Von Friedrich Romig
Viktor Orbán, der langjährige ungarische Ministerpräsident, hat in einer seiner großen Reden den Unterschied zwischen liberaler und illiberaler Demokratie sehr präzise definiert:
„Laßt uns ganz eindeutig bekennen: Die christliche Demokratie ist nicht liberal. Die liberale Demokratie ist liberal. Die christliche Demokratie ist kraft ihrer Definition nicht liberal: Sie ist, wenn sie so wollen, illiberal, so in Fragen des Multikulturalismus, der Globalisierung, der Immigration und des Konzepts der Familie“.1
Viktor Orbáns Überzeugung beruht auf dem Naturrecht und bietet dem Genderismus, Feminismus sowie der ganzen LBGTI-Propaganda keinen Raum.
Für Benedikt XVI. ist das Naturrecht „the God given Norm of a well ordered society“. Gott ist die Quelle des Naturrechts, welches „in die Herzen der Menschen eingeschrieben ist“.2
Alle Hochreligionen – Buddhismus, Hinduismus, Judentum, Christentum, Islam – bringen auf ihre je eigene Weise diesen Ursprung des Naturrechtes aus einer ewigen, zeitlosen und unveränderlichen und übermenschlichen Quelle zum Ausdruck.3
Die großen Kirchenlehrer, von den Aposteln an über Augustinus, Thomas von Aquin bis hin zu den heiliggesprochenen Päpsten der Neuzeit, sind sich über die göttliche Quelle des Naturrechts ganz einig, gleichgültig ob sie sich als römische Katholiken, Unierte, Griechisch- oder Russisch-Orthodoxe bezeichnen.
Zu ihnen gesellen sich auch die Philosophen des antiken und neuzeitlichen Idealismus sowie der Romantik.4
Als „God given norm“ ist das Naturrecht das Fundament des Staates. Die staatlichen Gesetze, sofern sie gerecht sind, leiten ihre Verbindlichkeit vom Naturgesetz (i. e. Naturrecht) her.5 Die Durchsetzung des Guten, Gerechten, Wahren und Schönen ist Aufgabe von Regierung und Politik. Das Gute ist die Richtschnur von allem Gerechten, Wahren und Schönen. Und „nur einer ist der Gute“ 6, der Schöpfer des Seins, der sah, daß die Natur oder „das Wesen“ von allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen gut war.7
In seiner bereits erwähnten Rede vor dem Bundestag scheute sich Benedikt XVI. nicht, im Anschluß an den heiligen Augustinus, Staaten, die nicht die Gerechtigkeit und damit das Naturrecht zum Ziel ihrer Regierung und Politik machen, als „Räuberbanden“ zu bezeichnen.8
Etymologisch steckt im Wort „Gerechtigkeit“ das „richtige Recht“. Richtiges Recht verleiht der rechtsetzenden Gewalt Legitimität. Quelle des richtigen Rechts ist das Naturrecht9, die lex aeterna.
In der gleichen Bundestagsrede hat Benedikt XVI. den Rechtspositivismus in schärfster Form verurteilt.
„Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt.“
Klassische Erkenntnisquellen sind Glaube und Vernunft.
„Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt“ 10. „Der Mensch gelangt durch die Vernunft zur Wahrheit, weil er zugleich mit dem Glauben den tiefen Sinn von allem … entdeckt (Nr. 29). Weder der Glaube allein, noch die Vernunft allein führen zur Wahrheit. Fideismus verkennt die Bedeutung der Vernunft und der Philosophie für die Glaubenseinsicht: „Wenn der Glaube nicht gedacht wird, ist er nichts“ 11. Rationalismus sucht Erscheinungen („Fakten“) physikalisch („Kausalität“), psychologisch („Triebe“, „Libido“), historisch („Historismus“) oder mit Nützlichkeitserwägungen („Utilitarismus“) zu erklären. Im Sammelbecken der neuzeitlichen Aufklärung wird Gott zu einer Erfindung („Postulat“) des Menschen, Offenbarung zu Illusion, Wahrheit zu einer Hypothese, Moral zu einer gefühlsmäßigen Empfindung („What feels good, is good“). Materialismus, Nominalismus, Individualismus, Skeptizismus, Solipsismus sind religions‑, kirchen‑, gesellschafts- und kulturfeindlich. Durch diese Feindlichkeit verliert der Mensch seine Wurzeln und seinen Stand, er wird zum Atom einer Masse. Die Masse wird zusammengehalten durch Gewalt und Terror der Mächtigen. Gewalt und Terror sind das Telos der Demokratie“.12
Zum gleichen Schluß kommt Benedikt XVI. in seiner Kritik am Rechtspositivismus von Hans Kelsen:
„Grundlegend ist zunächst die These, daß zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als ‚ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen‘ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen“.13
Die Folge davon ist, daß die „liberale Demokratie“ keine Werte kennt, auch nicht solche der Humanität oder der Menschenrechte.14
„Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Terrorismus.“ 15
Nach christlicher Auffassung geht eben auch das Recht einer „demokratischen Republik“ nicht vom Volk aus, sondern von dem „in die Herzen der Menschen eingeschriebenen“ Naturrecht.16 Die „reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen lehnte das Naturrecht strikt ab.17 Die Naturrechtslehre ist für ihn unwissenschaftliche „Metaphysik“. Gesetze beschließt der menschliche, von der Verfassung ermächtigte Gesetzgeber durch einen Willensakt nach eigenem Gutdünken. Er ist dabei an keine übermenschliche Instanz gebunden, an keine „lex aeterna“. Was Gut oder Böse ist, bestimmt er selbst. Er macht sich dadurch zum Gott.18
Mit seiner Unterscheidung von liberaler und illiberaler Demokratie hat Viktor Orbán ein Thema angestoßen, über das intensiv nachzudenken sich wahrlich lohnt.
Bild: Wikicommons
1 Tusnádfürdő speech, 28 July 2018. Die auf ungarisch gehaltene Rede ist bei wikiquotes in englischer Sprache zugänglich. Die Übersetzung ins Deutsche stammt vom Rezensenten.
2 Rede von Benedikt XVI. vom 22. November 2011 vor dem Deutschen Bundestag: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab… (Röm 2,14f)“.
3 Bestätigt wird dies durch das Zweite Vatikanum im Dokument „Nostra aetate“(Rom 28. November 1965): „Von den ältesten Zeiten an bis zu unseren Tagen findet sich bei den verschiedenen Völkern eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen Leben gegenwärtig ist, und nicht selten findet sich auch die Anerkenntnis einer höchsten Gottheit oder sogar eines Vaters“ (Nr. 2). Die Kirche lehnt nichts ab, was in anderen Handlungs- und Lebensweisen, Vorschriften und Lehren nicht selten „einen Strahl der Wahrheit erkennen läßt, die alle Menschen erleuchtet“ (vgl. Nr. 2).
4 Felix Dirsch: Rechtskatholizismus – Vertreter und geschichtliche Grundlinien. Ein typologischer Überblick. Romeon-Verlag, Jüchen 2020. Dirsch unterscheidet vier „Typen“ des Rechtskatholizismus. Für Typus 1, den „ordnungspolitischen Katholizismus“, nennt er beispielhaft Joseph de Maistre und Louis Gabriel-Ambroise de Bonald; Typus 2, den „Ordnungspositivismus und Dezisionismus“, macht er an Juan Donoso Cortés und Carl Schmitt fest; Typus 3, „den rechtskatholischen Universalismus mit seiner Suche nach verlorener Gemeinsamkeit“, sieht er repräsentiert durch Othmar Spann; Typus 4, „demokratischer Rechtskatholizismus der Gegenwart und Widerstand gegen den Verfall basaler Ordnungsstrukturen“ wird bei Dirsch zu einem Potpourri von Stimmen, die ihre Kritik an der religionsfeindlichen Interpretation der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ und der Ausgrenzung rechter Überzeugungen nicht verhehlen.
5 Leo XIII.: Enzyklika Rerum novarum (Rom 15. Mai 1881, Nr. 9).
6 Johannes Paul II.: Enzyklika Veritatis splendor (Rom 6. August 1993, Nr. 6): “Nur einer ist der Gute“.
7 Ebenda: DER GLANZ DER WAHRHEIT erstrahlt in den Werken des Schöpfers und in besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen Menschen (vgl. Gen 1,26).
8 Benedikt XVI.: Bundestagsrede: „Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. ‚Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande‘, hat der heilige Augustinus einmal gesagt.“
9 Johannes Messner: Das Naturrecht – Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Vierte Auflage. Tyrolia-Verlag Innsbruck – Wien – München 1960. Für Messner ist das Naturrecht Gesetzesgebot. „Als Gebot der Natur ist es auch Gebot des Schöpfers und seines sich in ihr (Anm. der Natur) offenbarenden Willens“ und damit von „verpflichtender Kraft“ (S. 60). „Die Naturrechtslehre hat den Staat immer schon als vollkommene Gesellschaft (societas perfecta) bezeichnet. Der Begriff drückt einen Wesenszug des Staates aus: Es ist und wird immer die Funktion des Staates sein, durch Begründung, Förderung und Regelung der allseitigen gesellschaftlichen Kooperation die Voraussetzungen für die Vollentfaltung der Menschennatur zu schaffen.
10 Johannes Paul II.: Enzyklika „Fides et ratio“ (Rom, 14. November 1998), Motto.
11 Augustinus, zitiert in „Fides et ratio“.
12 Rudolf Burger: „Demokratie hat ihren Fluchtpunkt (Telos) nicht in der Freiheit, … sondern in Diktatur und Terror. Die gesamte klassische Staatstheorie hat das gewußt, von Platon über Kant bis Hegel“ (Deutschlandfunk Kultur vom 10. September 2003).
13 Bundestagsrede.
14 Selbst die Würde des Menschen ist antastbar geworden, urteilen die ehemaligen Mtglieder des Bundesverfassungsgerichtshofes in Karlsruhe, Prof. Paul Kirchhof und Prof. Udo di Fabio. Populär wurde der Essayband von Ferdinand von Schirach: Die Würde des Menschen ist antastbar. Piper-Verlag, München 2013.
15 Johannes Paul II.: Enzyklika „Centesimus annus“ (Rom, 1. Mai 1991): „Heute neigt man zu der Behauptung, der Agnostizismus und der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen politischen Formen entsprechen. Und alle, die überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen, und an ihr festhalten, seien vom demokratischen Standpunkt her nicht vertrauenswürdig, weil sie nicht akzeptieren, daß die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt werde bzw. je nach dem unterschiedlichen politischen Gleichgewicht schwanke. In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß dann, wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt, die Ideen und Überzeugungen leicht für Machtzwecke mißbraucht werden können. Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“ (Nr.46).
16 Wolfgang Waldstein: Ins Herz geschrieben: Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft. St. Ulrich Verlag, Augsburg 2010. Waldstein wird von Benedikt XVI. in dessen Bundestagsrede mehrfach zitiert.
17 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. 1. Aufl. 1934. Studienausgabe im Verlag Mohr Siebeck, München 2008.
18 Hans Graf Huyn: Ihr werdet sein wie Gott – der Irrtum des modernen Menschen von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Verlag Ruhland, Altötting 2021.
Respekt: Der wohl wichtigste politphilosophische Beitrag der letzten Jahre.