
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung jener Denkschrift zur Lage der Kirche, die mit „Demos“ gezeichnet war, ein Pseudonym, hinter dem als Autor Kardinal George Pell stand, ist eine neue Denkschrift entstanden, die mit „Demos II“ gezeichnet ist. Diese beschreibt, wie der nächste Papst sein sollte, den die Kirche brauchen würde. Für eine spannende Lektüre ist gesorgt.
Der Vatikanist Sandro Magister war es, der wenige Tage nach Pells Tod im Januar 2023 die Identität von „Demos“ (das Volk) enthüllte. Unter diesem Pseudonym kursierte am Beginn der Fastenzeit 2022 im Kardinalskollegium eine Denkschrift mit dem Titel „Der Vatikan von heute“, die eine regelrechte Hexenjagd nach sich zog, um den Urheber zu ermitteln. Der Verdacht stand von Anfang an im Raum, daß es sich dabei um einen engen Mitarbeiter eines Kardinals oder gar einen Kardinal selbst handelte.
Das Pseudonym sollte den Fokus auf den Inhalt der Denkschrift lenken und nicht auf die Person. Und der Inhalt hatte es an sich: Der erste Teil war eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation, die eine vernichtende Kritik am Pontifikat von Franziskus darstellte. Darin wurde die „aktive Verfolgung der Traditionalisten und der kontemplativen Klöster“, die Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit und das politische Agieren angeprangert, aber auch ein ziemlich unverhüllter Häresievorwurf erhoben. Der zweite Teil war ein neun Punkte umfassender Ausblick auf das nächste Konklave.
Nun zirkuliert eine neue mit „Demos“ unterzeichnete Denkschrift. Dieser Demos-2-Text hat einen anderen Autor, da Kardinal Pell wenige Tage nach Benedikt XVI. verstorben ist. Es wird davon ausgegangen, daß es sich erneut um einen Kardinal handelt, der sich auf diese Weise an seine Mitbrüder im Kardinalskollegium wendet und seine Person zurückstellt, um die Aufmerksamkeit ganz auf den Inhalt zu lenken.
Die neue Denkschrift mit dem an die erste Denkschrift anknüpfenden Titel „Der Vatikan von morgen“ nimmt als Ausgangspunkt die Feststellung, daß der Weg der Kirche in die Zukunft etwas anderes sein müsse als das derzeitige Pontifikat, und ist eine Einladung zur Rückkehr ins Herz der katholischen Religion. Der brillante katholische Sozialethiker Stefano Fontana analysierte Demos 2. Hier sein Text:
Demos II, eine Einladung zur Rückkehr zum Kern der katholischen Religion
Von Stefano Fontana*
Ein weiteres Dokument eines anonymen Kardinals, der als Sprecher für andere über das Pontifikat von Franziskus spricht, das als desaströs bewertet wird. Dies geschah bereits mit dem mit „Demos“ unterzeichneten ersten Bericht und dem Titel „Der Vatikan von heute“, dessen Autor, der lange Zeit als unbekannt galt, später als Kardinal Pell identifiziert wurde. Diese zweite Phase wird „Demos II“ genannt und trägt den Titel „Der Vatikan von morgen“, was auf eine klare Kontinuität mit der vorherigen Phase hindeutet.
Es handelt sich um eine neue Episode der geheimen Kommunikation, um einen Untergrundtext, eine Art kirchlichen und kardinalen Samisdat-Text, der unter anderem von einem tiefen Gefühl der Traurigkeit durchdrungen ist, gerade wegen des Zwanges zur Anonymität. Der Grund dafür wird am Ende bedauernd in Erinnerung gerufen: „Die Leser werden sich zu Recht fragen, warum dieser Text anonym ist. Die Antwort sollte jedem klar sein, der mit dem aktuellen römischen Umfeld vertraut ist. Aufrichtigkeit ist nicht gern gesehen und kann unangenehme Folgen haben.“
Dieses Gefühl der Entmutigung und Betrübnis durchdringt das gesamte Dokument. Es ist kein psychologisches, sondern ein spirituelles Gefühl, wie bei einem weit verbreiteten Unwohlsein, das die Seelen trifft. Diese traurige Bestürzung kommt in den Zeilen dieses Textes auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen zum Ausdruck. Die erste betrifft die Haltung von Franziskus, seine päpstliche Praxis, die sicherlich von seinem persönlichen Charakter abhängt, die aber auch mit seiner Sicht der Wirklichkeit, einschließlich der des Papsttums, zusammenhängt. Seine autoritären, aufdringlichen und sogar, wie es in dem Dokument heißt, „rachsüchtigen“ Methoden. Sein Beharren darauf, Zweifel zu säen, die es schwierig machen, im Glauben zu „stehen“, führt zu Spaltungen und Konflikten, deren Ergebnis heute „eine Kirche ist, die zerrissener ist als zu irgendeiner anderen Zeit in der Geschichte“. Die Konzentration auf „neue Paradigmen“ und „neue unerforschte Wege“, das Streben nach dem Neuen um des Neuen willen. Die Zweideutigkeit seiner Aussagen, die Verwendung von Slogans ohne theologischen Inhalt und eine neue sentimentale und erfinderische Rhetorik voller „ambivalenter Nuancen“. Die Säuberungen in der Kurie, die politischen Ernennungen seiner Kumpane und der Schutz seiner Freunde und Unterstützer, die Mißachtung des Rechts, das oft umgangen wird, die übermäßigen Verbindungen zur Gesellschaft Jesu [Jesuitenorden]. Die Unfähigkeit zuzuhören und die Eile, das, was von den Vorgängern aufgebaut und gelehrt wurde, in einem einzigen Augenblick zu zerstören. Die Planung von oft verstörenden Neuerungen, ohne diese angemessen zu begründen. Die Anwendung politischer Taktiken. Das Versäumnis, die Kardinäle seit gut zehn Jahren einzuberufen, die Entscheidungen, die im stillen Kämmerlein getroffen wurden, die Akte der Unmäßigkeit. Das tragische Absinken des Niveaus sowohl des päpstlichen als auch des vatikanischen Lehramtes.
All diese Anzeichen deuten auf eine weit verbreitete und tiefe Krise hin, sie wecken Traurigkeit und negatives Erstaunen, sie offenbaren Irritation und geistige Verwirrung. Sie könnten aber auch mit bestimmten Temperamenten von Franziskus zusammenhängen, die auf seine persönliche Geschichte zurückzuführen sind und vielleicht durch andere Haltungen wie „Mitleid mit den Schwachen“, „Solidarität mit den Armen“, „Sorge um die Umwelt“ ausgeglichen werden. Es könnten vielleicht keine besorgniserregenden Formen des Seins und Handelns sein, und bedeuten vielleicht nicht viel mehr als bestimmte persönliche Einschränkungen. Das vorangegangene „Demos“-Dokument war noch analytischer und ausführlicher in der Auflistung des fragwürdigen Verhaltens von Franziskus im Zusammenhang mit dem von ihm ausgeübten Pontifikat. „Demos II“ erwähnt sie zwar, stellt sie aber nicht in den Mittelpunkt der Kritik, die sich stattdessen auf Grundsatzfragen konzentriert. Aus diesem Grund kann man sagen, daß es anklagender ist als das vorangegangene, eben weil es sich stärker und entschieden auf wesentliche Fragen konzentriert.
Genau das ist die zweite Analyseebene dieses Textes. Die Vorwürfe, die hier an Franziskus gerichtet werden, betreffen den Kern der katholischen Religion. Die Rolle des Papsttums wird verändert von einer Garantie, die Brüder im Glauben zu stärken, zu einem „Modell der Zweideutigkeit in Glaubensfragen“. Die Überbetonung der Barmherzigkeit Gottes gegenüber seiner Gerechtigkeit. Die Historisierung von „objektiven und unveränderlichen Wahrheiten über die Welt und die menschliche Natur“. Eine extravagante Hermeneutik des in der Heiligen Schrift enthaltenen Wortes Gottes. Die Revision des Sündenbegriffs. Vorbehalte gegenüber dem Evangelisierungsauftrag der Kirche. Eine implizite Interpretation des Zweiten Vaticanums als kontinuitätsfremd. Die problematische Sicht des sensus fidelium, die durch die Linse der „Theologie des Volkes“ verzerrt wird. Die Tendenz, die Lehren zu modifizieren, um sie der Welt anzupassen. Die Unterschätzung des Inhalts der Glaubenswahrheiten und die Auffassung der Lehre als starr und abstrakt. Die Verachtung des kanonischen Rechts. Das Dokument hebt besonders die Mängel der Anthropologie von Papst Franziskus hervor, insbesondere seine Abkehr von der „Theologie des Leibes“ und einer „überzeugenden christlichen Anthropologie“ (…) „in einer Zeit, in der die Angriffe auf die menschliche Natur und Identität, vom Transgenderismus bis zum Transhumanismus, zunehmen“.
Die beiden hier erwähnten Ebenen, die der persönlichen Einstellungen – unverdaut, aber dem Charakter zuschreibbar – und die der Lehre, werden in „Demos II“ miteinander verbunden. Nichts geschieht in diesem Pontifikat zufällig, es gibt keine Pannen, keine charakterlichen Auswüchse und keine südamerikanischen Hinterlassenschaften. Auch Widersprüche haben ihren keineswegs widersprüchlichen Grund. Deshalb wird der „Vatikan von morgen“ etwas anderes sein müssen. Dixit „Demos II“.
*Stefano Fontana ist Direktor des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church; zu seinen jüngsten Publikationen gehören „La nuova Chiesa di Karl Rahner“ („Die neue Kirche von Karl Rahner. Der Theologe, der die Kapitulation vor der Welt lehrte“, Fede & Cultura, Verona 2017), gemeinsam mit Erzbischof Paolo Crepaldi von Triest „Le chiavi della questione sociale“ („Die Schlüssel der sozialen Frage. Gemeinwohl und Subsidiarität: Die Geschichte eines Mißverständnisses“, Fede & Cultura, Verona 2019), „La filosofia cristiana“ („Die christliche Philosophie. Eine Gesamtschau auf die Bereiche des Denkens“, Fede & cultura, Verona 2021).
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ