit, da es die natürliche Vernunft und das Gesetz und die Lehre des Evangeliums gibt, die als Richtschnur völlig ausreichen, und es weder eine Schwierigkeit noch eine Notlage gibt, die nicht sehr zum Wohlgefallen Gottes und zum Nutzen der Menschen mit diesen Mitteln gelöst oder behoben werden könnten. Ja, so sehr haben wir aus der Vernunft und der Lehre des Evangeliums Nutzen zu ziehen, daß wir von übernatürlichen Dingen nur das annehmen dürfen, was der Vernunft und dem Gesetz des Evangeliums sehr entsprechend ist, selbst wenn man sie uns gewollt oder ungewollt vortrüge. Dann aber dürfen wir es annehmen, nicht weil es Offenbarung ist, sondern weil es vernünftig ist, ganz abgesehen vom Wortsinn der Offenbarung. Aber selbst dann ist es noch angebracht, diesen Vernunftgrund viel genauer anzuschauen und zu prüfen, als wenn dazu keine Offenbarung vorläge, insofern als der Böse viele wahre, die Zukunft betreffende und vernunftgemäße Dinge sagt, um Täuschungen zu verursachen.“
Und er kommt zu dem Schluß:
„Ich sage nur, daß es eine äußerst gefährliche Sache ist, mehr als ich sagen kann, auf solchen Wegen mit Gott umgehen zu wollen, und daß derjenige, der zu solchen Methoden hinneigen sollte, nicht umhin kommen wird, sich gewaltig zu irren und oftmals in Verwirrung zu geraten.“
Dies auch vor allem wegen der Gefahren, die der Teufel diesen gegenüber dem Wunderbaren so ungeordneten Seelen zufügen kann.
„Der Böse aber ist äußerst spitzfindig beim Einflüstern von Lügen. Von ihm kann man sich nicht befreien, außer man flieht vor allen übernatürlichen Offenbarungen, Visionen und inneren Ansprachen. Darum ist Gott zu Recht über den verärgert, der sie zuläßt, weil er sieht, daß es Waghalsigkeit ist von dem, der sich derart in große Gefahr begibt, und Anmaßung, Neugierde, Auswuchs an Überheblichkeit und Wurzel und Grundlage für Prahlerei und Geringschätzung der Dinge Gottes, und Anfang vieler Übel, in die viele hineingeraten sind. Diese haben Gott schließlich so verärgert, daß er sie absichtlich in Verirrung und Verwirrung und Verdunkelung ihres Geistes fallen und von den geordneten Lebenswegen abkommen ließ, wobei sie ihren Eitelkeiten und Phantasien Raum gaben.“
Im folgenden Kapitel 22 des Aufstiegs zeigt der heilige Johannes vom Kreuz, warum der Wunsch, Gott auf übernatürlichem Weg zu befragen, absolut gewagt ist.
„In dieser Zeit der Gnade aber, da der Glaube in Christus bereits begründet und das Gesetz des Evangelium offen dargelegt ist, gibt es keinen Grund mehr, ihn auf solche Weise zu befragen, noch daß er so spricht oder antwortet wie vorher. Denn indem er uns seinen Sohn gab, und den gab er uns ja, der sein einziges WORT ist, und er kein anderes hat, hat er uns in diesem einen WORT alles zugleich und auf einmal gesagt, und mehr hat er nicht zu sagen.“
Gerade wegen der Zentralität und Einzigartigkeit Jesu Christi ergibt sich die Kühnheit jener, die auf andere Weise nach göttlicher Mitteilung suchen.
„Wer deshalb jetzt noch Gott befragen oder eine Vision oder Offenbarung von ihm wünschen wollte, beginge nicht nur eine Dummheit, sondern er würde Gott eine Beleidigung zufügen, weil er seine Augen nicht ganz und gar auf Christus richtet, ohne noch etwas anderes oder Neues zu wollen. Und stell dir vor, was Gott einer so wagemutigen Seele antworten würde: ‚Wenn ich dir doch schon alles in meinem WORT, das mein Sohn ist, gesagt habe und kein anderes mehr habe, was könnte ich dir dann jetzt noch antworten oder offenbaren, was mehr wäre als dieses? Richte deine Augen allein auf ihn, denn in ihm habe ich dir alles gesagt und geoffenbart, und du wirst in ihm noch viel mehr finden, als du erbittest und ersehnst. Du bittest nämlich um innere Ansprachen und Offenbarungen über Teilbereiche, doch wenn du deine Augen auf ihn richtest, wirst du es im Ganzen finden, denn er ist meine ganze Rede und Antwort, er ist meine ganze Vision und Offenbarung‘.“
Und er kommt zu dem Schluß:
„Du wirst nichts finden, was du von mir erbitten, noch was du an Offenbarungen oder Visionen von mir ersehnen könntest. Schau ihn dir nur gut an, denn dort in ihm wirst du all das schon getan und gegeben finden, und noch viel mehr.“
Im Falle wirklich begünstigter Seelen mit außerordentlichen Gaben empfiehlt Johannes der Kreuzende den geistlichen Führern:
„Sie sollen sie zum Glauben hinführen, indem sie sie in Güte unterweisen, daß sie die Augen von all diesen Dingen abwenden, und sie darüber belehren, wie sie ihr Bestreben und ihren Geist von ihnen freizumachen haben, damit sie voranschreiten, und ihnen verständlich machen, daß ein aus Liebe vollbrachtes Werk oder ein solcher Willensakt vor Gott kostbarer sind als noch so viele Visionen, Offenbarungen und Mitteilungen, die sie vom Himmel erhalten könnten, denn diese sind weder Verdienst noch Mißverdienst; und daß viele Menschen, die diese Dinge nicht haben, unvergleichlich weiter sind als andere, die viele haben.“

Nachdem dies gesagt wurde, ist es nützlich, auf einige Beispiele der Täuschung hinzuweisen, die sind hinter außergewöhnlichen, mystischen Phänomenen verstecken können, und darauf, wie schwierig es ist, die sogenannte „Unterscheidung der Geister“ zu üben, das heißt, die Verifizierung der Übersinnlichkeit solcher Phänomene. In der Vita der heiligen Teresa von Avila wird der Fall einer Ordensschwester Maddalena vom Kreuz beschrieben, die unter allen Seherinnen ihrer Zeit traurige Berühmtheit erlangte. Sie ließ im 16. Jahrhundert Spanien mit Wundern, Weissagungen und Antworten aller Art 38 Jahre lang staunen führte und die größten Theologen, Bischöfe und Kardinäle ihrer Zeit hinters Licht führte.
Die unglückliche Ordensfrau stand in Wirklichkeit aber in einem geheimen Handel mit dem Teufel, und obwohl sie schließlich die Gnade bekam, zu bereuen, wurde sie aus dem Kloster entfernt und beendete ihre Tage in Finsternis.
Noch bedeutender ist der Fall von Nicole Tavernier, die in Paris, immer im 16. Jahrhundert, „den Ruf hatte, eine Heilige zu sein und Wunder zu wirken“, so ihr Biograph.
„Sie konnte die Zukunft vorhersehen und hatte Visionen und Offenbarungen. Sie fastete oft und redete ununterbrochen über die Notwendigkeit, Buße zu tun, um aus den Verhältnissen herauszukommen, in denen es sich [Paris damals] befand. Sie kündigte an, sollte Reue über die begangenen Sünden erfolgen, werde man das Ende der öffentlichen Katastrophen erleben. Auf ihr Drängen beichteten die Menschen und empfingen die Heilige Kommunion. In mehreren Städten Frankreichs wurden sogar Prozessionen abgehalten. Sie selbst nahm an einer in Paris teil, an der auch das Parlament in Begleitung des königlichen Hofes und einer großen Zahl von Bürgern teilnahm. Sie wurde erst von der seligen Karmelitin Barbe Acarie entlarvt, die zeigte, daß das, was in Nicole Tavernier gesehen wurde, das Werk des Teufels war, der es verstand, ein bißchen zu verlieren, um viel zu gewinnen.“
Damit soll nicht die Existenz außergewöhnlicher, mystischer Phänomene in der Kirche bestritten werden, was gar nicht möglich wäre, ohne in Rationalismus oder Agnostizismus zu verfallen. Im Gegenteil wissen wir sehr gut, daß der Herr Jesus seiner Kirche nicht nur eine institutionelle Hierarchie hinterlassen hat, sondern auch die Charismen, denen diese Phänomene angehören. Aber diese sind immer untergeordnet und unterliegen der Kirche.
„Das katholische Verständnis der Kirche schließt Privatoffenbarungen nicht aus“, schrieb Pater Calmel, „verlangt aber, daß sie keine privaten Einbildungen sind, und daß diese Offenbarungen mit der Offenbarung übereinstimmen“.
Ohne die Existenz von Charismen zu leugnen, sondern sie streng zu disziplinieren, hat die Kirche theologisches Leben und Heiligkeit immer über Charismen gestellt. Die sogenannten „außerordentlichen“ Heiligen, deren Leben sich auf die Vervollkommnung der Nächstenliebe und nicht auf das Wunderbare konzentrierte, sind der beredteste Ausdruck dieses Prinzips.
In Zeiten der Krise von Glaube und Autorität, in der wir leben, suchen viele Seelen auf dem Feld der Mystik, was ihnen eigentlich von der Hierarchie gegeben werden sollte: die Lehre der objektiven Wahrheit und ein sicherer Weg in den Himmel. Die Lösung der Krise liegt aber nicht im Wunderbaren und im Außergewöhnlichen, sondern im theologischen Leben, das auf den traditionellen Sakramenten, dem Katechismus und der Tugendübungen beruht.
Sich ohne klare Maßstäbe auf das Feld des Wunderbaren zu wagen, birgt, wie wir gesehen haben, Gefahren, die kaum vorstellbar sind: Das angebotene Heilmittel könnte noch viel schlimmer sein als das Böse, dem man sich zu entziehen sucht. In Wirklichkeit müssen wir die Lösung für eine Glaubenskrise in erster Linie im Glauben finden.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: „Verteidigung der Tradition – Die unüberwindbare Wahrheit Christi“, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017.
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons