Am 1. Dezember wurde das Thesenpapier der Gruppe der Neun veröffentlicht, neun namenloser Theologen, Philosophen, Kirchenrechtler, Juristen und Historiker, Kleriker und Laien, die damit ihre These des Sedisfricationismus der Öffentlichkeit präsentierten. Diese besagt, kurz gefaßt, daß es ganz unterschiedliche und widersprüchliche Theorien zur aktuellen Kirchenkrise gibt, die durch den Amtsverzicht von Benedikt XVI. oder die Amtsführung von Franziskus das Papsttum selbst betrifft. Der Sedisfricationismus ruft dazu auf, die Streitigkeiten über die einzelnen Theorien zurückzustellen, da die Frage über die Cathedra Petri erst in Zukunft durch die „legitime höchste Autorität“ geklärt werden könne. Bis dahin seien alle Theorien legitim und nebeneinander gültig.
Da wir mit der Veröffentlichung des Thesenpapiers in diese Diskussion eingetreten sind, veröffentlichen wir heute auch die Reaktion darauf, die der Philosoph und Theologe Prof. Enrico Maria Radaelli in einem Schreiben an den Vatikanisten Marco Tosatti vorlegte.
Man kann über die Sinnhaftigkeit solcher Diskussionen geteilter Meinung sein. Manche halten sie für einen unnötigen Energieverschleiß. Allerdings könnten sie zu einem erhöhten Problembewußtsein beitragen und in Zukunft zu notwendigen Präzisierungen führen. In diesem Sinne dokumentieren wir auch Radaellis Antwort.
Sedisfricationismus: ein Teufelskreis, der die Kirche töten soll, ohne daß es jemand merkt
Von Enrico Maria Radaelli*
Sehr geehrter Herr Dr. Tosatti!
Ihre geschätzte Internetseite Stilum curiæ war die erste Seite, die die wichtigen Überlegungen der Gruppe der Neun veröffentlicht hat, die in der These des sogenannten Sedisfricationismus zusammengefaßt sind. Erlauben Sie mir daher, Sie zu Ihrem verdienstvollen Gespür zu beglückwünschen, mit dem Sie die Legitimität der unterschiedlichsten Positionen sichtbar machen, die heute in bezug auf die gegenwärtige Regierung der Kirche vertreten werden. Zu verstehen oder nicht zu verstehen, wer an der Spitze der Kirche steht, ist in der Tat für das Überleben der Kirche entscheidend, denn sie hat sich selten näher an dem befunden, von dem ihr göttlicher Schöpfer uns verheißen hat, daß es nie eintreten wird. Es ist also gut, die Realität zu erkennen, in der wir uns befinden, um bald und gut die geeignetsten Mittel zu finden, um die Braut Christi wieder gesund zu machen und mit ihr auch uns, ihre so bedürftigen Kinder. Ich hoffe daher, daß ich Ihr Medium nützen kann, um Stellung zu nehmen, denn das Thema ist ohne Zweifel entscheidend.
Nun ist die Kirche, wie wir wissen, auf die Wahrheit gegründet, und die Wahrheit ist eindeutig, unverfügbar und nur eine, siehe die Dogmatische Konstitution Dei Filius:
„Daher muß an dem Sinn der Heilslehren, wie ihn die Kirche, unsre heilige Mutter, einmal dargelegt hat, immerdar festgehalten werden und es darf niemals, etwa unter dem Vorwand und aus dem Scheingrund einer tieferen Erkenntnis, von diesem Sinn abgewichen werden. (…) Der Sinn der Glaubenssätze aber und die Lehrverkündigung müssen die gleichen bleiben“, wie es in der Konstitution unter Verweis auf den heiligen Vinzenz von Lérins (Common. Nr. 28) heißt.
Daraus folgt, wenn Jesus sagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18), dann ist das zu bewahrende Dogma, daß nur einer und allein und unteilbar Papst sein kann, so wie ein Stein, ein Fels, nur eins, einzigartig und unteilbar ist, in den Jesus mit diesen Seinen Worten den Menschen Simon, Sohn des Jona, geradezu übergeführt und verwandelt hat, um einem Menschen aus Fleisch und Blut symbolisch, aber durch diesen Namen auch fast materiell, einen soliden, unveränderlichen und vor allem ganz besonderen, d. h. außergewöhnlichen Charakter zu verleihen, der fähig ist, für alle Jahrhunderte und für alle Weltgegenden das würdige und solide Fundament Seiner Kirche zu sein, wie Er selbst es gewesen wäre, wenn Er beschlossen hätte, für immer in Fleisch und Blut unter den Menschen zu leben.
Warum diese Inventio? Warum dieser außergewöhnliche Charakter?
Weil die Männer, die nacheinander diesen ganz besonderen Namen Stein/Petrus tragen, von Mal zu Mal die stellvertretende Rolle des ganz besonderen, außergewöhnlichen Charakters Seines ersten Trägers übernehmen müssen: Jesus Christus selbst, wahrer Gott und wahrer Mensch, der König der Könige, der Herr der Herren, der Herrscher, vor dem sich jedes Knie im Himmel, auf der Erde und unter der Erde beugen muß.
In der Tat folgt die Einsetzung des Petrus nicht zufällig unmittelbar auf die ganz besondere Erkenntnis, wer Christus wirklich war, die allein der Apostel Simon, Sohn des Jona, vollzog. Der Apostel – durch das übernatürliche Licht, das ihm durch eine ganz besondere Gnade Gottes, des Vaters, geschenkt wurde – sieht in Christus, was niemand sonst gesehen hatte: seine göttliche Natur. So wie er dadurch in Christus die beiden Naturen erkennt, die eine aus Fleisch und daher vergänglich, die andere aber ewig, so verleiht im Gegenzug Christus ihm, der in Seinen göttlichen Plänen die schwere Aufgabe übernehmen sollte, Ihn zu vertreten, eine Doppelnatur, die in gewisser Weise stellvertretend für Seine eigene ist, indem Er der fleischlichen und vergänglichen Natur eine zweite Natur zur Seite stellt, in gewisser Weise „stellvertretend“ für die ewige, die steinerne, die felsige, auf die alle höllischen und furchterregenden Mächte fallen können, so wie sie in der Vergangenheit gefallen sind, wie sie heute fallen und auch in Zukunft fallen werden, die aber an ihr zerschellen, als wäre sie durch Seine unzweifelhafte und übernatürliche Gnade fast die göttliche selbst.
Aber es gibt noch eine letzte Überlegung, die den außergewöhnlichen Charakter des etwas symbolischen, aber auch sehr deutlich verewigenden Namens des Petrus bis zum Äußersten bekräftigt, und diese letzte Überlegung ist zweifellos die stärkste und entscheidendste. Jesus sagt nämlich zu den Pharisäern, die Ihm zuhörten, um Ihn des Irrtums zu überführen:
„Habt ihr nie in der Schrift gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden; das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder? Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt. Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen der Stein aber fällt, den wird er zermalmen“ (Mt 21,42–44).
Aus diesen Worten Jesu erfahren wir also, daß der Stein, zu dem Jesus den Simon des Jona formt, ein Bezugsmodell hat, und das Modell ist der Stein-Christus, zu dessen Stellvertreter Petrus ernannt wird, d. h., zur Vertretung Seiner erhabenen Autorität der göttlichen Natur, obwohl er ihr unendlich unterlegen ist. Dieses Modell hat, wie sich versteht, mehrere Besonderheiten: Erstens ist der Stein trotz seiner unveränderlichen Festigkeit ein lebendiger Stein, fähig zu zermalmen, d. h., jenseits der Metapher, zu bewerten, also jene zu züchtigen, die auf ihn fallen, also jene, die an ihm zerschellen, weil sie ihn nicht anerkannt haben, wie es in dem Gleichnis den treulosen Winzern im Weinberg geschah, das der Herr kurz zuvor erzählte (Mt 12,1–12).
Warum bewerten? Warum geißeln?
Weil der Stein „zum Eckstein geworden“ ist, denn so lebendig er auch ist, ist er keineswegs unbehauen, formlos, das heißt ohne Regeln, ohne Gesetze, anarchisch, und „die Erbauer“ des Reiches Gottes, die dann kamen, um Jesus zu töten, wollten nicht erkennen, was er ist: das Maß aller Dinge, nichts Geringeres als der „Eckstein“, das feste und entscheidende Gesetz, von dem jedes andere Gesetz ausgeht, die lebendige und ewige Norma normans jedes Maßes und Canons und jeder Ordnung und Vorschrift. Es ist daher notwendig, diesen einzigartigen und besonderen „Eckstein“ sorgfältig zu erkennen, weil er das Werk Gottes ist. Er ist „ein Wunder in unseren Augen“, das heißt, er ist etwas Großartiges, aber auch etwas Überraschendes, das heißt Unerwartetes, so wie Jesus für jene bösen „Baumeister“ unerwartet war.
Warum unerwartet?
Weil der Eckstein perfekt ist, in jeder Einzelheit selbst den höchsten menschlichen Erwartungen überlegen, so daß nur der göttliche Geist ihn begreifen kann, er ist die Weisheit selbst, er ist Christus, er ist der Gott-Mensch, dessen Wesen und Wirken, d. h. dessen Göttlichkeit und dessen Erlösung „ein Wunder in unseren Augen“ sind, so mächtig und offensichtlich liebenswert, daß jene, die Ihn nicht erkennen und deshalb nicht lieben, des Reiches, d. h. des ewigen Lebens verlustig gehen, wie Er es mit dem Volk des Alten Bundes getan hat, den Winzern, die im Gleichnis den Sohn des Herrn des Weinbergs verraten und getötet haben.
Diese Überlegungen verdeutlichen die überragende Kraft der Festigkeit des Steins/Petrus, eines Ecksteins, der in allem stellvertretend ist für das göttliche Vorbild, das ihn mit dem eigenen ausgestattet, vielmehr eingesetzt hat. Ohne diese ganz besondere Festigkeit wäre der Stein/Petrus schon vor Jahrhunderten durch die Angriffe des höllischen Feindes zerbrochen, wie aus den dennoch so furchtbaren Wechselfällen hervorgeht, denen die Kirche vor allem im Papsttum unterworfen war und ist.
Aus all diesen Gründen kann sich dieser Stein/Petrus des Papsttums keineswegs in einen „aktiven“ halben Stein/Petrus und einen zweiten „passiven“ halben Stein/Petrus, also in zwei Halbsteine/Petri, aufspalten: einen halben Stein/Petrus, der „mit Worten und Werken“ regiert, und in einen zweiten halben Stein/Petrus, der gleichzeitig „leidend und betend“ Papst ist, wie Benedikt XVI. am 10.2.2013 in seiner Erklärung über den Verzicht auf das Papsttum beschlossen hatte. Es gibt nämlich im Evangelium nicht einmal eine halbe Stelle, in der Jesus Christus lehrt und festlegt, daß der Stein, auf dem Er Seine Kirche gegründet hat, irgendwie, auf verschiedene Arten Stein/Petrus zu sein, aufgeteilt werden kann, das heißt, die verschiedenen Momente, in die der Tag aller Apostel Christi, insbesondere der des Steins/Petrus aufgeteilt ist, in mehrere Steine/Personen/Päpste aufgespalten werden kann, um die Kirche Christi zu regieren. Dieser Tag der obersten Kirchenleitung kann nicht anders, als durch die heiligen Rhythmen der Messe, des Stundengebets, des Rosenkranzes und vielleicht sogar einiger heiliger und wünschenswerter Bußübungen gegliedert und aufrechterhalten zu werden. Im Gegenteil, der Herr warnt vor der kleinsten Spaltung: „Jedes Reich, das in sich gespalten ist, geht zugrunde“ (Mt 12,25), und selbst der heilige Einsiedler und Papst Coelestin V. hat nicht auf eine undenkbare Zersplitterung des Papsttums, in eine ganz regierende Aktivität und eine ganz betende Passivität innerhalb eines „Ausnahmepapsttums“, hingearbeitet. Das wäre reiner Hegelianismus.
Dies ist das Argument des Evangeliums, das meine These untermauert und stützt, die ich in meinem Buch „Al cuore di Ratzinger. È lui il Papa, non l’altro“ („Zum Herzen Ratzingers. Er ist Papst, nicht der andere“) mit größter Sorgfalt darlege und begründe. Benedikt XVI. blieb bis zu seinem Tod auf dem Papstthron, denn der Eckstein des Papsttums kann nicht einmal heimlich gespalten werden, das heißt, nicht einmal mit den Ausflüchten und waghalsigen Wortlabyrinthen und den elenden semantischen Verschiebungen, die in seiner Erklärung vom 10.2.2013 von einem Papst verwendet wurden, von dem man erwartet, daß er ein profunder Kenner und gehorsamer Vollstrecker der heiligen Lehre aller Zeiten ist, wie Papst Ratzinger zumindest den Worten nach einer war, allerdings nur den Worten, aber nicht den Taten nach, sodaß, ich wiederhole, sein Amtsverzicht ungültig ist. Er ist null und nichtig wegen eklatanter inhaltlicher Fehler. Indem er faktisch zwei Päpste konfiguriert, oder besser gesagt, zwei halbe Päpste, ist er eindeutig ungehorsam gegen das durch die dogmatische Konstitution Dei Filius festgeschriebene Dogma, das die absolute Unveränderlichkeit der dogmatischen Wahrheit „in ihrer Ordnung, in demselben Glauben, in demselben Sinn und in demselben Denken“ festschreibt und damit festlegt, daß auch nur die geringste Infiltration von irgendetwas, das das feste und göttliche Felssein des Papsttums auch nur latent verändert, verboten ist.
Wenn diese meine These zu demolieren ist, so sei derjenige willkommen und heilig, der sie demolieren wird.
An diesem Punkt ergeht an die Gruppe der Neun und an jeden anderen Ordensangehörigen und katholischen Freund, auch wenn er Sedisfricationist ist, die Bitte, eine echte Grundsatzpetition, mir dabei zu helfen, den unvernünftigen Zirkelschluß, einen Teufelskreis, zu durchbrechen, bei dem nach Ansicht dieser Gruppe „nur die oberste Autorität der Kirche“ ein Urteil zur Stuhldiskussion (über die Cathedra Petri) sprechen kann. Solange das nicht geschieht, bleibe die Stuhlfrage offen: „Solange die oberste Autorität der Kirche nach Beendigung der Krise nicht geurteilt hat, bleiben sie bloße Meinungen, die legitim und anfechtbar sind.“
Wer aber ist diese „oberste Autorität“? Der Gegenpapst-Papst? Ein Konzil? Irgendein Kardinal? Auch jene, die von „Franziskus“ kreiert wurden?
Mit anderen Worten, wenn nun die Autorität desjenigen in Frage steht, der derzeit auf dem höchsten Thron sitzt, wer ist dann rechtlich gesehen die „oberste Autorität“?
*Enrico Maria Radaelli, geboren 1944 in Mailand, em. Professor für Erkenntnisphilosophie und Philosophische Ästhetik, Leiter der Abteilung Ästhetik der Internationalen Vereinigung Sensus Communis (Rom), Leiter der Akademie für Metaphysik und Theologie Aurea Domus und Herausgeber der gesammelten Werke des Altphilologen und Philosophen Prof. Romano Amerio (1905–1997), der als Peritus am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahm und dann zu einem der schärfsten Kritiker der nachkonziliaren Entwicklung wurde. Radaelli ist auch Autor zahlreicher Bücher, darunter (genannt werden nur jene, die sich mit dem Pontifikat von Papst Franziskus befassen): „La Chiesa ribaltata“ („Die auf den Kopf gestellte Kirche“) über die Sprache im Lehramt von Papst Franziskus (2013), „Street Theology. Die Entchristlichung oder: Die Große Flucht der postmodernen Kirche vor der Wirklichkeit vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zu Papst Franziskus“ (2016) und das 2017 erschienene Buch: „Al cuore di Ratzinger“ („Zum Herzen Ratzingers. Er ist Papst, nicht der andere“).
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: New Liturgical Movement