
Von Abbé Claude Barthe*
Die Lawine von gesellschaftspolitischer Gesetzen in Frankreich seit mehr als einem halben Jahrhundert, die alle direkte Angriffe auf das Naturrecht darstellen, hat in einem Teil der katholischen Welt zu einer weit verbreiteten und ausdrücklichen Delegitimierung jener politischen Institutionen geführt, die diese Angriffe im Zuge der auf 1968 folgenden Individualismus-Welle vollzogen haben; und zu einer Art Explosion, mit der die Kirche im Status des Zweiten Vaticanum in die Luft geflogen ist.
Die „Homo-Ehe“ und die Erhebung der Abtreibung in den Verfassungsrang haben das Klima unter diesen Katholiken verschärft. Daher die Frage: Was ist zu tun?
In Frankreich haben Manif pour tous gegen die Homo-Ehe und der Marsch für das Leben gegen das „Recht“ auf Abtreibung einen enormen katholischen Aktivismus ausgelöst. Leider ist es diesen Bewegungen nicht gelungen, diese Gesetze aufzuheben oder zu ändern, obwohl sie eine beträchtliche Wirkung des öffentlichen Zeugnisses hatten und einen größeren Zusammenhalt der Gruppen bewirkt haben, die sich in einer feindseligen Gesellschaft diesen Gesetzen entgegenstellen. Aber könnte die Wirkung nicht größer sein, wenn schon nicht quantitativ, so doch zumindest qualitativ?
Diese Frage führte zu einer Debatte, die von der vierzehntägig erscheinenden Zeitschrift L’Homme nouveau mit dem Artikel: „Die Überlebenden. Wie kämpfen, ohne das System zu stärken?“ von Thomas Lassernat vom 9. März 2024 angestoßen wurde, der darin äußerte, daß wiederkehrende Formen des Pro-Life-Aktivismus nur die institutionellen Strukturen, die schlechte Gesetze hervorbringen, gestärkt hätten.
Dann folgte ein Dossier: „Fünfzig Jahre Widerstand gegen die Abtreibung: Können wir eine Bilanz ziehen?“ (6. April 2024), mit zwei Artikeln von Michel Janva und Jean-Pierre Maugendre, die auf Lassernats Position reagierten, indem sie nuanciert darlegten, daß die öffentliche Demonstration derzeit die einzig Möglichkeit ist, um die Debatte in der Öffentlichkeit in Gang zu bringen, und einem Artikel von Philippe Maxence, der dazu aufrief, Priorität der Frage nach einem Ausweg aus der modernen Demokratie einzuräumen, indem er die Worte aus der Radiobotschaft von Pius XII. vom Juni 1941 zitierte: „Von der Form, die der Gesellschaft gegeben wird, ob sie mit den göttlichen Gesetzen in Einklang steht oder nicht, hängt das Wohl oder Wehe der Seelen ab.“
In Anlehnung an Philippe Maxence möchten wir hier Überlegungen zu den größten Früchten anstellen, die dieser katholische Kampf hervorbringen könnte, nämlich zumindest den Beginn einer Infragestellung ihrer institutionellen Quelle, aber auch unmittelbarer ihrer Metastasen in der Kirche; und die Festigung der gesamten katholischen Welt in ihrer Entschlossenheit, Christus in den Institutionen herrschen zu lassen.
Die fortschreitende Zersetzung der öffentlichen Moral im Namen eines „neuen Rechts“ (Immortale Dei, 1885)
Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 verankerte den revolutionären Bruch: Von nun an ging die Macht nicht mehr von Gott aus, wie Paulus im Brief an die Römer 13,1 feststellt, sondern „das Prinzip aller Souveränität liegt wesentlich in der Nation“ (Art. 3), und das Gesetz als „Ausdruck des allgemeinen Willens“ (Art. 6) wurde von seinem Bezug auf das Gesetz Gottes abgekoppelt.
Allerdings verschwanden nicht alle Elemente der traditionellen Gesellschaftsordnung mit einem Schlag, und große Teile des Naturrechts blieben erhalten, zum Beispiel in der Gesetzgebung zu Ehe und Familie, die, abgesehen von der Scheidung, bis in die 1960er Jahre nicht tiefgreifend infrage gestellt wurde.1 Es bleibt jedoch die Tatsache, daß das Gemeinwesen im Prinzip plötzlich aufhörte, den Grundsätzen des natürlichen und christlichen Rechts zu entsprechen. Und diese Neuerung zeigte sich bereits im August 1792.
Auf den 10. August, den Tag der Revolutionsweihe, folgte unmittelbar das Gesetz vom 30. August 1792, das die „Auflösung der Ehe durch Scheidung“ einführte, dann das Gesetz vom 20. September 1792, das die Säkularisierung des Familienstandes einführte, wobei die Zivilehe zur einzigen gesetzlich anerkannten Ehe wurde. In der Zeit des Konsulats kam die Verpflichtung hinzu, der kirchlichen Eheschließung, sofern eine solche stattfand, die zivile Eheschließung vorausgehen zu lassen (Gesetz vom 10. Germinal An X, das ist der 8. April 1802), was im Code civil (Code Napoléon, dem Zivilgesetzbuch) und im Strafgesetzbuch festgeschrieben wurde.
Diese tyrannische Bestimmung gegen die Freiheit der Kirche wurde nie aufgehoben, auch nicht mit der Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905: Die Feier der kirchlichen Eheschließung bleibt in Frankreich der Feier der republikanischen [standesamtlichen] Eheschließung untergeordnet.
Die Restauration bekräftigte die Unauflöslichkeit der Ehe und schaffte die Scheidung mit dem Gesetz vom 8. Mai 1816 wieder ab, das von Louis de Bonald erwirkt wurde, der entgegen der Aufklärung die Ehe als „Eckstein der Gesellschaft“ und die Scheidung als „revolutionäres Gift“ betrachtete. In der Dritten Republik wurde die Ehescheidung mit dem Naquet-Gesetz vom 27. Juli 1884 wieder eingeführt. Später wurden einige Änderungen vorgenommen, darunter die Möglichkeit, die Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen der Ehegatten zu beschließen (Gesetz vom 11. Juli 1975).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts häuften sich dann die „soziostrukturellen“ Gesetze gegen Ehe und Familie (die Gesetze gegen die Bildungsfreiheit, die ein komplexeres Thema darstellen, werden hier nicht behandelt):
- Das Neuwirth-Gesetz vom 9. Dezember 1967, das in Frankreich den Verkauf und die Anwendung von Verhütungsmitteln erlaubte.
- Das Gesetz vom 3. Januar 1972, das den Gleichheitsgrundsatz von ehelichen und unehelichen Kindern in Erbschaftsangelegenheiten festschrieb (ein Gesetz vom 3. Dezember 2001 gewährte ihnen, einschließlich den Kindern aus Ehebruch, völlige Gleichheit), wurde damals nur von wenigen wie dem Juristen Henri Mazeaud angeprangert, obwohl es dem Schutz der Familie schadete.
- Das Gesetz über die „freiwillige Unterbrechung der Schwangerschaft“, sprich Abtreibung, das am 20. Dezember 1974 probeweise eingeführt, 1979 bestätigt und in der Folge immer wieder verlängert wurde.
- Das Gesetz vom 15. November 1999 zur Einführung des Zivilen Solidaritätspakts (PACS, einer zivilrechtlichen Partnerschaft), das ermöglicht, was Soziologen als „neue Form der Ehe“ bezeichnen, sowohl für Paare, die aus einem Mann und einer Frau bestehen, als auch für Homo-Paare.
- Das Taubira-Gesetz vom 17. Mai 2013, das die Ehe für homosexuelle Paare öffnet und ihnen mit der „adoption homoparentale“ das Adoptionsrecht ermöglicht.
- Das Gesetz vom 2. August 2021, das lesbischen Paaren und unverheirateten Frauen den Zugang zur künstlichen Befruchtung verschafft.
- Das Gesetz vom 20. Februar 2022, das auch unverheirateten Paaren die Adoption von Kindern ermöglicht.
- Das Verfassungsgesetz vom 8. März 2024 über das „Recht“ auf Abtreibung.
Und bald wird ein Gesetz folgen, das die Euthanasie zuläßt.
Das Recht, ein unschuldiges Kind zu töten, als ein Grundrecht zu definieren stellt symbolisch den Höhepunkt der Vorherrschaft des „allgemeinen Willens“ gegenüber dem göttlichen Willen dar. Doch weder der Protest gegen diese demokratische Heiligsprechung noch gegen die Abtreibung dürfen die vorangegangenen unnatürlichen Angriffe gegen die Familie vergessen lassen: das Taubira-Gesetz, das PACS-Gesetz, das Neuwirth-Gesetz, das Naquet-Gesetz.
Yves-Marie Adeline schrieb in einem Artikel im Courrier des Stratèges vom 4. März 2024 über den zurückgelegten Weg: „Nun sind wir also angekommen: Diese Verfassungsänderung markiert in Wirklichkeit die Vollendung der Demokratie, d. h. ein Regime, in dem der Bürger keine über sich selbst hinausgehende Bindung, kein Gesetz der Antigone, sondern nur die Freiheit anerkennt.“
Von der Versuchung, die Folgen anzuprangern, ohne den Ursachen auf den Grund zu gehen
Diese sogenannten Gesetze, „denn ungerechte Gesetze sind viel gewalttätiger als Gesetze“ 2, wurden von der Nationalversammlung kraft ihrer Souveränität erlassen. Es ist möglich, durch Bekenntnis und konkrete Aktionen Druck auf sie auszuüben, um zu versuchen, diese Beschlüsse zu kippen, so wie es die Gewerkschaften mit ihren Kundgebungen tun. Wir müssen uns jedoch darüber im klaren sein, daß wir uns damit auf dem Boden des Reformismus befinden, der in einigen Fällen zu Ergebnissen führen kann, die zwar vorläufig, aber dennoch gültig sind.
Vor allem, wenn der Druck besonders stark wird: Die beiden größten Demonstrationen von Manif pour tous im Januar und März 2013 waren sehr beeindruckend und erinnerten an jene des Mouvement pour l’école libre [Bewegung für die freie Schule] im Jahr 1984, die die Regierung in die Knie zwang; allerdings mit dem großen Unterschied, daß das Mouvement pour l’école letztlich eine interne Bewegung innerhalb der demokratischen Welt war, ein Tauziehen zwischen ihrem rechten Flügel, mit seiner katholischen Wählerschaft, und ihrem linken Flügel.
Was aber zur Diskussion gestellt werden muß, ist das Prinzip dieser Gesetze, d. h., daß die Möglichkeit, gegen das Naturrecht zu verstoßen (Unauflöslichkeit der Ehe, Sterilisierung von Frauen für sexuelle Handlungen, Abtreibung), dem „allgemeinen Willen“ unterliegt. Es ist daher unzureichend, sich darauf zu beschränken, Druck auf die politische Macht auszuüben, um schlechte Gesetze zu ändern, und wäre selbst dann unzureichend, wenn – was nicht der Fall ist – dies eine gewisse vorübergehende Wirkung zeitigen würde.
Die Unzulänglichkeit ist im wesentlichen dieselbe wie in den verschiedenen Episoden der Mobilisierung, zu der die kirchlichen Behörden die Katholiken im Kampf gegen die antiklerikalen Gesetze aufgefordert haben. Im Grunde handelte es sich dabei um den Versuch einer groß angelegten Reformaktion: die Einbindung der weltlichen Institutionen, um sie daran zu hindern, schlechte Gesetze zu erlassen. Damit war man aber nicht so erfolgreich wie erhofft.
Damit wir uns richtig verstehen: Wir wollen damit nicht sagen, daß die Organisation von Druck durch Demonstrationen und ähnliches auf die demokratischen Mächte, um sie zur Aufhebung eines Gesetzes zu bewegen, ein Akt des Ralliement ist [Annäherung der katholischen Kirche an die französische Republik Ende des 19. Jahrhunderts], sondern nur, daß die Unzulänglichkeit beider Schritte identisch ist, wenn sie nicht auf die eine oder andere Weise mit der Verurteilung der ungerechten Prinzipien einhergeht, die die Verabschiedung ungerechter Gesetze ermöglichen.
Die verpaßte Gelegenheit der Manif pour tous: die Befreiung der kirchlichen von der republikanischen Ehe
Wenn Druck ausgeübt werden soll, unter anderem durch Demonstrationen, dann sollte so explizit und pädagogisch als möglich klar sein, daß das Endziel, und sei es auch noch so fern, die Wiederherstellung einer institutionell christlichen Gesellschaft ist. Denn wenn der konsequente Katholik in einer Gesellschaft lebt, einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, seine Kinder erzieht und sein religiöses Leben organisiert, die der natürlichen und christlichen Ordnung inhärent fremd ist, muß er alle seine Handlungen (oder möglicherweise seine Enthaltungen) wie die Linien einer perspektivischen Zeichnung auf das Ziel ausrichten, und sei es eben auch noch so weit entfernt und rein utopisch, indem er zurückzuweist, was den Platz der christlichen Stadt eingenommen hat.
Nehmen wir als Beispiel die verpaßte Gelegenheit von Manif pour tous. Der Widerstand der Katholiken gegen das Taubira-Gesetz wollte verhindern, daß die sogenannte „Homo-Ehe“ in das staatliche Eherecht aufgenommen wird. Letztlich kämpften diese Katholiken für eine „gute“ republikanische Ehe, die zumindest in dieser Hinsicht dem Naturrecht entspricht, wenn sie schon die Möglichkeit der Scheidung vorsieht.
Wie bereits erwähnt, ist die Gesetzgebung zur Zivilehe ein Ausdruck der Tyrannei, die der katholischen Kirche durch den laizistischen Charakter des Staates auferlegt wird. Es verpflichtet die katholischen Eheleute (unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen für den Priester), sich vor der Spendung des Ehesakraments, das für sie die einzig gültige Ehe ist3, einer staatlichen Zeremonie zu unterziehen, der sie keinerlei Wert beimessen, ohne die aber die mit der Institution der Ehe verbundenen zivilen Rechte nicht anerkannt werden (die sich heute freilich nur mehr auf Schenkungen zwischen den Eheleuten und die Ausübung gegenseitiger Erbrechte beschränken).
Man hätte also den Rahmen, in dem sich Katholiken als Glieder der Stadt gegen die gleichgeschlechtliche „Ehe“ aussprechen sollten, klar erklären müssen:
- Zum einen war ihre Opposition keineswegs bloß die Ausübung einer demokratischen Meinungsfreiheit, sondern eine moralische Pflicht, Zeugnis gegen eine Gewalt zu geben, die in keiner Weise Anspruch auf Rechtscharakter hat.
- Zum anderen bot ihnen diese weitere Abweichung der republikanischen Ehe vom Naturrecht eine historische Gelegenheit, über die Anerkennung der sakramentalen Eheschließung als der für Katholiken einzig notwendigen zu verhandeln, wie dies in Italien und Spanien und unter bestimmten Bedingungen sogar in England der Fall ist, wo die kirchliche Ehe automatisch als Zivilehe gilt. Die Forderung nach dieser Befreiung der kirchlichen Ehe von der zur Beliebigkeit verkommenen Zivilehe hätte bedeutet, ganz konkret von der Kritik am Gesetz zu einer Kritik an der Quelle des Gesetzes überzugehen. Allein die Tatsache, daß diese grundsätzliche Forderung auf den Tisch gelegt worden wäre, selbst wenn sie erfolglos geblieben wäre, hätte die Kritik an diesem Gesetz, viel weiter gebracht.
Es ist klar, daß letztlich nur die französischen Bischöfe befugt waren, diese Befreiung der kirchlichen Ehe mit den herrschenden Mächten zu verhandeln. Sie könnten dies übrigens immer noch auf kaltem Wege tun, aber das ist viel schwieriger.
All das führt uns zu der Feststellung, daß der Druck, der von den aktiven Katholiken ausgeübt wird, generell mindestens ebenso wie auf die politischen Machthaber und Urheber repressiver oder krimineller Gesetze auch auf die Hirten der Kirche gerichtet werden sollte, die gegenüber den Machthabern zu fügsam sind. So wie die Vendeaner von ihren Herren verlangten, die Initiative zu ergreifen und sie anzuführen, sollte es das vorrangige Ziel der katholischen Aktivisten für das Königtum Christi sein, dafür zu sorgen, daß ihre Hirten bei ihren Forderungen gegenüber einer säkularen Gesellschaft für die Freiheit der Kirche die Führung übernehmen. Zumal wir bei dem Druck, den diese Katholiken gegen die Tötung der Unschuldigen ausüben, ja nicht vom Niveau des Drucks sprechen, den die mexikanischen Cristeros gegen die kirchenfeindlichen Gesetze ausübten.
Außerdem ist offensichtlich, daß die Passivität dieser Bischöfe, mit bemerkenswerten Ausnahmen, und die Schwäche ihrer Interventionen eine der Hauptursachen für die katholische Ohnmacht ist. Die Hirten der Kirche haben im allgemeinen jeden Versuch aufgegeben, eine institutionell christliche Gesellschaft wiederherzustellen.
Wie auch immer man den Text des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit interpretieren mag, es bleibt die Tatsache, daß die Lehre von Christus König von den Kirchenführern schlicht und einfach aufgegeben wurde.
Die Bischöfe sollen wieder zu Defensores civitatis werden
Wir verweisen oft auf die Rolle des „defensor civitatis“, die die Bischöfe spielten, als das Römische Reich unter den Schlägen der Völkerwanderung zusammenbrach. In der Tat sind die Hirten der Kirche dazu berufen, die Unterstützung dessen zu übernehmen, was in der Stadt in einem Moment, in dem ihre natürlichen Rahmenbedingungen schwinden, wieder aufgerichtet werden kann. Eines ist sicher: Die Kirche, und nur die Kirche, ist heute in der Lage, die Wahrheit vor den Augen der Menschen guten Willens leuchten zu lassen „denn es ist ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht“ (2 Petr 1,19).
Auf jeden Fall sind Bischöfe die geborenen Prediger der Moral. Die Moralpredigt ist von Natur aus politisch, denn sie zielt auf die Umgestaltung des Menschen, der von Natur aus ein soziales Wesen ist. Außerdem ist die Moralpredigt heute notwendigerweise eine antimoderne politische Predigt.
Hinzu kommt, daß man allzu leicht dazu neigt, das Naturrecht auf die Familienmoral zu reduzieren, insbesondere um zu sagen, daß im großen und ganzen die so verstandene natürliche Moral die sei, auf die sich alle Menschen guten Willens einigen könnten, und diese natürliche Moral die Demokratie respektieren sollte.
Das war der Leitgedanke der Lehrmäßigen Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben der Glaubenskongregation vom 24. November 2002, die einerseits die Laizität und die Konfessionslosigkeit des Staates als gegeben darstellt („Die gewissenhafte Förderung des Gemeinwohls der politischen Gesellschaft hat nichts mit ‚Konfessionalismus‘ oder religiöser Intoleranz zu tun“, Nr. 6), aber andererseits feststellt, daß der säkulare Staat „eine Autonomie der politischen oder zivilen Sphäre von der der Religion und der Kirche genießt – aber nicht von der der Moral“. In diesem Zusammenhang verweist die Note auf die „nicht verhandelbaren Grundsätze“, die Christen, die sich in der Politik engagieren, verteidigen müssen (Verteidigung der Familie, die auf der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau beruht; Freiheit der Bildung; Schutz der Kinder; Befreiung von Formen der Sklaverei; Freiheit der Kirche; Wirtschaft im Dienst des Menschen und des Allgemeinwohls und Frieden).
Dieser Diskurs hat jedoch zwei Schwächen:
- Er postuliert, daß sich die moderne Demokratie dem Naturrecht unterwerfen muß, das für sie irrelevant ist, weil sie auf dem Prinzip des allgemeinen Willens beruht. Wenn sie sich dem Naturrecht unterwirft, dann nur zufällig, je nach dem Stand der Meinungen zu einem bestimmten Zeitpunkt.
- Er übersieht, daß die Verpflichtung der menschlichen Gesellschaft, Gott anzubeten, Teil des Naturrechts ist. So Leo XIII. in Immortale Dei4 (1. November 1885):
„Mag aber die Staatsverfassung sein, welche sie wolle, immer haben jene, welchen die Gewalt innewohnt, vor allem auf Gott hinzublicken, den höchsten Regenten der Welt, und ihn als Vorbild und Richtschnur in der Leitung des Staates im Auge zu behalten. […] Ist nun aber in solcher Weise der Staat geordnet, so liegt es am Tage, daß er durch öffentliche Religionsübung seine so vielen und wichtigen Pflichten Gott gegenüber zu erfüllen hat. – Schon die Vernunft gebietet einem jeden, Gott einen heiligen und religiösen Dienst zu weihen; denn in seiner Hand stehen wir, von ihm sind wir ausgegangen, zu ihm sollen wir wieder zurückkehren. […] Darum soll die bürgerliche Gesellschaft, die ja keine andere Aufgabe hat, als das allgemeine Beste zu fördern, derart das staatliche Wohl wahrnehmen, daß die Bürger in diesem ihrem innersten Verlangen nach dem Besitze des höchsten und unvergänglichen Gutes nicht nur nicht geschädigt, sondern auf alle mögliche Weise gefördert werden. [… Und das ist] die allein wahre Religion, welche Jesus Christus selbst gestiftet und seiner Kirche sie zu behüten und weiter auszubreiten übergeben hat.“
Und Pius XI. schreibt in Quas prima5:
„Die Staatenlenker und Behörden haben so gut wie die einfachen Bürger die Pflicht, Christus öffentlich zu ehren und ihm Gehorsam zu leisten.“
So utopisch eine solche Forderung heute auch erscheinen mag, so ist sie doch eine Art Rückgrat aller Forderungen nach der Anwendung der natürlichen Moral (Achtung vor dem unschuldigen Leben, Unauflöslichkeit der Ehe usw.) im Gesetz der Menschen. Wenn man von „nicht verhandelbaren Werten“ sprechen will, dann ist DER „nicht verhandelbare Wert“ schlechthin, das alles Handeln der Katholiken in der Stadt bestimmen und spezifizieren muß, auch wenn ihre konkrete Umsetzung wahrscheinlich in weiter Ferne liegt, folgendes: Die Stadt der Menschen muß Gott unterworfen sein und ihn öffentlich ehren, und wenn diese Stadt die christliche „Taufe“ erfahren hat, ist sie dazu berufen, dies christlich zu tun.
*Abbé Claude Barthe, geistlicher Assistent der internationalen Wallfahrt Populus Summorum Pontificum. Der Artikel wurde gleichzeitig von L’Homme nouveau und Res Novæ am 1. Mai 2024 veröffentlicht.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: L’Homme nouveau
1 vgl. Marc Guelfucci: Éléments pour une définition du mariage, Thèse Université Panthéon-Assas, 2008.
2 Thomas von Aquin: Summa Theologica, Ia IIæ, q. 95, a. 2, und q. 96, a. 4.
3 „Deshalb kann es zwischen Getauften keinen gültigen Ehevertrag geben, ohne daß er zugleich Sakrament ist“ (Codex Iuris Canonici, can. 1055).
4 Deutsche Übersetzung der Enzyklika Immortale Dei.
5 Deutsche Übersetzung der Enzyklika Quas primas.