(Rom) Papst Franziskus pflegt eine sehr spezielle Regierungsweise. Er meidet besonders bei Personalentscheidungen die institutionellen Wege und ersetzt sie durch improvisierte, bei denen das entscheidende Merkmal vor allem die direkte, persönliche Bindung der Ernannten zu ihm ist. Aus diesem Grund sind alle auf diese Weise zustande kommenden Ernennungen sui generis… mit eigenwilligen Besonderheiten. Eine solche betrifft Kardinal Angel Fernández Artime, den Generaloberen der Salesianer Don Boscos.
Der 1960 geborene und aus Asturien stammende Fernández Artime trat in jungen Jahren in den Salesianerorden ein. Im Alter von 18 legte er die zeitlichen, 1984 die ewigen Gelübde ab. 1987 wurde er zum Priester geweiht. Von 2000 bis 2006 war er Provinzial der Salesianerprovinz Léon in Spanien. Für seinen weiteren Lebensweg weit entscheidender war, daß er von 2009 bis 2013 das Amt des Provinzials der argentinischen Salesianerprovinz bekleidete und dort Kardinal Jorge Mario Bergoglio, den Erzbischof von Buenos Aires, kennenlernte.
2014 wurde P. Fernández Artime auf dem 27. Generalkapitel zum Generaloberen der Salesianer Don Boscos gewählt und 2020 für weitere sechs Jahre in diesem Amt bestätigt. Seither ist er zugleich Großkanzler der Päpstlichen Universität der Salesianer sowie der Päpstlichen Universität Auxilium der Don-Bosco-Schwestern, beide in Rom.
Das „Geschenk“ der Kardinalserhebung
Im Juli 2023 geschah dann Ungewöhnliches: Am 9. Juli gab Franziskus die Einberufung eines Konsistoriums zur Kreierung neuer Kardinäle bekannt. Konsistorien dienen nur mehr diesem Zweck, da von Franziskus seit Februar 2014 kein allgemeines Konsistorium mehr einberufen wurde, bei dem die Kardinäle, wofür es sie eigentlich gibt, mit dem Papst über anstehende Fragen beraten.
Unter den Namen der neuen Kardinäle war auch jener des Generaloberen der Salesianer. Dieser bedankte sich bei Franziskus überschwenglich für „das Geschenk“, das der Papst damit „der Salesianischen Gemeinschaft und Salesianischen Familie“ gemacht habe:
„Wir sollten keinen Zweifel daran haben, wie sehr der Papst uns liebt, und in gleichem Maße weiß Papst Franziskus, wie sehr wir ihn alle lieben und wie wir ihn so weit wie möglich durch unser Gebet und unsere Zuneigung unterstützen.“
Kaum hatte er die Kardinalsernennung bekanntgegeben, schrieb Franziskus einen Brief, in dem er P. Fernández Artime zu sich rief. Am 11. Juli erfolgte die Audienz. Franziskus teilte dem Salesianer mit, daß er nur noch „ein Jahr“ Generaloberer bleiben könne, denn ab dem 31. Juli 2024 brauche er ihn für eine andere Aufgabe. Um welche es sich dabei handeln soll, sagte Franziskus nicht. Jedenfalls gab P. Fernández Artime diesbezüglich nichts bekannt. Bis zum genannten Termin solle Fernández Artime alles für die Amtsübergabe an einen neuen Generaloberen, sprich, die Einberufung eines Generalkapitels, in die Wege leiten.
Franziskus war offensichtlich mit der Arbeit von P. Fernández Artime so zufrieden, daß er ihn wie angekündigt am 30. September 2023, zusammen mit einem anderen Fernández, nämlich Victor Manuel „Tucho“ Fernández, dem neuen Präfekten des Glaubensdikasteriums, zum Kardinal kreierte. Dem Salesianer Fernández kamen dabei gleich zwei Besonderheiten, darunter sogar eine außergewöhnliche, zu. Fernández Artime ist der erste Generalobere der Salesianer, der den Kardinalspurpur erhielt. Vor allem aber wurde er zum einzigen Papstwähler ohne Bischofsweihe.
Der letzte Kardinal ohne höhere Weihen
Nicht selten wird die Kardinalswürde fälschlich als vierte Stufe des Weihesakraments nach denen von Diakon, Priester und Bischof verstanden, die sie nicht ist. In der Geschichte gab es eine Reihe von Kardinälen, die zwar die niederen, aber nicht die höheren Weihen empfangen hatten. Der letzte Kardinal dieser Art war Theodulf Mertel (1806–1899), der Sohn eines aus Bayern stammenden Bäckers in Rom, der zum Doktor beider Rechte promovierte und als Advokat tätig war.
Papst Gregor XVI. berief den Juristen 1831 an die Römische Kurie, wo er 1843 Präsident des Päpstlichen Zivilgerichtshofs wurde. Pius IX. ernannte ihn zum Innenminister und Justizminister des Kirchenstaates. 1858 wurde Theodulf Mertel, obwohl er nur die niederen Weihen hatte, aufgrund seiner Wertschätzung von demselben Papst zum Kardinal kreiert. Allerdings wurde Mertel kurz darauf zum Diakon geweiht. Als Kardinal bekleidete er zahlreiche Ämter, unter anderem das des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes der Apostolischen Signatur, und nahm 1878 als einziger Nicht-Priester am Konklave teil, das Leo XIII. wählte.
Erst im Codex Iuris Canonici von 1917 schrieb Benedikt XV. fest, daß Kardinäle Priester sein müssen. Papst Johannes XXIII. erhöhte die Zugangshürden weiter, in dem er mit dem Motu proprio Cum gravissima vom 15. April 1962 festlegte, daß alle Kardinäle Bischöfe sein müssen. Diese Bestimmung fand dann Eingang in den neuen Codex des kanonischen Rechts von 1983.
In der Praxis werden Priester, die nicht Bischöfe sind, mit der Ernennung zum Kardinal zugleich auch zu Bischöfen ernannt. Allerdings besteht die Möglichkeit, den Papst um Dispens von der Bischofsweihe zu bitten, wovon mehrere über 80jährige Kardinäle, die von der Teilnahme im Konklave ausgeschlossen sind, Gebrauch gemacht haben, etwa Henry de Lubac SJ, Yves Congar OP, Hans Urs von Balthasar, Leo Scheffczyk, Avery Dulles SJ, Tomáš Špidlík SJ, oder in jüngerer Zeit Domenico Bartolucci, Ernest Simoni und Raniero Cantalamessa OFMCap.
Skurrilitäten um Kardinal Fernández Artime
Kardinal Fernández Artime ergriff am 17. Dezember 2023 Besitz von seiner römischen Titularkirche Santa Maria Ausiliatrice, die in den 1930er Jahren zusammen mit einem salesianischen Schulzentrum als Pfarrkirche errichtet worden war. Paul VI. erhob sie 1967 zur Titeldiakonie.
Am 5. März 2024 erfolgte dann überraschend doch noch die verspätete Bischofsernennung, indem Kardinal Artime von Franziskus zum Titularerzbischof von Ursona ernannt und am vergangenen Sonntag, dem 20. April, in der römischen Patriarchalbasilika Santa Maria Maggiore zum Bischof geweiht wurde. Doch dann geschah erneut Ungewöhnliches.
Kaum geweiht, erklärte Kardinal Artime den Rücktritt als Titularerzbischof von Ursona. Rechnet man ab der Ernennung, hatte er das Bistum nur 46 Tage inne, rechnet man erst ab der Weihe, überhaupt nur wenige Stunden. Warum läßt sich jemand zum Bischof weihen, um dann gleich auf sein (Titular-) Bistum zu verzichten? Der Verzicht betrifft nur das Bistum, während die Bischofsweihe davon unberührt bleibt. Angel Fernández Artime ist seit dem 20. April geweihter Bischof. Allerdings: Von welchem Bistum ist er Bischof? Gemäß kirchlicher Tradition gibt es keinen Bischof ohne Bistum. Ein Diözesanbischof, der zurücktritt, wird zum emeritierten Bischof dieser Diözese. Diese Möglichkeit gibt es für Titularbischöfe nicht. Sie behalten ihr (Titular-)Bistum auf Lebenszeit, sofern sie nicht zum Bischof eines anderen Bistums ernannt werden.
Der seit vergangenem Sonntag herrschende Zustand ist nicht die erste rechtliche Problematik, die sich im Zusammenhang mit Kardinal Fernández Artime auftut.
Das Schreiben des Generaloberen an die Salesianische Familie
Wie nun bekannt wurde, schrieb Kardinal Fernández Artime am 19. April, dem Tag vor seiner Bischofsweihe, an seine Ordensmitbrüder und die Oberen der weltweiten Salesianischen Familie (alle Orden und Gemeinschaft, die sich auf den heiligen Johannes Bosco und seine Spiritualität berufen) einen Brief, „um offiziell und definitiv meine persönliche Situation im Zusammenhang mit unserer Kongregation und der Salesianischen Familie mitzuteilen“. Weiters heißt es darin:
„1. Der Heilige Vater übermittelte mir das Dokument der ‚Dispens‘ (‚Ausnahme vom gesetzlich Vorgeschriebenen‘), mit dem er mich ermächtigt, das Amt des Generaloberen für einen weiteren Zeitraum auszuüben, obwohl ich die Bischofsweihe erhalten habe. Dieses Dokument mit der Genehmigung des Heiligen Vaters hat uns bereits erreicht und wird im Archiv der Kongregation aufbewahrt.
2. Im Einvernehmen mit Papst Franziskus werde ich meinen Dienst als Generaloberer am Abend des 16. August 2024 beenden. (…) An jenem Abend werde ich mit einem einfachen Akt gemäß Art. 128 unserer Konstitution meinen Rücktritt unterzeichnen und dieses Dokument dem Vikar des Generaloberen, Don Stefano Martoglio, übergeben, der gemäß Art. 143 ad interim die Leitung unserer Kongregation bis zur Wahl eines neuen Generaloberen anläßlich des 29. Generalkapitels, das in Valdocco (Turin) ab dem 16. Februar 2025 stattfinden wird, übernimmt.3. Natürlich werde ich von nun an und besonders nach dem 16. August 2024 den Dienst übernehmen, den der Heilige Vater mir zum Wohl der Kirche zuweisen und anvertrauen wird.“
Hat der Papst seine Meinung geändert? Nur wegen 16 Tagen, da Kardinal Fernández Artime nun nicht wie ursprünglich angekündigt am 31. Juli, sondern am 16. August eine neue Aufgabe erhalten wird? Vieles ist möglich, der Durchblick fällt schwer. Ein Beispiel: Ende 2022 ließ Franziskus den Fidei-Donum-Priester Gherardo Gambelli aus dem Tschad zurückrufen, um ihn zum Erzbischof von Florenz zu ernennen. Diese Ernennung erfolgte dann aber, aus welchen Gründen auch immer, erst über ein Jahr später, nämlich genau heute vor einer Woche. In der Zwischenzeit war Don Gambelli kurzzeitig als Pfarrer einer Pfarrei in Florenz „geparkt“ worden, was zur Schlagzeile von Katholisch.de, der Nachrichtenplattform der Deutschen Bischofskonferenz, führte: „Einfacher Gemeindepfarrer wird neuer Erzbischof“. Mit der Wirklichkeit hatte das allerdings wenig zu tun. Don Gambelli war bis zu seinem Rückruf aus Afrika Dompfarrer und Generalvikar der Erzdiözese N’Djamena.
Was hat es nun aber mit den „Besonderheiten“ um Kardinal Fernández Artime auf sich? Vorerst ist nur soviel bekannt, daß der spanische Salesianer mit gutem Draht zu Santa Marta Nachfolger von Kardinal João Braz de Aviz neuer Präfekt des Dikasteriums für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens werden könnte. Der phlegmatische Brasilianer Braz de Aviz, in Rom als „O Brasil“ bekannt, leitet die früher Ordenskongregation genannte Behörde seit 2011. Er ist damit nach dem Schweizer Kardinal Kurt Koch, dem Präfekten des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen, der dienstälteste Dikasterienleiter an der Römischen Kurie und zusammen mit Koch auch der letzte der noch von Benedikt XVI. ernannten Präfekten. Um die desaströse Amtsführung von Braz de Aviz in der kürzestmöglichen Form zu beschreiben, genügt ein Stichwort: die Franziskaner der Immakulata.
Bezeichnend ist jedoch die Art, wie Kardinal Fernández Artime die Dinge des Ordens der Salesianer Don Boscos regelt, wenn er schreibt, er werde dies und er werde das tun, er werde am Tag x, zur Uhrzeit y zurückzutreten, und das alles, weil der Papst „mich darum gebeten“ hat.
„In den letzten Jahren sind wir Zeugen eines Kirchenregiments geworden, das vollständig in den Händen des Papstes liegt. Der Heilige Geist wurde vergessen. Selbst der neuernannte Erzbischof von Florenz sagte in seiner Danksagung sofort: ‚Ich danke dem Papst‘. Dem Herrn dankt leider niemand mehr. Wenn das die Voraussetzungen sind, dann haben wir wirklich ein Problem“, so der römische Priesterblog Silere non possum.
Und das Problem heißt Papolatrie.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Wikicommons/Silere non possum (Screenshots)
Dieses Prinzip der Kardinalserhebungen hat der Papst von Machiavelli gelernt. Das ist alles und das sagt alles. Ob es der Kirche guttut, ist eine andere Frage, denn auf diesem Wege kommen völlig ungeeignete Leute in höchste Positionen und bleiben dort auch im nächsten Pontifikat. Einmal Kardinal, immer Kardinal.… Im Grunde ist das ganze Pontifikat eine einzige Zerreißprobe. Jeder weiß es und jeder ignoriert es. Ich bin gespannt, wann uns das Ganze hochgeht. Wenn nicht bald eine grundlegende Bekehrung zu Jesus Christus stattfindet und eine Abkehr von reiner Funktionärspolitik, dann sehe ich nicht rot, sondern schwarz – für und zwar nicht nur für die Kardinäle, sondern für uns alle!